File talk:Andersen Marchen.pdf

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Ein Bild vom Kastellwall

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\AMsection{Ein Bild vom Kastellwall}

Es ist Herbst, wir stehen auf dem Wall, der das Kastell umschließt und sehen über das Meer, auf die vielen Schiffe und zu der schwedischen Küste hinüber die sich klar im Abendsonnenschein erhebt. Hinter uns fällt der Wall steil zur Tiefe ab. Dort stehen prächtige Bäume, das Laub fällt gelb von den Zweige; unten liegen düstere Häuser mit Holzpalisaden, und innen, wo die Schildwache geht, ist es enge und finster. Aber noch dunkler ist es dort hinter dem vergitterten Loche; da sitzen gefangene Sklaven, die ärgsten Verbrecher.

Ein Strahl der niedergehenden Sonne fällt in die kahle Zelle. Die Sonne scheint auf Böse und Gute! Der finstere, mürrische Gefangene folgt mit einem bösen Blick dem kalten Sonnenstrahl. Ein kleiner Vogel fliegt gegen das Gitter. Der Vogel singt für Böse und Gute!

Er zwitschert ein kurzes ``Quivit'', bleibt aber setzen; er schlägt mit den Flügeln, zupft ein Federchen heraus, plustert die Halsfedern auf und der böse Mann sieht ihm zu. Ein milderer Ausdruck geht über das häßliche Gesicht; ein Gedanke, ihm selbst nicht ganz bewußt, leuchtet in seiner Brust auf, dem Sonnenstrahl verwandt, der durch das Gitter fällt, dem Dufte der Veilchen verwandt, die im Frühling so reich draußen blühen. Nun klingt das Waldhorn lieblich und kräftig herein. Der Vogel fliegt vom Gitter des Gefangenen fort, der Sonnenstrahl verschwindet, und es wird dunkel in der Zelle, dunkel in des bösen Mannes Herzen, aber die Sonne hat doch hineingeschienen und der Vogel hineingesungen. Tönt fort, ihr schönen Klänge des Waldhorns! Der Abend ist mild, das Meer spiegelglatt und stille.

Die Prinzessin auf der Erbse

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\AMsection{Die Prinzessin auf der Erbse}

Es war einmal ein Prinz, der wollte eine Prinzessin heiraten, aber es sollte eine wirkliche Prinzessin sein. Da reiste er in der ganzen Welt herum, um eine solche zu finden, aber überall war da etwas im Wege. Prinzessinnen gab es genug, aber ob es wirkliche Prinzessinnen waren, konnte er nicht herausbringen, immer war etwas, was nicht in der Ordnung war. Da kam er wieder nach Hause und war ganz traurig, denn er wollte doch gern eine wirkliche Prinzessin haben.

Eines Abends zog ein furchtbares Wetter auf; es blitzte und donnerte, der Regen stürzte herunter, es war ganz entsetzlich. Da klopfte es an das Stadtthor, und der alte König ging hin, aufzumachen.

Es war eine Prinzessin, die draußen vor dem Thore stand. Aber, wie sah sie vom Regen und dem bösen Wetter aus! Das Wasser lief ihr von den Haaren und Kleidern herunter, und lief in die Schnäbel der Schuhe hinein und aus den Hacken wieder heraus, und sie sagte, daß sie eine wirkliche Prinzessin sei.

``Ja, das werden wir schon erfahren!'' dachte die alte Königin, aber sie sagte nichts, ging in die Schlafkammer hinein, nahm alle Betten ab und legte eine Erbse auf den Boden der Bettstelle. Darauf nahm sie zwanzig Matratzen, legte sie auf die Erbse, und dann noch zwanzig Eiderdunenbetten oben auf die Matratzen.

Da sollte nun die Prinzessin die ganze Nacht liegen.

Am Morgen wurde sie gefragt, wie sie geschlafen habe.

``O, schrecklich schlecht!'' sagte die Prinzessin. ``Ich habe meine Augen die ganze Nacht nicht geschlossen! Gott weiß, was da im Bette gewesen ist. Ich habe auf etwas Hartem gelegen, sodaß ich ganz braun und blau über meinem ganzen Körper bin! Es ist ganz entsetzlich!''

Nun sahen sie wohl, daß es eine wirkliche Prinzessin war, da sie durch die zwanzig Matratzen und die zwanzig Eiderdunenbetten die Erbse verspürt hatte. So empfindlich konnte niemand sein, außer einer wirklichen Prinzessin.

Da nahm der Prinz sie zur Frau, denn nun wußte er, daß er eine wirkliche Prinzessin besitze, und die Erbse kam auf die Kunstkammer, wo sie noch zu sehen ist, wenn sie niemand genommen hat.

Sieh, das ist eine wahre Geschichte.

Vogel Phönix

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\AMsection{Vogel Phönix}

Im Garten des Paradieses, unter dem Baume der Erkenntnis, stand ein Rosenstrauch. Hier, in der ersten Rose, wurde ein Vogel geboren, dessen Flug war wie der des Lichts, herrlich war seine Farbe und herrlich sein Gesang.

Als aber Eva die Frucht der Erkenntnis brach und sie und Adam aus dem Garten des Paradieses gejagt wurden, fiel vom flammenden Schwerte des strafenden Engels ein Funken in das Nest des Vogels und zündete es an. Der Vogel starb in den Flammen, aber aus dem glühenden Ei flog ein neuer, der einzige, der stets einzige Vogel Phönix. Die Sage meldet, daß er in Arabien nistet und sich selbst jedes hundertste Jahr in seinem Neste verbrennt, und ein neuer Phönix, wieder der einzige in der Welt, fliegt aus dem glühenden Ei empor.

Der Vogel umflattert uns, schnell wie das Licht, herrlich von Farbe und herrlich klingt sein wundersamer Sang. Wenn die Mutter an der Wiege ihres Kindes sitzt, schwebt er über dem Kopfkissen und weht mit den Flügeln einen Glorienschein um des Kindes Haupt. Er fliegt durch die Stuben der Genügsamkeit, und Sonnenglanz breitet sich darüber und die ärmliche Kommode duftet nach Veilchen.

Doch der Vogel Phönix ist nicht allein der Vogel Arabiens. Er flattert im Nordlichtschein über die Eisfelder Lapplands, er hüpft zwischen den gelben Blumen in Grönlands kurzem Sommer. Über Faluns Kupferfelsen ist er zu sehen und in Englands Kohlengruben. Er huscht wie eine gepuderte Motte hin über das Gesangbuch in des frommen Arbeiters Händen. Er segelt auf dem Lotosblatt mit den heiligen Fluten des Ganges hinab und des Hindumädchens Augen leuchten bei seinem Anblick.

Vogel Phönix, kennst Du ihn nicht? Den Vogel des Paradieses, des Gesanges heiligen Schwan. Auf dem Tespiskarren saß er wie ein geschwätziger Rabe und schlug mit den schwarzen, hefetriefenden Flügeln. Über Islands Sängerharfe glitt des Schwanes roter, klingender Schnabel; auf Shakespeares Schultern saß er wie Odins Rabe und flüsterte ihm ins Ohr: Unsterblichkeit. Beim Sängerfeste flog er durch der Wartburg Rittersaal.

Vogel Phönix Kennst Du ihn nicht? Er sang Dir die Marsallaise vor, und Du küßtest die Feder, die aus seiner Schwinge fiel. Im Paradiesesglanze kam er, und Du wandtest Dich vielleicht fort und dem Sperling zu, der mit Schaumgold auf den Flügeln dasaß.

O, Du Vogel des Paradieses, in jedem Jahrhundert erneut, in Flammen geboren, in Flammen gestorben, Dein Bild hängt in Gold gefaßt in den Sälen der Reichen und selbst fliegst Du verirrt und einsam --- eine Sage nur: Vogel Phönix in Arabien!

Im Garten des Paradieses, da Du geboren wurdest unter dem Baume der Erkenntnis in der ersten Rose, küßte Dich Gott und gab Dir Deinen rechten Namen --- Poesie.

Von einem Fenster im Vartou

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\AMsection{Von einem Fenster im Vartou}

Nach dem grünen Walle hinaus, der sich rings um Kopenhagen zieht, liegt ein großes rotes Haus mit vielen Fenstern, in denen Balsaminen und Ambrabäumchen wachsen; innen sieht es ärmlich aus und armes, altes Volk wohnt dort. Es ist das Vartou, das Armenhaus.

Sieh, oben lehnt sich eine alte Jungfer gegen den Fensterrahmen. Sie pflückt ein welkes Blatt von der Balsamine und sieht auf den grünen Wall hinaus, wo lustige Kinder sich tummeln. Woran denkt sie? Ein Lebensschicksal zieht an ihr vorüber.

Die ärmlichen Kleinen, wie glücklich sie spielen! Welch rote Wangen, welch strahlende Augen haben sie, aber an den Beinchen nicht Schuhe noch Strümpfe. Sie tanzen auf dem grünen Walle, von dem die Sage erzählt, daß man vor vielen, vielen Jahren, als die Erde unter dem Wall immer wieder fortsank, ein unschuldiges Kind mit Blumen und Spielzeug in ein offenes Grab lockte, das zugemauert wurde, während die Kleine spielte und aß. Von diesem Tage an lag der Wall fest und trug bald einen üppig grünenden Rasen. Die Kleinen kannten die Sage nicht, sonst würden sie das Kind noch immer weinen hören unter der Erde, und der Tau auf dem Grase würde ihnen wie brennende Tränen erscheinen. Sie kannten nicht die Geschichte von Dänemarks König, der, als der Feind draußen lag, hier vorbeiritt und schwor, er wolle eher sterben als sich ergeben. Da kamen die Männer und Frauen der Stadt und gossen kochendes Wasser über die weißgekleideten Feinde, die im Schnee die äußere Wallseite erkletterten.

Lustig spielen die armen Kleinen.

Spiele, Du kleines Mädchen. Bald kommen die Jahre, die schönen, glücklichen Jahre; die Konfirmanden spazieren Hand in Hand, Du gehst im weißen Kleide. Es hat Deine Mutter genug gekostet, ob es auch aus einem größeren alten zurechtgenäht wurde. Du bekommst einen roten Schal, der fast nachschleppt, so lang ist er; aber so kann man doch sehen, wie groß er ist, wie allzugroß. Du denkst an Deinen Staat und an den lieben Gott. Herrlich ist so eine Wanderung auf dem Walle. Und die Jahre vergehen und manch trüber Tag, Du aber hast Deinen frischen Jugendsinn. Und dann bekommst Du einen Freund, kaum weißt Du es selbst. Ihr begegnet Euch; Ihr wandert auf dem Walle im zeitigen Frühjahr, wenn alle Kirchenglocken den Bußtag einläuten. Noch sind dort keine Veilchen zu finden, aber draußen vor dem Rosenburg-Schloß steht ein Baum mit den ersten grünen Knospen, da steht Ihr stille. Jedes Jahr treibt der Baum neues Grün, doch nicht das Herz in der Menschenbrust. Mehr dunkle Wolken streifen darüber hin, als der Norden kennt. Armes Kind! Deines Bräutigams Brautkammer ist der Sarg, und Du wirst eine alte Jungfer; vom Vartou siehst Du hinter Balsaminen auf die spielenden Kinder herab, siehst Dein Schicksal sich wiederholen.

Dies ist das Lebensschicksal, das vor der alten Jungfer vorüberzieht, die auf den Wall hinausblickt, wo die Kinder mit roten Wangen und ohne Strümpfe und Schuhe jubeln, wie all die andern Vögel des Himmels.

Das Schwanennest

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\AMsection{Das Schwanennest}

Zwischen der Ostsee und der Nordsee liegt ein altes Schwanennest, das wird Dänemark genannt. Darin sind und werden Schwäne geboren, deren Name niemals sterben wird.

In grauer Vorzeit flog eine Schar von Schwänen über die Alpen hinab zu Mailands grünen Ebenen, wo gut wohnen war. Diese Schar Schwäne wurden Langobarden geheißen.

Eine andere Schar, mit leuchtendem Gefieder und treuen Augen schwangen sich bis hinunter nach Byzanz. Dort ließen sie sich um den Thron des Kaisers nieder und breiteten ihre großen, weißen Schwingen wie Flügel aus, um ihn zu beschirmen. Sie erhielten den Namen Väringer.

Von Frankreichs Küsten erklang ein Angstschrei vor den blutigen Schwänen, die mit Feuer unter den Schwingen von Norden gezogen kamen, und das Volk betete: ``Gott, befreie uns von den wilden Normannen!''

Auf Englands frischgrünen Wiesen am offenen Strande stand der dänische Schwan mit dreifacher Königskrone auf dem Haupte, und er streckte sein goldenes Zepter über das Land.

Die Knie beugten die Heiden an Pommerns Küste, als die dänischen Schwäne mit der Fahne des Kreuzes und gezogenem Schwerte kamen.

``Das war in lang vergangenen Tagen'' sagst Du.

Auch näher unserer Zeit sah man mächtige Schwäne uns dem Neste fliegen.

Es leuchtete durch die Luft, es leuchtete weit über die Länder der Welt; der Schwan teilte mit mächtigem Schwingenschlag die dämmernden Nebel und der Sternenhimmel wurde deutlicher sichtbar, es war als rücke er der Erde näher; das war der Schwan Tycho Brahe.

``Ja, damals!'' sagst Du, ``aber jetzt in unseren Tagen.'' Da sahen wir Schwan auf Schwan in herrlichem Fluge dahinfliegen. Einer ließ seine Flügel über die Goldharfe hingleiten, und es klang durch den Norden. Norwegens Felsen erhoben sich höher im Sonnenlichte der Vorzeit; es sauste in Birke und Tanne; die Götter des Nordens, Helden und edle Frauen zeigten sich im tiefen, dunklen Waldesgrunde.

Wir sahen einen Schwan mit den Schwingen gegen den Marmorfelsen schlagen, daß der Felsen barst, und die im Gestein gebundenen Gestalten der Schönheit schritten in den sonnenlichten Tag hervor und die Menschen ringsum in den Ländern erhoben ihr Haupt um diese mächtigen Gestalten zu sehen.

Einen dritten Schwan sahen wir einen Gedankenfaden spannen, der nun von Land zu Land rings um die Erde reicht, so daß das Wort mit des Blitzes Geschwindigkeit durch die Länder fliegt.

Unser Herrgott hat das alte Schwanennest zwischen Ostsee und Nordsee lieb. Laß die mächtigen Vögel nur durch die Lüfte kommen, um es niederzureißen: ``Das soll nicht geschehen!'' Selbst die federlosen Jungen stellen sich im Kreise um des Nestes Rand, das haben wir gesehen, sie lassen sich in die junge Brust hacken, daß ihr Blut fließt, sie schlagen mit Schnabel und Klauen.

Jahrhunderte werden noch vergehen, die Schwäne fliegen vom Neste, gesehen und gehört von aller Welt, bevor die Zeit kommen wird, daß in Geist und Wahrheit gesagt werden kann: ``Das ist der letzte Schwan, der letzte Sang vom Schwanenneste.''

Der Wassertropfen

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\AMsection{Der Wassertropfen}

Du kennst ja wohl ein Vergrößerungsglas, so ein rundes Brillenglas, welches alles hundertmal größer macht, als es ist? Wenn man es nimmt und vor das Auge hält und dadurch den Wassertropfen draußen vom Teiche betrachtet, so erblickt man über tausend wunderbare Tiere, die man sonst nie im Wasser sieht, aber sie sind da, es ist wirklich so. Es sieht fast aus, wie ein ganzer Teller voll Krabben, die untereinander herumspringen, sie sind sehr raubgierig, sie reißen einander Arme und Beine, Enden und Stücke ab, und doch sind sie auf ihre Weise froh und vergnügt.

Nun war einmal ein alter Mann, den alle Leute Kribbel-Krabbel nannten, denn so hieß er. Er wollte immer das Beste von jeder Sache haben, und wenn das durchaus nicht gehen wollte, dann nahm er es durch Zauberei.

Dieser Mann sitzt eines Tages und hält sein Vergrößerungsglas vor das Auge und betrachtete einen Wassertropfen, welcher von draußen aus einer Pfütze im Graben genommen war.

Wie es da kribbelte und krabbelte! Alle die tausend Tierchen hüpften und sprangen, zerrten an einander und fraßen von einander.

``Aber das ist ja abscheulich!'' sagte der alte Kribbel-Krabbel, ``kann man sie nicht dahin bringen, in Ruhe und Frieden zu leben, und daß sich jedes nur um sich bekümmert?'' Er dachte und dachte, aber es wollte nicht recht gehen, und deshalb mußte er zaubern. ``Ich muß ihnen Farbe geben, damit sie deutlicher gesehen werden können!'' sagte er, und dann tröpfelte er etwas, einem kleinen Tropfen Rotwein ähnlich, in den Wassertropfen, aber das war Hexenblut, von der feinsten Gattung zu sechs Pfennigen; nun wurden aber die wunderbaren Tierchen über den ganzen Körper rosenrot, es sah aus wie eine ganze Stadt voller nackter, wilder Männer.

``Was hast Du da?'' fragte ein anderer alter Zauberer, der keinen Namen hatte, und das war gerade das Feine an ihm.

``Ja, kannst Du raten, was es ist,'' sagte Kribbel-Krabbel, ``so will ich es Dir schenken, aber es ist nicht leicht herauszufinden, wenn man es nicht weiß!''

Der Zauberer, der keinen Namen hatte, sah durch das Vergrößerungsglas. Es sah wirklich aus wie eine ganze Stadt, wo alle Menschen ohne Kleider herumliefen. Es war schauerlich, aber noch schauerlicher war es, zu sehen, wie der eine den andern puffte und stieß, wie sie gezwickt und gezupft, gebissen und gezaust wurden! Was unten war, sollte nach oben, und was oben war, sollte wieder nach unten! ``Sieh! sieh! Sein Bein ist länger als meins! Baff. Weg damit!'' Da ist einer, der hat eine kleine Beule hinter dem Ohr, ein kleines, unschuldiges Beulchen, aber sie quält ihn, und darum soll sie nicht noch mehrere quälen, sie hackten in dieselbe und sie zerrten ihn, und sie fraßen ihn der kleinen Beule wegen. Da saß einer so still, wie eine kleine Jungfrau und wünschte nur Ruhe und Frieden. Aber nun sollte die Jungfrau hervor, und sie zerrten an ihr und sie zerrissen und verschlangen sie!

``Das ist sehr belustigend!'' sagte der Zauberer.

``Ja, aber was glaubst Du wohl, was es ist?'' fragte Kribbel-Krabbel. ``Kannst Du es ausfindig machen?''

``Nun, das ist ja leicht zu sehen!'' sagte der andere. ``Das ist irgend eine große Stadt, sie gleichen einander ja alle. Eine große Stadt ist es!''

``Es ist Grabenwasser!'' sagte Kribbel-Krabbel.

Die Springer

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\AMsection{Die Springer}

Der Floh, der Grashüpfer und der Springbock wollten einmal sehen, wer von ihnen am höchsten springen könne und da luden sie jeden ein, der kommen wollte, die Pracht mit anzusehen, und es waren drei tüchtige Springer, die sich im Zimmer versammelten.

``Ich gebe meine Tochter dem, der am höchsten springt!'' sagte der König. ``Denn es wäre zu ärmlich, wenn die Personen umsonst springen sollten.''

Der Floh kam zuerst vor. Er hatte feine Sitten und grüßte nach allen Seiten, denn er hatte Fräuleinblut in den Adern und war gewöhnt, nur mit Menschen umzugehen, und das macht sehr viel aus.

Nun kam der Grashüpfer, der war freilich bedeutend schwerer, aber er hatte doch eine ganz gute Gestalt und trug einen grünen Rock, und der war ihm angeboren. Überdies behauptete er, daß er im Lande Agypten eine sehr alte Familie besitze und daß er dort hochgeschätzt sei. Er war gerade vom Felde genommen und in ein Kartenhaus von drei Stockwerken versetzt worden, die alle aus Kartenfiguren, welche die bunte Seite einwärts kehrten, zusammengesetzt waren; da waren sowohl Türme als Fenster ausgeschnitten. ``Ich singe so,'' sagte er, ``daß sechzehn eingeborene Heimchen, die von ihrer Kindheit an gepfiffen und doch kein Kartenhaus erhalten haben, aus Ärger noch dünner wurden, als sie schon waren, da sie mich hörten!''

Beide, der Floh und der Grashüpfer, thaten so gehörig kund, wer sie waren, und daß sie glaubten, eine Prinzessin heiraten zu können.

Der Springbock sagte nichts, aber man erzählte von ihm, daß er desto mehr denke, und als der Hofhund ihn nur beschnüffelte, haftete er dafür, daß der Hofhund von guter Familie sei. Der alte Ratsherr, der drei Orden für das Stillschweigen erhalten hatte, versicherte, daß der Springbock mit Weissagungskraft begabt sei; man könne an seinem Rücken erkennen, ob man einen milden oder strengen Winter bekomme, und das kann man nicht einmal auf dem Rücken dessen sehen, der den Kalender schreibt.

``Ich sage gar nichts!'' sagte der alte König, ``aber ich gehe nur immer still für mich und denke das meine!''

Nun war es um den Sprung zu thun. Der Floh sprang so hoch, daß niemand es sehen konnte, und da behaupteten sie, daß er gar nicht gesprungen sei, und das war doch recht schlecht!

Der Grashüpfer sprang nur halb so hoch, aber er sprang dem Könige gerade ins Gesicht, und da sagte dieser, das sei häßlich.

Der Springbock stand lange still und bedachte sich, am Ende glaubte man, daß er gar nicht springen könne.

``Wenn er nur nicht unwohl geworden ist!'' sagte der Hofhund, und dann beschnüffelte er ihn wieder. Rutsch! da sprang er mit einem kleinen, schiefen Sprung in den Schoß der Prinzessin, welche niedrig auf einem goldenen Schemel saß.

Da sagte der König: ``Der höchste Sprung ist der, zu meiner Tochter hinaufzuspringen, denn darin liegt das Feine, aber es gehört Kopf dazu, darauf zu kommen, und der Springbock hat gezeigt, daß er Kopf hat. Er hat Verstand im Kopfe!''

Und dann erhielt er die Prinzessin.

``Ich sprang doch am höchsten!'' sagte der Floh. ``Aber es ist einerlei! Laß sie nur den Gänserücken mit Stock und Pech haben! Ich sprang doch am höchsten, aber es gehört in dieser Welt ein Körper dazu, damit man gesehen werden kann!''

Und dann ging der Floh in fremde Kriegsdienste, wo er, wie man sagt, erschlagen sein soll.

Der Grashüpfer setzte sich draußen in den Graben und dachte darüber nach, wie es eigentlich in der Welt zugehe, und er sagte auch: ``Körper gehört dazu! Körper gehört dazu!'' Und dann sang er sein eigentümlich trübseliges Lied, und daher haben wir die Geschichte erfahren, die doch erlogen sein könnte, wenn sie auch gedruckt ist.

Zwei Jungfern

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\AMsection{Zwei Jungfern}

Hast Du jemals eine Jungfer gesehen? Ich meine was die Steinsetzer eine Jungfer nennen, eine, mit der man die Pflastersteine feststampft. Sie ist ganz aus Holz, nach unten breit und mit eisernen Reifen beschlagen, und oben schmal und von einem Stab durchzogen, das sind ihre Arme.

In einem Hofe standen zwei solcher Jungfern, sie standen zwischen Schaufeln, Klaftermaßen und Schiebkarren, und dorthin drang das Gerücht, daß die Jungfern für die Zukunft nicht mehr ``Jungfern'', sondern ``Stempel'' genannt werden sollten, und das ist die neueste und einzig richtige Benennung in der Steinsetzersprache für das, was wir alle in alten Zeiten eine Jungfer nannten.

Nun gibt es unter uns Menschen etwas, was ``emanzipierte Frauenzimmer'' genannt wird, wozu Pensionats vorsteherinnen, Hebammen, Tänzerinnen, die in ihrem Berufe auf einem Bein stehen, Modistinnen und Pflegerinnen gezählt werden, und dieser Reihe von Emanzipierten schlossen sich auch die zwei Jungfern im Hofe an. Sie waren Jungfern bei der Wegebaubehörde und wollten unter keinen Umständen ihren guten alten Namen aufgeben und sich ``Stempel'' nennen lassen.

``Jungfer ist ein Menschenname,'' sagten sie, ``aber Stempel ist ein Ding, und wir lassen uns nicht Ding nennen, das ist ein Schimpf für uns.''

``Mein Verlobter ist imstande, die Verbindung mit mir zu lösen!'' sagte die Jüngere, die mit einem Rammbock verlobt war; das ist so eine große Maschine die Pfähle eintreibt, sie tut also im Groben, was die Jungfer im Feinen tut. ``Er will mich als Jungfer haben, aber als Stempel vielleicht nicht, also kann ich mich nicht umtaufen lassen!''

``Und ich lasse mir lieber beide Arme abbrechen!'' sagte die Ältere.

Der Schiebkarren hatte jedoch eine andere Meinung darüber, und der Schiebkarren war etwas, er sah sich für eine Viertelkutsche an, da er ebenfalls auf einem Rade ging.

``Ich muß Ihnen sagen, daß Jungfer zu heißen ziemlich gewöhnlich ist und längst nicht so fein, als Stempel genannt zu werden; denn wenn man diesen Namen führt, wird man mit den Siegeln auf eine Stufe gestellt. Denken Sie nur an das Siegel des Reiches. Ich, an Ihrer Stelle, würde die Jungfer aufgeben!''

``Niemals. Dazu bin ich zu alt'' sagte die Ältere.

``Sie wissen wohl nicht, was die europäische Notwendigkeit bedeutet!'' sagte das ehrliche alte Klaftermaß. ``Man muß sich einschränken, unterordnen, sich der Zeit und der Notwendigkeit fügen, und ist es ein Gesetz, wonach die Jungfer Stempel genannt werden soll, so muß sie Stempel genannt werden. Jedes Ding muß nach seinem eigenen Klaftermaß gemessen werden!''

``Da würde ich mich doch lieber Fräulein nennen lassen!'' sagte die Jüngere, ``wenn nun schon einmal geändert werden soll; Fräulein schmeckt doch immer noch etwas nach Jungfer.''

``Aber ich lasse mich lieber kurz und klein hacken!'' sagte die alte Jungfer.

Nun ging es an die Arbeit; die Jungfern fuhren, sie wurden auf den Schiebkarren gelegt, das war immerhin eine feine Behandlung, aber Stempel wurden sie doch genannt.

``Jung'' sagten sie, indem sie das Steinpflaster stampften; ``Jung'' und sie waren nahe daran, das ganze Wort ``Jungfer'' auszusprechen; aber sie bissen kurz ab und schluckten herunter, was ihnen auf der Zunge schwebte, denn sie fanden, daß sie nicht einmal etwas entgegnen durften. Aber unter sich redeten sie sich mit dem Namen ``Jungfer'' an und priesen die guten alten Tage, als man noch jedes Ding bei seinem rechten Namen nannte und Jungfer genannt wurde wenn man Jungfer war. Und das blieben sie auch alle beide, denn der Rammbock, die große Maschine, hob wirklich die Verlobung mit der Jüngeren auf, mit einem Stempel wollte er sich nicht einlassen.

Der Buchweizen

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\AMsection{Der Buchweizen}

Häufig wenn man nach einem Gewitter an einem Acker vorübergeht, auf dem Buchweizen wächst, sieht man, daß er ganz schwarz geworden und abgesengt ist; es ist gerade, als ob eine Feuerflamme über denselben hingefahren wäre, und der Landmann sagt dann: ``Das hat er vom Blitze bekommen!'' Aber warum bekam er das? Ich will erzählen, was der Sperling mir gesagt hat, und der Sperling hat es von einem alten Weidenbaume gehört, welcher bei einem Buchweizenfelde steht. Es ist ein ehrwürdiger, großer Weidenbaum, aber verkrüppelt und alt, er ist in der Mitte geborsten und es wachsen Gras und Brombeerranken aus der Spalte hervor; der Baum neigt sich vorn über und die Zweige hängen ganz auf die Erde hinunter, gerade als ob sie ein langes, grünes Haar bildeten.

Auf allen Feldern rings umher wuchs Korn, sowohl Roggen und Gerste wie Hafer, ja der herrliche Hafer, der da, wenn er reif ist, gerade wie eine Menge kleiner, gelber Kanarienvögel auf einem Zweige aussieht. Das Korn stand gesegnet, und je schwerer es war, desto tiefer neigte es sich in frommer Demut. 

Aber da war auch ein Feld mit Buchweizen, und dieses Feld war dem alten Weidenbaume gerade gegenüber. Der Buchweizen neigte sich durchaus nicht wie das übrige Korn, sondern prangte stolz und steif.

``Ich bin wohl so reich wie die Ähre,'' sagte er; ``überdies bin ich weit hübscher; meine Blumen sind schön wie die Blüten des Apfelbaumes; es ist eine Freude, auf mich und die meinigen zu blicken! Kennst Du etwas Prächtigeres als uns, Du alter Weidenbaum?''

Der Weidenbaum nickte mit dem Kopfe, gerade als ob er damit sagen wollte: ``Ja freilich!'' Aber der Buchweizen spreizte sich aus lauter Hochmut und sagte: ``Der dumme Baum, er ist so alt, daß ihm Gras im Leibe wächst!''

Nun zog ein schrecklich böses Gewitter auf; alle Feldblumen falteten ihre Blätter zusammen oder neigten ihre kleinen Köpfe herab, während der Sturm über sie dahinfuhr; aber der Buchweizen prangte in seinem Stolze.

``Neige Dein Haupt wie wir!'' sagten die Blumen.

``Das ist durchaus nicht nötig,'' erwiderte der Buchweizen.

``Senke Dein Haupt wie wir!'' rief das Korn. ``Nun kommt der Engel des Sturmes geflogen! Er hat Schwingen, die oben von den Wolken bis gerade herunter zur Erde reichen, und er schlägt Dich mittendurch, bevor Du bitten kannst, er möge Dir gnädig sein!''

``Aber ich will mich nicht beugen!'' sagte der Buchweizen.

``Schließe Deine Blumen und neige Deine Blätter!'' sagte der alte Weidenbaum. ``Sieh nicht zum Blitze empor, wenn die Wolke berstet; selbst die Menschen dürfen das nicht, denn im Blitze kann man in Gottes Himmel hineinsehen; aber dieser Anblick kann selbst die Menschen blenden. Was würde erst uns, den Gewächsen der Erde, geschehen, wenn wir es wagten, wir, welche doch weit geringer sind!''

``Weit geringer?'' sagte der Buchweizen. ``Nun will ich gerade in Gottes Himmel hineinsehen!'' Und er that es in seinem Übermut und Stolz. Es war, als ob die ganze Welt in Flammen stände, so blitzte es.

Als das böse Wetter vorbei war, standen die Blumen und das Korn in der stillen, reinen Luft erfrischt vom Regen, aber der Buchweizen war vom Blitz kohlschwarz gebrannt; er war nun ein totes Unkraut auf dem Felde.

Der alte Weidenbaum bewegte seine Zweige im Winde, und es fielen große Wassertropfen von den grünen Blättern, gerade als ob der Baum weine, und die Sperlinge fragten: ``Weshalb weinst Du? Hier ist es ja so gesegnet! Sieh, wie die Sonne scheint, sieh, wie die Wolken ziehen! Kannst Du den Duft von Blumen und Büschen bemerken? Warum weinst Du, alter Weidenbaum?''

Und der Weidenbaum erzählte vom Stolze des Buchweizens, von seinem Übermute und der Strafe, die immer darauf folgt. Ich, der die Geschichte erzählte, habe sie von den Sperlingen gehört. Sie erzählten sie mir eines Abends, als ich sie um ein Märchen bat.

Großmütterchen

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\AMsection{Großmütterchen}

Großmutter ist so alt, sie hat gar viele Runzeln und ganz schneeweißes Haar, aber ihre Augen leuchten wie zwei Sterne; ja sie sind eigentlich viel schöner, sie sind so milde, daß es von Herzen wohltut, in sie hineinzuschauen. Sie weiß die herrlichsten Geschichten und hat ein Kleid mit großen, großen Blumen an; das ist aus so dickem Seidenzeug, daß es bei jeder Bewegung rauscht. Großmutter weiß so viel, denn sie hat viel länger als Vater und Mutter gelebt, das ist ganz gewiß. Großmutter hat ein Gesangbuch mit dicken Silberbeschlägen, und darin liest sie oft. Mitten in dem Buche liegt eine Rose, die ganz flach und trocken ist; sie ist nicht so schön wie die Rosen, die sie im Glase stehen hat, und doch lächelt sie dieser am allerfreundlichsten zu, ja, es kommen ihr dabei Tränen in die Augen. Weshalb mag

Großmutter so auf die welke Rose in dem alten Buche niederschauen? Weißt Du es? Jedesmal, wenn Großmutters Tränen auf die Blume fallen, wird ihre Farbe frischer, die Rose schwillt empor, und die ganze Stube erfüllt sich mit ihrem Duft, die Wände versinken, als seien sie Nebelschleier, und ringsum ist der grüne, herrliche Wald, wo die Sonne zwischen den Blättern spielt und Großmutter --- ja sie ist ganz jung, ist ein liebreizendes Mädchen mit blonden Locken, mit rosigen, runden Wangen, schmuck und lieblich, keine Rose kann frischer sein. Doch die Augen, die milden sanften Augen, ja das sind immer noch Großmutters Augen. An ihrer Seite sitzt ein Mann, so jung und kräftig und schön; er reicht ihr die Rose, und sie lächelt, --- so lächelt Großmutter doch nicht. --- Ja, das Lächeln ist da. Er ist fort; nun gehen viele Gedanken und Gestalten vorüber. Der schöne Mann ist fort, die Rose liegt im Gesangbuche, und Großmutter --- ja, da sitzt sie wieder, eine alte Frau, und betrachtet die verwelkte Rose, die im Buche liegt.

Nun ist Großmutter tot. --- Sie saß im Lehnstuhl und erzählte eine lange, lange herrliche Geschichte: ``Und nun ist sie aus,'' sagte sie, ``und ich bin so müde, laßt mich nun ein wenig schlafen!'' Und dann lehnte sie sich zurück und atmete sanft; sie schlief. Aber es wurde stiller und stiller und ihr Antlitz war so voller Frieden und Glück, es war gleichsam, als ob der Sonnenschein darüber hinglitte, und da sagten sie, sie sei tot.

Sie wurde in den schwarzen Sarg gelegt. Dort lag sie, in weißes Linnen gehüllt; sie war so schön, aber die Augen waren geschlossen; alle Runzeln waren nun fort, und sie lag mit einem Lächeln um den Mund. Ihr Haar war so silberweiß, so ehrwürdig, ihr Anblick flößte gar keine Furcht ein, es war ja die liebe, herzenesgute Großmutter. Und das Gesangbuch wurde unter ihren Kopf gebettet, das hatte sie selbst verlangt, und die Rose lag in dem alten Buche; so wurde Großmutter begraben.

Auf dem Grabe, dicht unter der Kirchenmauer pflanzten sie einen Rosenbaum. Er stand voller Blüten, und die Nachtigall sang über ihm, und aus der Kirche hörte man die Orgel die schönsten Psalmen spielen, die in dem Buche unter dem Haupte der Toten standen. Der Mond schien gerade auf das Grab herab; aber die Tote ließ sich nicht blicken. Jedes Kind konnte des Nachts ruhig hingehen und sich dort an der Kirchhofmauer eine Rose pflücken. Ein Toter weiß mehr, als wir Lebenden wissen; der Tote kennt die Angst, die uns sein Wiedererscheinen einflößen würde. Die Toten sind besser als wir alle, und deshalb kommen sie nicht Es liegt Erde über dem Sarge und Erde darin. Das Gesangbuch mit seinen Blättern ist zu Staub zerfallen. Aber darüber blühen neue Rosen, darüber singt die Nachtigall und die Orgel spielt. Man denkt an die alte Großmutter mit den milden, ewig jungen Augen. Augen können niemals sterben. Die unsrigen werden sie einmal erblicken, so jung und schön wie damals, als sie zum ersten Male die frische, rote Rose küßte, die Staub im Grabe ist.

Das stumme Buch

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\AMsection{Das stumme Buch}

An der Landstraße im Walde lag ein einsamer Bauernhof. Man mußte mitten durch den Hofraum hindurch. Da schien die Sonne, alle Fenster standen offen. Leben und Emsigkeit herrschte innen. Aber im Hofe, in einer Laube aus blühendem Flieder, stand ein offener Sarg. Der Tote war hier hinausgesetzt worden, denn am Vormittag sollte er begraben werden. Niemand stand und blickte voll Trauer auf den Toten, niemand weinte um ihn. Sein Gesicht war von einem weißen Tuche bedeckt und unter seinem Kopfe lag ein großes dickes Buch, dessen Blätter jedes ein ganzer Bogen aus grauem Papier waren. Und zwischen jedem lagen, verborgen und vergessen, verwelkte Blumen, ein ganzes Herbarium, das an verschiedenen Orten zusammengesucht war. Das sollte mit ins Grab, das hatte er selbst verlangt. An jede Blume knüpfte sich ein Kapitel seines Lebens.

``Wer ist der Tote?'' fragten wir, und die Antwort war: ``der alte Student von Upsala! Er soll einst ein tüchtiger Mann gewesen sein, gelehrte Sprachen verstanden, Lieder singen und schreiben gekonnt haben, sagt man. Aber dann ist ihm etwas in die Quere gekommen, und er ersäufte alle seine Gedanken und sich selbst mit im Branntwein. Und als seine Gesundheit zerstört war, kam er hier auf das Land hinaus, wo für ihn ein Kostgeld entrichtet wurde. Er war fromm wie ein Kind, wenn nicht der schwarze Sinn über ihn kam, denn dann gewann er seine Kräfte wieder und lief im Walde umher wie ein gejagtes Tier. Aber wenn wir ihn wieder zu fassen bekamen und ihn dazu brachten, in dies Buch mit den trocknen Pflanzen hineinzuschauen, konnte er den ganzen Tag sitzen und eine Pflanze nach der anderen anschauen. Und oftmals liefen ihm die Tränen über die Wangen dabei nieder. Gott mag wissen, an was er dabei dachte! Aber das Buch bat er mit in seinen Sarg zu legen, und nun liegt es dort, und um eine kurze Stunde soll der Deckel zugeschlagen werden und er wird sanft im Grabe ruhen.''

Das Leichentuch wurde gelüftet; es lag Frieden über dem Antlitz des Toten. Ein Sonnenstrahl fiel darauf, eine Schwalbe schoß in ihrem pfeilschnellen Fluge in die Laube und wendete sich im Fluge zwitschernd über des Toten Haupt.

Wie wunderlich ist es doch --- wir kennen gewiß alle das Gefühl --- alte Briefe aus unserer Jugendzeit hervorzunehmen und sie wieder zu lesen. Da taucht gleichsam ein ganzes Leben vor uns auf, mit all seinen Hoffnungen, all seinen Sorgen. Wie viele von den Menschen, mit denen wir in jener Zeit so herzlich vertraut zusammen lebten, sind für uns gestorben, obwohl sie noch leben. Aber wir haben lange Zeit nicht mehr an sie gedacht, von denen wir einstmals glaubten, daß wir stets mit ihnen verbunden bleiben und Freude und Leid mit ihnen teilen würden.

Das welke Eichenblatt im Buche hier erinnert an den Freund, an den Freund aus der Schulzeit, den Freund für das ganze Leben. Er heftete dieses Blatt an die Studentenmütze im grünen Walde, als der Freundschaftspakt fürs ganze Leben geschlossen wurde. --- Wo lebt er nun? --- Das Blatt wurde bewahrt, die Freundschaft vergessen! --- Hier ist eine fremdartige Treibhauspflanze, zu fein für die Gärten des Nordens --- es ist, als sei noch ein Duft über diesen Blättern. Sie gab sie ihm, das Fräulein aus dem adligen Garten. Hier ist die Wasserrose, die er selbst gepflückt und mit salzigen Tränen begossen hat, die Wasserrose aus den süßen Gewässern. Und hier ist eine Nessel. Was sagen ihre Blätter? Woran dachte er, als er sie pflückte, als er sie aufbewahrte? Hier ist das Maiglöckchen aus der Waldeinsamkeit; hier ist Jelänger-Jelieber aus dem Blumentopf in der Wirtsstube, und hier sind nackte scharfe Grashalme. Der blühende Flieder breitet seine frischen, duftenden Dolden über des Toten Haupt, die Schwalbe fliegt wieder vorüber: ``Quivit! Quivit!'' --- Nun kommen die Männer mit Nägeln und mit dem Hammer, der Deckel wird über den Toten gelegt, der sein Haupt auf dem stummen Buche ausruht. Verwahrt --- vergessen.

Herzeleid

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\AMsection{Herzeleid}

Es ist eigentlich eine Geschichte in zwei Teilen, mit der wir hier aufwarten; der erste Teil könnte recht gut fortfallen, --- aber er gibt uns die Vorkenntnisse, und die sind nützlich!

Wir hielten uns weiter drinnen auf dem Lande auf einem Herrenhofe auf. Da traf es sich, daß die Herrschaft dort für einen Tag fortfuhr und an demselben Tage aus dem benachbarten Flecken eine Frau mit ihrem Mops kam. Sie kam, wie sie sagte, um Aktien auf ihre Gerberei aufzunehmen. Ihr Papiere hatte sie mitgebracht und wir rieten ihr, einen Umschlag darum zu tun und den Namen des Gutsbesitzers darauf zu schreiben: ``Generalkriegskommissar, Ritter etc.''

Sie tat, wie wir ihr sagten, sie ergriff die Feder, stockte und bat uns, die Aufschrift noch einmal zu wiederholen, aber langsam. Wir taten es und sie schrieb. Aber mitten im ``Generalkriegs'' blieb sie stecken, seufzte und sagte: ``Ich bin nur ein Frauenzimmer.'' Den Mops hatte sie auf den Fußboden gesetzt, während sie schrieb, und er knurrte. Er war wegen seiner Gesundheit und um seines Vergnügens willen mitgenommen worden, und dann will man nicht auf den Fußboden gesetzt werden. Stumpfnase und Speckrücken waren seine äußeren Kennzeichen.

``Er beißt nicht!'' sagte die Frau, ``er hat keine Zähne. Er ist wie jemand, der zur Familie gehört, treu und bissig, aber dazu ist er von meinen Enkelkindern gebracht worden. Sie spielen immer Hochzeit, und er soll Brautjungfer sein, das strengt ihn zu sehr an, das alte Tier!''

Und sie ließ ihre Papiere da und nahm den Mops auf den Arm. Das ist der erste Teil der eigentlich entbehrlich war. ``Der Mops starb!'' das ist der zweite Teil.

Es war eine Woche später; wir kamen in den Flecken und zogen in einen Gasthof. Unsere Fenster gingen auf den Hof hinaus, der durch einen Bretterzaun in zwei Teile geteilt war. In dem einen hingen Felle und Häute, rohe und gegerbte, und hier standen auch alle Materialien zu einer Gerberei; sie gehörte der Witwe. --- Der Mops war an diesem Morgen gestorben und hier im Hofe begraben worden. Der Witwe Enkelkinder, daß heißt also der Gerberwitwe, denn der Mops war nicht verheiratet gewesen, klopften das Grab zu. Es war ein schönes Grab, es mußte wahrlich ein Vergnügen sein, darin zu ruhen.

Das Grab war mit Topfscherben eingefaßt und mit Sand bestreut. Oben darauf hatten sie eine kleine Bierflasche mit dem Halse nach oben gesetzt, aber es war nicht allegorisch gemeint.

Die Kinder tanzten rund um das Grab und der älteste der Knaben, ein praktischer Jüngling von sieben Jahren, schlug vor, daß das Grab des Mopses ausgestellt werden solle, und zwar für alle Kinder aus der Straße. Der Eintritt mußte mit einem Knopf bezahlt werden, das war etwas, was jeder Knabe besaß und was er auch den kleinen Mädchen liefern konnte, und der Vorschlag wurde einstimmig angenommen.

Und alle Kinder aus der Straße und der Nebenstraße kamen und gaben ihren Knopf. Da kam mancher dazu, den ganzen Nachmittag lang mit nur einem Hosenträger herumzulaufen, aber dafür hatte man auch des Mopses Grab gesehen, und das war es wohl wert.

Doch draußen vor dem Gerberhofe, dicht an der Pforte, stand ein kleines zerlumptes Mädchen, so hübsch und niedlich, mit dem schönsten Lockenhaar und Augen so blau und so klar, daß es eine Lust war. Sie sagte nicht ein Wort, sie weinte auch nicht, aber sie machte so lange Augen, wie sie nur konnte, jedesmal, wenn die Tür geöffnet wurde. Sie wußte genau, daß sie keinen Knopf besaß und blieb deshalb traurig draußen stehen. Dort stand sie, bis alle fortgegangen waren; dann setzte sie sich nieder, hielt die kleinen, braunen Händchen vor die Augen und brach in Tränen aus. Sie allein hatte des Mopses Grab nicht gesehen. Das war ein Herzeleid, so groß wie es oft die Erwachsenen nicht haben.

Wir sahen es von oben --- und von oben gesehen --- ja, über diese, wie über viele unserer und anderer Sorgen --- konnten wir lächeln! Das ist die Geschichte, und wer sie nicht versteht, kann Aktien auf die Gerberei der Witwe nehmen.

Nach Jahrtausenden

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\AMsection{Nach Jahrtausenden}

Ja, nach Jahrtausenden kommen sie auf den Flügeln des Dampfes durch die Luft über das Weltmeer. Amerikas junge Einwohner besuchen das alte Europa. Sie kommen zu den Denkmälern hier und zu unserer versunkenen Pracht, so wie wir heute nach Südasien wandern, um dessen bröckelnde Herrlichkeiten zu sehen.

Nach Jahrtausenden kommen sie.

Themse, Donau und Rhein rollen noch; der Montblanc steht mit seinem Schneegipfel, die Nordlichter schimmern über den Ländern des Nordens, aber Geschlecht auf Geschlecht wird zu Staub, die Mächtigen des Augenblicks werden vergessen, wie es schon jetzt diejenigen sind, die unter dem Hügel dort schlummern auf dem der wohlhabende Mehlhändler, dem der Grund und Boden gehört, sich eine Bank hat zimmern lassen um dort sitzen und über die flachen, wogenden Kornfelder hinschauen zu können.

``Nach Europa'' heißt es bei Amerikas jungem Geschlecht, ``nach der Väter Land, dem herrlichen Lande der Erinnerung und der Fantasie, Europa''

Das Luftschiff kommt; es ist überfüllt mit Reisenden, denn die Fahrt geht geschwinder als zur See. Der elektromagnetische Draht unter dem Weltmeer hat schon telegraphiert, wie groß die Luftkarawane ist. Schon kommt Europa in Sicht, es sind Irlands Küsten, die sich zeigen, aber die Passagiere schlafen noch; sie wollen erst geweckt werden, wenn sie über England sind. Dort betreten sie Europas Erde in Shakespeares Land, wie es die Söhne des Geistes heißen; das Land der Politik, das Land der Maschinen, wie es andere nennen.

Einen ganzen Tag wird hier Aufenthalt genommen, soviel Zeit widmet das eilfertige Geschlecht dem großen England und Schottland.

Dann geht die Fahrt durch den Kanaltunnel nach Frankreich, Karls des Großen und Napoleons Land. Moliere wird genannt, die Gelehrten sprechen von einer klassischen und romantischen Schule im fernen Altertum, und von Helden, Dichtern und Gelehrten, die unsere Zeit nicht kennt, die aber auf Europas Krater, Paris, geboren werden sollen.

Der Luftdampfer fliegt über das Land hin, von wo Kolumbus ausging, wo Cortez geboren wurde und wo Calderon Dramen in wiegenden Strophen sang. Herrliche schwarzäugige Frauen wohnen noch in den blühenden Tälern und in uralten Gesängen gedenkt man des Cid und der Alhambra.

Durch die Luft über das Meer nach Italien, wo das alte, ewige Rom lag; es ist ausgelöscht, die Campagne ist eine Wüste. Von der Peterskirche wird ein einsamer Mauerrest gezeigt, aber man zweifelt an seiner Echtheit.

Nach Griechenland, um eine Nacht in dem Luxushotel auf der Spitze des Olymps zu schlafen, dann ist man dort gewesen. Die Fahrt gebt auf den Bosporus zu, um dort einige Stunden zu ruhen und die Stätte zu sehen, wo Byzanz einst lag. Ärmliche Fischer spannen ihre Netze dort, wo die Sage von den Gärten des Harems in der Zeit der Türken erzählt.

Überreste von mächtigen Städten an der breit dahinfließenden Donau, die unsere Zeit nicht kennt, werden überquert, aber hier und da --- über Stätten reicher Erinnerungen, den kommenden, die die Zeit noch gebiert --- hier und da senkt sich die Luftkarawane und hebt sich wieder.

Dort unten liegt Deutschland --- das einmal vom dichtesten Netz von Eisenbahnen und Kanälen überspannt war, das Land, wo Luther sprach, Goethe sang und Mozart in seiner Zeit der Töne Zepter trug. Große Namen leuchteten dort in Wissenschaft und Kunst, Namen, die wir noch nicht kennen. Eines Tages Aufenthalt für Deutschland und einen Tag für den Norden, für Oerstedts und Linnés Vaterland, und für Norwegen, der alten Helden und jungen Nordmänner Land. Island wird auf dem Heimwege mitgenommen; die Geiser kochen nicht mehr, der Hekla ist erloschen, aber die Felseninsel, der Saga ewige Steintafel, steht stark mitten im brausenden Meer.

``In Europa gibt es viel zu sehen'' sagt der junge Amerikaner. ``Wir haben es in acht Tagen gesehen, und das läßt sich recht gut schaffen, wie der große Reisende'' --- ein Name wird genannt, der der kommenden Zeit angehört --- ``in seinem berühmten Werk, `Europa in acht Tagen' bewiesen hat.''

Der unartige Knabe

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\AMsection{Der unartige Knabe}

Es war einmal ein alter Dichter, so ein recht guter, alter Dichter. Eines Abends, als er zu Hause saß, entstand draußen ein schrecklich böses Wetter; der Regen strömte hernieder, aber der Dichter saß warm und gut bei seinem Ofen wo das Feuer brannte und die Äpfel zischten.

``Es bleibt kein trockener Faden auf den Armen, die bei diesem Wetter nicht zu Hause sind!'' sagte er, denn er war ein guter Dichter.

``O, öffne mir! Mich friert und ich bin ganz naß!'' rief draußen ein kleines Kind. Es weinte und klopfte an die Thür, während der Regen herabströmte und der Wind mit allen Fenstern klirrte.

``Du kleines Wesen!'' sagte der alte Dichter, als er die Thür öffnete. Da stand ein kleiner Knabe, der war ganz nackt, und das Wasser floß aus seinen langen, gelben Locken. Er zitterte vor Kälte, wäre er nicht hereingekommen, hätte er in dem bösen Wetter sicher umkommen müssen.

``Du armer Junge!'' sagte der freundliche Dichter und nahm ihn bei der Hand. ``Komm' zu mir, ich werde Dich schon erwärmen! Wein und einen Apfel sollst Du haben, denn Du bist ein prächtiger Knabe!''

Das war er auch. Seine Augen sahen wie zwei klare Sterne aus, und obgleich das Wasser aus seinen gelben Locken herabfloß, ringelten sie sich doch. Er sah aus wie ein kleines Engelskind, war aber bleich vor Kälte und zitterte über den ganzen Körper. In der Hand trug er einen herrlichen Bogen, aber der war vom Regen ganz verdorben; alle Farben von den schönen Pfeilen liefen vom nassen Wetter in einander.

Der alte Dichter setzte sich an den Ofen, nahm den kleinen Knaben auf seinen Schoß, drückte das Wasser aus seinen Locken, wärmte ihm die Hände in den seinen und kochte ihm süßen Wein. Da erholte er sich und bekam rote Wangen, sprang auf den Fußboden nieder und tanzte rings um den alten Dichter herum.

``Du bist ein lustiger Knabe!'' sagte der Alte. ``Wie heißt Du?''

``Ich heiße Amor!'' erwiderte er. ``Kennst Du mich nicht? Dort liegt mein Bogen; glaube mir, damit schieße ich! Sieh, nun wird das Wetter draußen wieder gut, der Mond scheint.''

``Aber Dein Bogen ist verdorben!'' sagte der alte Dichter.

``Das wäre schlimm!'' sagte der kleine Knabe, nahm ihn auf und besah ihn. ``O, der ist ganz trocken, der hat gar keinen Schaden gelitten; die Sehne sitzt ganz stramm; nun werde ich ihn probieren!'' Dann spannte er ihn, legte einen Pfeil darauf, zielte und schoß dem guten, alten Dichter gerade ins Herz. ``Siehst Du wohl, daß mein Bogen nicht verdorben war!'' sagte er, lachte ganz laut und lief seines Weges. Der unartige Knabe, so den alten Dichter zu schießen, der ihn in die warme Stube hereingenommen, so gut gegen ihn gewesen war und ihm den schönsten Wein und die besten Äpfel gegeben hatte.

Der gute Dichter lag auf dem Fußboden und weinte, er war wirklich gerade in das Herz geschossen. ``Pfui, was ist dieser Amor für ein unartiger Knabe, das werde ich allen guten Kindern erzählen, damit sie sich in acht nehmen können und nie mit ihm spielen, denn er thut ihnen etwas zuleide!''

Alle guten Kinder, Mädchen und Knaben, welchen er dieses erzählte, nahmen sich auch vor dem bösen Amor in acht, aber er führte sie doch an, denn er ist schlau. Wenn die Studenten von den Vorlesungen kommen, läuft er ihnen zur Seite, mit einem Buch unter dem Arm und hat einen schwarzen Rock an. Sie können ihn gar nicht erkennen, und dann fassen sie ihn unter den Arm und glauben, daß es auch ein Student sei, aber dann sticht er ihnen den Pfeil in die Brust. Wenn die Mädchen von dem Prediger kommen und wenn sie eingesegnet werden, so ist er auch hinter ihnen. Ja, er ist immer hinter den Leuten her. Er sitzt in der großen Lampenkrone im Theater, und brennt lichterloh, sodaß die Leute glauben, es sei eine Lampe, aber später sehen sie den Irrtum ein. Er läuft im Schloßgarten und auf den Wällen umher, ja, er hat auch einmal Deinen Vater und Deine Mutter gerade in das Herz geschossen! Frage sie nur darnach, so wirst Du hören, was sie sagen. Ja, es ist ein böser Knabe dieser Amor, mit ihm mußt Du nie etwas zu schaffen haben; er ist hinter jedermann her. Denk' einmal, er schoß sogar einmal einen Pfeil auf die alte Großmutter ab, aber das ist lange her, daß es geschehen ist. Die Wunde ist zwar geheilt, doch vergißt sie es nie. Pfui, der böse Amor! Aber nun kennst Du ihn und weißt, was er für ein unartiger Knabe ist!

Am äußersten Meer

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\AMsection{Am äußersten Meer}

Ein paar große Schiffe waren hoch hinauf nach dem Nordpol ausgesandt, um zu erforschen, wie weit das Land dort in das Meer reichte und festzustellen, wie weit Menschen dort vordringen könnten. Schon seit Jahr und Tag waren sie unter großen Beschwerlichkeiten zwischen Nebel und Eis dort oben umher gesteuert. Nun hatte der Winter begonnen, die Sonne verschwand, lange, lange Wochen würden hier zu einer einzigen Nacht werden. Alles ringsum war ein einziges Stück Eis, und fest lag darin das Schiff vertäut, der Schnee lag hoch und aus dem Schnee selbst wurden bienenkorbähnliche Hütten errichtet, einige waren groß, wie unsere Hünengräber, andere nicht größer, als daß sie zwei oder vier Männer fassen könnten. Aber dunkel war es nicht; die Nordlichter glänzten rötlich und blau, es war wie ein ewiges großes. Der Schnee leuchtete, die Nacht hier war eine lange schimmernde Dämmerung. In der hellsten Zeit kamen Scharen von Eingeborenen herbei, wunderlich anzusehen mit ihren behaarten Pelzröcken und Schlitten, die aus Eisstücken gezimmert waren. Felle in großen Haufen brachten sie mit, und die Schneehütten erhielten dadurch warme Teppiche. Die Felle dienten als Decken und Betten, wenn sich die Matrosen ihr Lager unter der Schneekuppel zurechtmachten, während es draußen fror, daß der Schnee knirschte, wie wir es auch in der strengsten Winterszeit nicht kennen lernen. Bei uns waren noch Herbsttage, daran dachten sie mitunter dort oben. Sie erinnerten sich der Sonnenstrahlen in der Heimat und des rotgelben Laubes, das an den Bäumen hing. Die Uhr zeigte, daß es Abend und Schlafenszeit war, und in einem von den Schneehütten streckten sich schon zwei zur Ruhe aus. Der Jüngere hatte seinen besten, reichsten Schatz von zuhause mit, den ihm die Großmutter vor der Abreise gegeben hatte. Es war die Bibel. Jede Nacht lag sie unter seinem Kopfe, er wußte seit seiner Kindheit, was darin stand; jeden Tag las er ein Stück und auf seinem Lager kam ihm oft tröstend der Gedanke an das heilige Wort: ``Ginge ich auf Flügeln der Morgenröte und wäre am äußersten Meer, so würde doch Deine Hand mich führen und Deine Rechte mich halten!'' Und unter diesen gläubigen Worten der Wahrheit schloß er seine Augen und der Schlaf kam mit seinen Träumen, des Geistes Offenbarungen in Gott. Die Seele blieb lebendig auch unter der Ruhe des Körpers; er vernahm es wie Melodien von altbekannten, lieben Liedern; es wehte so mild, so sommerwarm, und von seinem Lager sah er es über sich leuchten, als würde die Schneekuppel von außen her durchstrahlt; er hob sein Haupt, das strahlende Weiße war nicht die Wand oder die Decke, es waren die großen Schwingen an eines Engels Schultern, und er blickte empor in sein milde leuchtendes Antlitz. Aus der Bibel Blätter, wie aus dem Kelch einer Lilie, erhob sich der Engel, er breitete seine Arme weit aus und die Wände der Schneehütte versanken ringsum wie ein luftiger Nebelschleier. Der Heimat grüne Felder und Hügel mit den rotbraunen Wäldern lagen rundum im stillen Sonnenglanzte eines herrlichen Herbsttages. Das Nest der Störche stand leer, aber noch hingen die Äpfel an dem wilden Apfelbaum, ob auch die Blätter längst gefallen waren. Die roten Hagebutten leuchteten, und der Star flötete in dem kleinen grünen Bauer über dem Fenster des Bauernhauses, wo das Heim seiner Heimat war. Der Star flötete, wie er es gelernt hatte, und die Großmutter hing Vogelmiere in den Käfig, wie es der Enkel immer getan hatte. Und die Tochter des Schmieds stand so jung und schön am Brunnen und zog das Wasser herauf, sie nickte der Großmutter zu, und die Großmutter winkte und zeigte einen Brief von weit, weit her. Heute Morgen war er aus den kalten Ländern gekommen, hoch oben vom Nordpole her, wo der Enkel war --- in Gottes Hand. Und sie lachten und weinten, und er, der unter Eis und Schnee in der Welt des Geistes unter den Schwingen des Engels alles dies sah und hörte, lachte und weinte mit ihnen. Und aus dem Brief selbst wurden laut die Bibelworte vorgelesen:

``Am äußersten Meer würde doch Deine Hand mich führen und Deine Rechte mich halten!'' --- Wie herrlicher Orgelklang ertönte es ringsum und der Engel senkte seine Schwingen wie einen Schleier um den Schlafenden. Der Traum war zuende --- es war dunkel in der Schneehütte, aber die Bibel lag unter seinem Haupte, und Glaube und Hoffnung lagen in seinem Herzen; Gott und die Heimat waren mit ihm --- ``am äußersten Meere!''

Die schönste Rose der Welt

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\AMsection{Die schönste Rose der Welt}

Es war eine mächtige Königin, in deren Garten befanden sich die schönsten Blumen jeder Jahreszeit und aus allen Ländern der Welt; aber die Rosen liebte sie besonders, und deshalb hatte sie von diesen die verschiedensten Arten, von der wilden Heckenrose mit den nach Äpfeln duftenden grünen Blättern bis zur schönsten Rose aus Frankreichs Provence. Und sie wuchsen an den Mauern des Schlosses hinauf, rankten sich um Säulen und Fensterrahmen, in die Gänge hinein und an den Decken der Säle entlang, und jede gab ihr Bestes in Duft, Form und Farbe.

Aber Trauer und Trübsal wohnten drinnen. Die Königin lag auf dem Sterbelager und die Ärzte verkündeten, daß sie sterben müsse.

``Eine Rettung gibt es noch für sie'' sagte der Weiseste unter ihnen. ``Bringt ihr die schönste Rose der Welt, die Rose, die das Sinnbild der höchsten und reinsten Liebe ist; kommt ihr diese vor die Augen, ehe sie brechen, so stirbt sie nicht.''

Und Jung und Alt kamen von weit und breit mit Rosen, den herrlichsten, die in jedem Garten wuchsen; aber diese Rosen waren es nicht. Aus dem Garten der Liebe mußte die Blume geholt werden. Aber welche von den Rosen dort mochte der Ausdruck der höchsten, der reinsten Liebe sein?

Und die Skalden sangen von der schönsten Rose der Welt, jeder sang von der seinigen. Und es erging Botschaft weit im Lande umher an jedes Herz, das in Liebe schlug, Botschaft an jeden Stand und jedes Alter.

``Noch hat niemand die Blume genannt!'' sagte der Weise. ``Niemand hat den Ort gewiesen, wo ihre Schönheit entsprang. Nicht sind es die Rosen von Romeos und Julias Sarg oder von Walborgs Grabe, ob sie auch immer durch Sage und Lied duften werden: es sind nicht die Rosen, die aus Winkelrieds blutigen Lanzen hervorsprießen, ans dem Blute, das heilig der Brust des Helden entströmt beim Tode fürs Vaterland, obgleich kein Tod süßer, keine Rose röter ist als das Blut, was da geflossen ist. Auch jene Wunderblume ist es nicht, für deren Pflege der Mann im Jahr und Tag, in langen schlaflosen Nächten, in einsamer Stube, sein frisches Leben hingibt, der Wissenschaft magische Rose.''

``Ich weiß, wo sie blüht'' sagte eine glückselige Mutter, die mit ihrem kleinen Kinde an das Lager der Königin trat. ``Ich weiß, wo man die schönste Rose der Welt finden kann, die Rose, die das Sinnbild der höchsten und reinsten Liebe ist. Sie blüht auf den rosigen Wangen meines süßen Kindes, wenn es, vom Schlafe gestärkt, die Augen aufschlägt und mich mit all seiner Liebe anlacht!''

``Lieblich ist diese Rose, aber es gibt eine schönere'' sagte der Weise.

``Ja, eine weit schönere'' sagte eine der Frauen. ``Ich habe sie erblickt; eine erhabenere, eine heiligere Rose blüht nirgends, aber sie war bleich, wie die Blütenblätter der Teerose; auf den Wangen der Königin sah ich sie. Sie hatte ihre königliche Krone abgetan und trug selbst in langer, sorgenvoller Nacht ihr krankes Kind in den Armen, weinte darum, küßte es und flehte darum zu Gott, wie nur eine Mutter betet in der Stunde der Angst''

``Heilig und wunderbar in ihrer Macht ist der Sorge weiße Rose, aber auch sie ist es nicht.''

``Nein, die schönste Rose der Welt sah ich am Altar des Herrn'' sagte der gute, alte Bischof. ``Ich sah sie leuchten; wie eines Engels Antlitz zeigte sie sich. Die jungen Mädchen gingen zum Tische des Herrn, um den Bund der Taufe zu erneuen, und es erblühten und erbleichten Rosen auf ihren frischen Wangen. Ein junges Mädchen stand dort; sie schaute mit der vollen Reinheit und Liebe ihrer ganzen Seele zu ihrem Gott auf; das war der Ausdruck der reinsten und höchsten Liebe.''

``Gesegnet sei sie!'' sagte der Weise, ``doch noch immer hat keiner von Euch die schönste Rose der Welt genannt.''

Da trat in die Stube ein Kind, der Königin kleiner Sohn. Die Tränen standen in seinen Augen und auf seinen Wangen; er trug ein großes, aufgeschlagenes Buch, in Samt gebunden und mit Silber beschlagen.

``Mutter'' sagte der Kleine, ``O, hör doch, was ich gelesen habe.'' Und das Kind setzte sich an das Bett und las aus dem Buche vor von dem, der sich selbst am Kreuze geopfert hatte, um die Menschheit, selbst die noch ungeborenen Geschlechter, zu erlösen. Größere Liebe gibt es nicht.

Da ging ein Rosenschein über die Wangen der Königin, ihre Augen wurden groß, so klar, denn sie sah aus den Blättern des Buches die schönste Rose der Welt emporwachsen, sie, die aus Christi Blut am Kreuzesstamme hervorsproß.

``Ich sehe sie'' sagte sie. ``Niemals stirbt, wer diese Rose sah, die schönste auf Erden.''

Das ist wirklich wahr

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\AMsection{Das ist wirklich wahr}

``Das ist ja eine schreckliche Geschichte'' sagte ein Huhn, und zwar an dem Ende des Dorfes, wo die Geschichte nicht passiert war. ``Das ist ja eine schreckliche Geschichte im Hühnerhaus. Ich getraue mich gar nicht, heute nacht allein zu schlafen! Es ist nur gut, daß wir soviele im Stalle sind'' --- Und dann erzählte es, daß sich den anderen Hühnern die Federn sträubten und der Hahn den Kamm sinken ließ. Es ist wirklich wahr.

Aber wir wollen von Anfang anfangen, und der war am anderen Ende des Dorfes in einem Hühnerhaus. Die Sonne ging unter und die Hühner flogen auf. Eins von ihnen, es war weißgefiedert und kurzbeinig, legte seine vorgeschriebene Anzahl Eier und war, als Huhn, in jeder Weise respektabel. Als es die Leiter hinaufstieg, krause es sich mit dem Schnabel, und dabei fiel ihm eine kleine Feder aus.

``Hin ist hin!'' sagte es. ``Je mehr ich mich putze, desto schöner werde ich noch!'' Das war scherzhaft hingesprochen; denn es war das lustigste unter den Hühnern, im übrigen war es, wie gesagt, sehr respektabel; und dann schlief es ein.

Ringsum war es dunkel, Huhn an Huhn saß auf der Stange; aber das, was am nächsten dabei gesessen hatte, schlief noch nicht. Es hörte halb, halb hörte es nicht, wie man es ja in dieser Welt handhaben soll, um seine Gemütsruhe zu bewahren. Aber seiner anderen Nachbarin mußte es doch noch schnell zuflüstern: ``Hast Du gehört, was hier gesprochen worden ist? Ich nenne keinen Namen, aber es gibt hier ein Huhn, das sich rupfen will, um schön auszusehen! Wenn ich ein Hahn wäre, würde ich es verachten.''

Gerade gegenüber den Hühnern saß die Eule mit ihrem Eulenmann und den Eulenkindern; in dieser Familie hat man scharfe Ohren, sie hörten jedes Wort, was das Nachbarhuhn sagte. Und sie rollten mit den Augen und die Eulenmutter fächelte sich mit den Flügeln: ``Hört nur nicht hin! Aber Ihr habt es wohl doch gehört, was dort drüben gesprochen wurde? Ich hörte es mit meinen eigenen Ohren, und man hört ja viel ehe sie abfallen! Da ist eins unter den Hühnern, was in einem solchen Grade vergessen hat, was sich für ein Huhn schickt, daß es sitzt und sich alle Federn vom Leibe zupft und es den Hahn mit ansehen läßt!''

``Prenez garde aux enfants!'' sagte der Eulenvater, ``das ist nichts für die Kinder.''

``Ich will es doch der Nachbareule erzählen! Das ist eine so ehrenwerte Eule im Umgang!'' damit flog die Mutter fort.

``Hu-Hu! uhuh!'' tuteten die beiden gerade in den gegenüberliegenden Taubenschlag zu den Tauben hinein. ``Habt Ihr schon gehört? uhuh! Da ist ein Huhn, daß sich alle Federn ausgerupft hat wegen des Hahns. Es wird totfrieren, wenn es nicht schon tot ist, uhuh!'' --- ``Wo? Wo?'' kurrten die Tauben.

``Im Nachbarhofe! Ich habe es so gut wie selbst gesehen. Es ist zwar eine etwas unanständige Geschichte, aber es ist wirklich wahr!''

``Glaubt nur, glaubt nur jedes einzige Wort'' sagten die Tauben und kurrten zu ihrem Hühnerstall hinab: ``Da ist ein Huhn, ja, einige sagen sogar, es seien zwei, die sich alle Federn ausgerupft haben, um nicht wie die anderen auszusehen und dadurch die Aufmerksamkeit des Hahns zu erregen. Das ist ein gewagtes Spiel, man kann sich dabei erkälten und am Fieber sterben, nun sind sie beide tot!''

``Wacht auf! Wacht auf!'' krähte der Hahn und flog auf den Zaun. Der Schlaf saß ihm noch in den Augen, aber er krähte trotzdem: ``Es sind drei Hühner aus unglücklicher Liebe zu einem Hahn gestorben! Sie haben sich alle Federn ausgerupft! Das ist eine häßliche Geschichte, ich will sie nicht für mich behalten, laßt sie weitergehen!''

``Laßt sie weitergehen!'' pfiffen die Fledermäuse, und die Hühner kluckten und der Hahn krähte: ``Laßt sie weitergehen! Laßt sie weitergehen!'' Und so eilte die Geschichte von Hühnerhaus zu Hühnerhaus und endete zuletzt bei der Stelle, von wo sie ausgegangen war.

``Da sind fünf Hühner,'' hieß es, ``die sich alle die Federn ausgerupft haben, um zu zeigen, welches von ihnen am magersten vor Liebeskummer um den Hahn geworden wäre, und sie hackten auf einander los, bis das Blut floß und fielen tot zur Erde, ihrer Familie zu Schimpf und Schande und dem Besitzer zu großem Verlust.''

Das Huhn, das die lose, kleine Feder verloren hatte, erkannte sich natürlich in der Geschichte nicht wieder, und da es ein respektables Huhn war, sagte es: ``Diese Hühner verachte ich. Aber es gibt mehr von dieser Art. So etwas soll man nicht vertuschen, ich will jedenfalls das meinige dazu tun, daß die Geschichte in die Zeitung kommt, dann geht sie durch das ganze Land, das haben die Hühner verdient und die Familie auch!''

Und es kam in die Zeitung und wurde gedruckt und es ist wirklich wahr: Aus einer kleinen Feder können schnell fünf Hühner werden!

Das Liebespaar

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\AMsection{Das Liebespaar}

Ein Kreisel und ein Ball lagen im Kasten beisammen unter anderem Spielzeug, und da sagte der Kreisel zum Ball: ``Wollen wir nicht Brautleute sein, da wir doch in dem Kasten zusammen liegen?'' Aber der Ball, welcher von Saffian genähet war, und der sich ebenso viel einbildete als ein feines Fräulein, wollte auf dergleichen nicht antworten.

Am nächsten Tage kam der kleine Knabe, dem das Spielzeug gehörte; er bemalte den Kreisel rot und gelb und schlug einen Messingnagel mitten hinein; dies sah gerade recht prächtig aus, wenn der Kreisel sich herumdrehte.

``Sehen Sie mich an!'' sagte er zum Ball. ``Was sagen Sie nun? Wollen wir nun nicht Brautleute sein, wir passen gut zu einander, Sie springen, und ich tanze! Glücklicher als wir beide würde niemand werden können!''

``So, glauben Sie das?'' sagte der Ball. ``Sie wissen wohl nicht, daß mein Vater und meine Mutter Saffianpantoffeln gewesen sind und daß ich einen Kork im Leibe habe?''

``Ja, aber ich bin von Mahagoniholz,'' sagte der Kreisel, ``und der Stadtrichter hat mich selbst gedrechselt, er hat seine eigene Drechselbank, und es hat ihm viel Vergnügen gemacht.''

``Kann ich mich darauf verlassen?'' fragte der Ball.

``Möge ich niemals Peitsche bekommen, wenn ich lüge!'' erwiderte der Kreisel.

``Sie wissen gut für sich zu sprechen,'' sagte der Ball; ``aber ich kann doch nicht, ich bin mit einer Schwalbe so gut wie versprochen! Jedesmal, wenn ich in die Luft fliege, steckt sie den Kopf zum Neste heraus und fragt: `Wollen Sie?' und nun habe ich innerlich `ja' gesagt, und das ist so gut wie eine halbe Verlobung. Aber ich verspreche Ihnen, Sie nie zu vergessen!''

``Ja, das wird viel helfen!'' sagte der Kreisel, und so sprachen sie nicht mehr mit einander.

Am nächsten Tage wurde der Ball von dem Knaben vorgenommen. Der Kreisel sah, wie er hoch in die Luft flog, gleich einem Vogel, zuletzt konnte man ihn gar nicht mehr erblicken; jedesmal kam er wieder zurück, machte aber immer einen hohen Sprung, wenn er die Erde berührte, und das geschah immer aus Sehnsucht, oder weil er einen Kork im Leibe hatte. Das neunte Mal aber blieb der Ball fort und kam nicht wieder, der Knabe suchte und suchte, aber weg war er.

``Ich weiß wohl, wo er ist,'' seufzte der Kreisel; ``er ist im Schwalbenneste und hat sich mit der Schwalbe verheiratet!''

Je mehr der Kreisel daran dachte, um so mehr wurde er für den Ball eingenommen. Gerade weil er ihn nicht bekommen konnte, darum nahm die Liebe zu; daß er einen andern genommen hatte, das war das Eigentümliche dabei; und der Kreisel tanzte herum und schnurrte, dachte aber immer an den Ball, welcher in seinen Gedanken immer schöner und schöner wurde. So verstrich manches Jahr --- --- und da war es eine alte Liebe.

Der Kreisel war nicht mehr jung --- --- ! Aber da wurde er eines Tages ganz und gar vergoldet, nie hatte er so schön ausgesehen; er war nun ein Goldkreisel und sprang, daß es schnurrte. Ja, das war doch noch etwas, aber auf einmal sprang er zu hoch, und --- weg war er!

Man suchte und suchte, selbst unten im Keller, doch er war nicht zu finden.

--- --- Wo war er?

Er war in eine Tonne gesprungen, wo allerlei Gerümpel, Kohlstrünke, Kehricht und Schutt lag, welches von der Dachrinne heruntergefallen war.

``Nun liege ich freilich gut! Hier wird die Vergoldung bald von mir verschwinden; ach, unter welchen Unrat bin ich hier geraten!'' Dann schielte er nach einem langen Kohlstrunk, welcher allzu kurz abgestreift war, und nach einem sonderbaren runden Dinge, welches wie ein alter Apfel aussah; --- aber es war kein Apfel, es war ein alter Ball, welcher viele Jahre in der Dachrinne gelegen und den das Wasser durchdrungen hatte.

``Gott sei Dank, da kommt doch einer unseres Gleichen, mit dem man sprechen kann!'' sagte der Ball und betrachtete den vergoldeten Kreisel. ``Ich bin eigentlich von Saffian, von Jungfrauenhänden genäht, und habe einen Kork im Leibe, aber das wird mir wohl niemand ansehen! Ich war nahe daran, mich mit einer Schwalbe zu verheiraten, aber da fiel ich in die Dachrinne, dort habe ich wohl fünf Jahre gelegen und bin ausgequollen! Glauben Sie mir, das ist eine lange Zeit für ein junges Mädchen!''

Aber der Kreisel sagte nichts, er dachte an sein altes Liebchen, und je mehr er hörte, desto klarer wurde es ihm, daß sie es war.

Da kam das Dienstmädchen und wollte den Kasten umwenden. ``Heisa, da ist der Goldkreisel!'' sagte sie.

Der Kreisel kam wieder zu großem Ansehen und Ehren, aber vom Ball hörte man nichts, und der Kreisel sprach nie mehr von seiner alten Liebe; die vergeht, wenn die Geliebte fünf Jahre lang in einer Wasserrinne gelegen hat und ausgequollen ist, ja man erkennt sie nie wieder, wenn man ihr in einer Kehrichttonne begegnet.

Die Sparbüchse

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\AMsection{Die Sparbüchse}

Da gab es soviel Spielzeug in der Kinderstube; oben auf dem Schranke stand die Sparbüchse. Sie war aus Ton und hatte die Gestalt eines Schweins. Auf dem Rücken hatte sie natürlich einen Spalt und der Spalt war mit einem Messer noch größer gemacht worden, damit auch Silbertaler hineingehen könnten, und es waren wirklich zwei, neben vielen anderen Schillingen, durch den Spalt gewandert. Die Sparbüchse war vollgepfropft, daß sie gar nicht mehr klappern konnte, und das ist das Höchste, wozu eine Sparbüchse es bringen kann. Da stand sie nun ganz oben auf dem Schranke und sah auf alles in der Stube herab, sie wußte recht wohl, daß sie mit dem, was sie im Bauche hatte, das Ganze hätte kaufen können, und das ist ein angenehmes Bewußtsein.

Das dachten die anderen auch, obwohl sie es nicht sagten; es gab ja auch andere Dinge, um darüber zu sprechen. Die Kommodenschublade stand halb aufgezogen und darin erhob sich eine große Puppe; etwas alt war sie schon und am Halse gekittet. Sie guckte heraus und sagte: ``Wollen wir nun Menschen spielen? Das ist doch immer etwas!'' Und dann rührte es sich überall emsig, sogar die Bilder drehten sich an den Wänden, sie zeigten, daß sie auch eine Kehrseite hatten, und dagegen war nichts zu sagen.

Es war mitten in der Nacht. Der Mond schien zum Fenster herein und gab seinerseits freie Beleuchtung dazu. Nun sollte das Spiel beginnen, alles war eingeladen, selbst der Kinderwagen, der doch zu dem gröberen Spielzeug gehörte. ``Jedes Ding hat sein Gutes'' sagte er. ``Es kann nicht jeder von Adel sein. Einer muß ja immer die Arbeit tun.''

Die Sparbüchse war die einzige, die eine schriftliche Einladung erhielt, sie war zu hochstehend, als daß man hätte annehmen können, sie würde auch einer mündlichen Gehör schenken. Sie gab auch keine Antwort, denn sie kam nicht. Sollte sie mithalten, so mußte sie es von zuhause aus genießen können; danach konnten sich die anderen richten, und das taten sie.

Das kleine Puppentheater wurde sogleich aufgebaut, und zwar so, daß sie gerade hineinsehen konnte; sie wollten mit einer Komödie beginnen und dann sollte es Tee geben und Gedankenspiele gespielt werden. Damit fing man sogleich an. Das Schaukelpferd sprach von Training und Vollblut, der Kinderwagen von Eisenbahnen und Dampfkraft, immer war es etwas, was in ihr Fach gehörte und worüber sie zu sprechen verstanden. Die Stubenuhr sprach von Politik --- tik-tik. Sie wußte, was die Glocke geschlagen hatte, aber man sagte von ihr, daß sie falsch ginge. Das spanische Rohr stand da und war stolz auf seine Spitze und seinen silbernen Knopf, er war oben und unten beschlagen; im Sofa lagen zwei gestickte Kissen, sie waren hübsch und dumm --- nun konnte die Komödie beginnen.

Alle saßen und schauten zu, dann wurde höflich ersucht zu klatschen, zu knallen oder zu poltern, ganz wie man eben aufgelegt sei durch das Spiel. Aber die Reitpeitsche sagte, daß sie niemals für ältere Leute, sondern nur für die Unverlobten knalle. ``Ich knalle für jeden'' sagte die Knallerbse. ``Einen Standpunkt muß man ja haben'' sagte der Spucknapf. Das waren so die Gedanken, die ihnen bei dem Komödienspiel kamen. Das Stück taugte nichts, aber es wurde gut gegeben; alle Spielenden wandten die bemalte Seite nach außen. Sie waren nur dazu da, um von der einen Seite gesehen zu werden, aber nicht von der Rückseite. Alle spielten ausgezeichnet und ganz im Vordergrunde des Theaters, sie hingen zwar an zu langen Drähten, aber dadurch wurden sie nur umso bemerkbarer. Die gekittete Puppe war so hingerissen, daß der Kitt sich löste, und die Sparbüchse war auf ihre Art so gerührt, daß sie beschloß, für einen der Schauspieler etwas zu tun, und zwar wollte sie in ihrem Testament bestimmen, daß er mit ihr im offenen Grab liegen solle, wenn die Zeit einst da sei.

Das war wirklich ein solcher Genuß, daß man vom Teetrinken absah und bei den Gedankenspielen blieb, was man ``Menschen spielen'' nannte. Darin war keine Bosheit, denn sie spielten nur --- und jeder dachte an sich und an die merkwürdigen Gedanken, die die Sparbüchse zuweilen hatte. Die Sparbüchse besaß am meisten Weitblick, sie dachte ja schon an Testament und Begräbnis --- und wann geschah das wohl? --- Immer, bevor man es erwartet. --- Knack, da fiel sie vom Schranke --- lag auf dem Fußboden in tausend Scherben, während die Schillinge tanzten und sprangen; die kleinsten drehten sich um sich selbst, die großen rollten, besonders der eine Silbertaler wollte durchaus in die Welt hinaus. Und das kam er auch und alle die anderen mit; die Scherben der Sparbüchse wanderten in den Kehricht. Doch am nächsten Tage schon stand auf dem Schranke eine neue Sparbüchse aus Ton. Noch war kein Schilling darin, daher konnte sie auch nicht klappern. Hierin glich sie der anderen, das war immer ein Anfang --- und damit sind wir auch am Ende.

Die letzte Perle

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\AMsection{Die letzte Perle}

Das war ein reiches Haus, ein glückliches Haus. Alles darin, Herrschaften wie Dienende und gleichzeitig auch ihre Freunde waren glückselig und fröhlich; heute war ein Erbe geboren, ein Sohn, und Mutter und Kind befanden sich wohl.

Die Lampe in dem behaglichen Schlafzimmer war halb überdeckt; schwere seidene Gardinen von kostbaren Stoffen hingen fest zugezogen vor den Fenstern. Der Teppich war dick und weich wie Moos; alles war wie geschaffen zum Schlummer, zum Schlafe, zum köstlichen Ruhen, und dem gab sich auch die Pflegerin hin, sie schlief, und das konnte sie mit ruhigem Gewissen; denn alles war gut und in seiner Ordnung. Des Hauses Schutzgeist stand am Kopfende des Bettes; über das Kind an der Mutter Brust hin breitete es sich reich, gleichsam wie ein Netz funkelnder Sterne aus, jeder Stern war eine Perle des Glückes. Des Lebens gute Feen, alle hatten sie dem Neugeborenen ihre Gaben gebracht. Hier funkelten Gesundheit, Reichtum, Glück und Liebe, kurz alles, was Menschen sich auf dieser Erde nur wünschen können.

``Alles ist nun gebracht und geschenkt!'' sagte der Schutzgeist.

``Nein'' ertönte eine Stimme dicht daneben; das war des Kindes guter Engel. ``Eine Fee hat ihre Gabe noch nicht gebracht, aber sie bringt sie, bringt sie einmal, ob auch Jahre darüber vergehen werden. Die letzte Perle fehlt.''

``Fehlt? Hier darf nichts fehlen, und ist es wirklich so, so laß uns gehen und sie suchen, die mächtige Fee, laß uns zu ihr gehen.''

``Sie kommt, sie kommt einmal. Ihre Perle muß dabei sein, um den Kranz zusammenzubinden.''

``Wo wohnt sie? Wo ist ihre Heimat? Sage es mir ich gehe und hole die Perle.''

``Du willst es'' sagte des Kindes guter Engel. ``Ich führe Dich zu ihr, wo sie auch zu treffen sein mag. Sie hat keine bleibende Stätte, sie kommt zu des Kaisers Schloß und zu dem ärmsten Bauer, an keinem Menschen geht sie spurlos vorüber, allen bringt sie ihre Gabe, sei sie eine Welt oder ein Spielzeug. Auch diesem Kinde wird sie begegnen. Du denkst, die Zeit ist gleich lang, aber nicht gleich nützlich. Nun wohl, laß uns gehen, die Perle zu holen, die letzte Perle zu diesem Reichtum.''

Und Hand in Hand schwebten sie zu der Stätte, die zu dieser Stunde die Heimat der Fee war.

Es war ein großes Haus mit düsteren Gängen, leeren Zimmern und seltsam stille; eine Reihe von Fenstern stand offen, damit die rauhe Luft recht herein dringen könne; die langen weißen, niederhängenden Gardinen bewegten sich im Luftzuge.

Mitten auf dem Fußboden stand ein offener Sarg und in diesem ruhte die Leiche einer Frau in den besten Jahren. Die herrlichsten frischen Rosen lagen über sie hingebreitet, so daß nur die gefalteten feinen Hände sichtbar waren und das im Tode verklärte, edle Antlitz mit der Weihe hohen, edlen Ernstes vor Gott.

Am Sarge standen Mann und Kinder, eine ganze Schar war es; das kleinste saß auf dem Arme des Vaters, sie brachten ihr das letzte Lebewohl dar. Der Mann küßte ihre Hand, die Hand, die nun wie welkes Laub war, und die sie alle vorher mit Kraft und Liebe gehegt und gepflegt hatte. Schwere, bittere Tränen fielen in großen Tropfen zu Boden; aber nicht ein Wort wurde gesprochen. Das Schweigen hier barg eine Welt von Schmerz in sich. Und stille schluchzend gingen sie fort.

Ein Licht stand da, die Flamme bewegte sich im Windzuge, der ausgebrannte Docht ragte lang und rotglühend empor. Fremde Leute traten ein; sie legten den Deckel über die Tote, sie schlugen die Nägel fest und dumpf dröhnten die Hammerschläge durch des Hauses Stuben und Gänge, dröhnten durch die blutenden Herzen.

``Wohin führst Du mich?'' fragte der Schutzgeist. ``Hier wohnt keine Fee, deren Perle zu den besten Gaben des Lebens gehört!''

``An dieser Stätte wohnt sie, hier in dieser heiligen Stunde,'' sagte der Schutzengel und zeigte in eine Ecke, und dort, wo in den Tagen ihres Lebens die Mutter zwischen Blumen und Bildern gesessen hatte, wo sie alte des Hauses gütige Fee liebevoll dem Manne, den Kindern und den Freunden zugenickt hatte, wo sie als des Hauses Sonnenstrahl Freude verbreitete und des Ganzen Herz und Stütze war, da saß nun eine fremde Frau in langen seidenen Kleidern. Die Trauer war es, Herrscherin nun und Mutter an der Toten statt. Eine brennende Träne rollte in ihren Schoß nieder und verwandelte sich in eine Perle; sie funkelte in allen Farben des Regenbogens, und der Engel nahm sie, und die Perle leuchtete wie ein Stern in siebenfarbigem Glanze.

``Die Perle der Trauer, die letzte, die nicht fehlen darf. Durch sie erhöht sich der anderen Glanz und Macht. Siehst Du den Schein des Regenbogens hier, des Bogens Schein, der Himmel und Erde miteinander verbindet? Für jedes unserer Lieben, das uns stirbt, haben wir im Himmel einen Freund mehr, nach dem wir uns sehnen. In der Erdennacht blicken wir zu den Sternen empor, der Vollendung entgegen! Betrachte die Perle der Trauer, in ihr liegen die Schwingen der Seele, die uns von hinnen tragen.

Der Halskragen

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\AMsection{Der Halskragen}

Es war einmal ein feiner Herr, dessen sämtliches Hausgerät aus einem Stiefelknecht und einer Haarbürste bestand, aber er hatte den schönsten Halskragen von der Welt, und dieser Halskragen ist es, dessen Geschichte wir hören werden. --- Er war nun so alt geworden, daß er daran dachte, sich zu verheiraten, und da traf es sich, daß er mit einem Strumpfband in die Wäsche kam.

Da meinte der Halskragen: ``Habe ich doch nie jemand so schlank und so fein und so niedlich gesehen. Darf ich um Ihren Namen bitten?''

``Den nenne ich nicht!'' sagte das Strumpfband.

``Wo sind Sie denn zu Hause?'' fragte der Halskragen.

Aber das Strumpfband war verschämt und meinte, es sei doch etwas sonderbar, darauf zu antworten.

``Sie sind wohl ein Leibgürtel?'' sagte der Halskragen, ``ein inwendiger Leibgürtel? Ich sehe, Sie sind sowohl zum Nutzen als zum Staat, liebes Fräulein!''

``Sie dürfen nicht mit mir sprechen!'' sagte das Strumpfband, ``mich dünkt, ich habe Ihnen durchaus keine Veranlassung dazu gegeben!''

``Ja, wenn man so schön wie Sie ist,'' sagte der Halskragen, ``so ist das Veranlassung genug!''

``Kommen Sie mir nicht so nahe!'' sagte das Strumpfband, ``Sie sehen so männlich aus!''

``Ich bin auch ein feiner Herr!'' sagte der Halskragen, ``ich besitze einen Stiefelknecht und eine Haarbürste!'' Das war nun nicht wahr, denn sein Herr hatte diese, aber er prahlte.

``Kommen Sie mir nicht so nahe!'' sagte das Strumpfband, ``ich bin das nicht gewohnt!''

``Zierliese!'' sagte der Halskragen, und dann wurden sie aus der Wäsche genommen; sie wurden gestärkt, hingen auf dem Stuhl im Sonnenschein und wurden dann auf's Plättbrett gelegt; da kam das warme Eisen.

``Liebe Frau!'' sagte der Halskragen, ``liebe Frau Witwe. Mir wird ganz warm! Ich werde ein ganz anderer, ich komme ganz aus den Falten, Sie brennen mir ein Loch! Uh! --- Ich halte um Sie an!''

``Laps!'' sagte das Plätteisen und ging stolz über den Halskragen hin, denn das bildete sich ein, daß es ein Dampfkessel sei, welcher zur Eisenbahn hinaus und dort Wagen ziehen sollte.

``Laps!'' sagte es.

Der Halskragen faserte an den Kanten ein wenig aus, deshalb kam die Papierschere und sollte die Fasern wegschneiden.

``O!'' sagte der Halskragen, ``Sie sind wohl erste Tänzerin? Wie Sie die Beine ausstrecken können! Das ist das Reizendste, was ich je gesehen habe, das kann Ihnen kein Mensch nachmachen!''

``Das weiß ich!'' sagte die Schere.

``Sie verdienten, eine Gräfin zu sein!'' sagte der Halskragen. ``Alles, was ich besitze, ist ein feiner Herr, ein Stiefelknecht und eine Haarbürste! --- Wenn ich nur eine Grafschaft hätte!''

``Er freit wohl gar!'' sagte die Schere, sie wurde böse und gab ihm einen tüchtigen Schnitt, und da war er entlassen.

``Ich muß am Ende wohl um die Haarbürste freien; es ist merkwürdig, wie Sie alle Ihre Zähne behalten, liebes Fräulein!'' sagte der Halskragen. ``Haben Sie nie daran gedacht, sich zu verloben?''

``Ja, das können Sie sich wohl denken!'' sagte die Bürste. ``Ich bin ja mit dem Stiefelknecht verlobt!''

``Verlobt!'' sagte der Halskragen; nun gab es niemand mehr, um die er hätte freien können, und darum verachtete er es.

Es verging eine lange Zeit und dann kam der Halskragen in den Kasten beim Papiermüller. Da gab es große Lumpengesellschaft, die feinen für sich, die großen für sich, so wie sich das gehört. Sie hatten alle viel zu erzählen, aber der Halskragen am meisten, das war ein gewaltiger Prahlhans.

``Ich habe ungeheuer viele Geliebten gehabt!'' sagte der Halskragen, ``man ließ mir gar keine Ruhe! Ich war aber auch ein feiner Herr mit Stärke! Ich besaß sowohl einen Stiefelknecht wie eine Haarbürste, die ich nie gebrauchte! --- Damals hätten Sie mich nur sehen sollen, wenn ich auf der Seite lag. Nie vergesse ich meine erste Geliebte, sie war ein Leibgürtel, fein, zart und niedlich, sie stürzte sich meinetwegen in eine Waschwanne. --- Da war auch eine Witwe, die für mich erglühte, aber ich ließ sie stehen und schwarz werden. Da war die erste Tänzerin, sie versetzte mir die Wunde, mit der ich gehe, sie war schrecklich bissig! Meine eigene Bürste war in mich verliebt, sie verlor alle Haare aus Liebesgram. Ja, ich habe viel dergleichen erlebt; aber am meisten thut es mir leid um das Strumpfband, --- ich meine den Leibgürtel, welcher sich in die Waschwanne stürzte. Ich habe viel auf meinem Gewissen; es wird mir wohl thun, weißes Papier zu werden!''

Und das wurde er, alle Lumpen wurden weißes Papier, aber der Halskragen wurde gerade das Stück Papier, was wir hier sehen, worauf die Geschichte gedruckt ist, und das geschah, weil er so gewaltig mit Dingen prahlte, die gar nicht wahr gewesen waren. Daran sollen wir denken, damit wir uns nicht ebenso betragen, denn wir können wahrlich nicht wissen, ob wir nicht auch einmal in den Lumpenkasten kommen und zu weißem Papier umgearbeitet werden, und dann unsere ganze Geschichte, selbst die allergeheimste, aufgedruckt bekommen, womit wir dann selbst herumlaufen und sie erzählen müssen, wie der Halskragen.

Der Engel

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\AMsection{Der Engel}

Jedesmal, wenn ein gutes Kind stirbt, kommt ein Engel Gottes zur Erde hernieder, nimmt das tote Kind auf seine Arme, breitet die großen, weißen Flügel aus und pflückt eine ganze Hand voll Blumen, welche er zu Gott hinaufbringt, damit sie dort noch schöner als auf der Erde blühen. Der liebe Gott drückt alle Blumen an sein Herz, aber der Blume, welche ihm die liebste ist, giebt er einen Kuß, und dann bekommt sie Stimme und kann in der großen Glückseligkeit mitsingen.

Sieh, alles dieses erzählte ein Engel Gottes, indem er ein totes Kind zum Himmel forttrug, und das Kind hörte wie im Traume; sie flogen über die Stätten in der Heimat, wo der Kleine gespielt hatte und kamen durch Gärten mit herrlichen Blumen.

``Welche wollen wir nun mitnehmen und in dem Himmel pflanzen?'' fragte der Engel.

Da stand ein schlanker, herrlicher Rosenstock, aber eine böse Hand hatte den Stamm abgebrochen, sodaß alle Zweige, voll von großen, halbaufgebrochenen Knospen, rundherum vertrocknet hingen.

``Der arme Rosenstock!'' sagte das Kind. ``Nimm ihn, damit er oben bei Gott zum Blühen kommen kann!''

Und der Engel nahm ihn, küßte das Kind dafür, und der Kleine öffnete seine Augen zur Hälfte. Sie pflückten von den reichen Prachtblumen, nahmen aber auch die verachtete Butterblume und das wilde Stiefmütterchen.

``Nun haben wir Blumen!'' sagte das Kind und der Engel nickte, aber er flog noch nicht zu Gott empor. Es war Nacht und ganz still; sie blieben in der großen Stadt und schwebten in einer der schmalen Gassen umher, wo Haufen Stroh und Asche lagen; es war Umzug gewesen. Da lagen Scherben von Tellern, Gipsstücke, Lumpen und alte Hutköpfe, was alles nicht gut aussah.

Der Engel zeigte in allen diesen Wirrwarr hinunter auf einige Scherben eines Blumentopfes und auf einen Klumpen Erde, der da herausgefallen war und von den Wurzeln einer großen, vertrockneten Feldblume, welche nichts taugte und die man deshalb auf die Gasse geworfen hatte, zusammengehalten wurde.

``Diese nehmen wir mit!'' sagte der Engel. ``Ich werde Dir erzählen, während wir fliegen!''

Sie flogen und der Engel erzählte:

``Dort unten in der schmalen Gasse, in dem niedrigen Keller, wohnte ein armer, kranker Knabe. Von seiner Geburt an war er immer bettlägerig gewesen; wenn es ihm am besten ging, konnte er auf Krücken die kleine Stube ein paarmal auf und nieder gehen, das war alles. An einigen Tagen im Sommer fielen die Sonnenstrahlen während einer halben Stunde bis in den Keller hinab, und wenn der Knabe dasaß und sich von der warmen Sonne bescheinen ließ und das rote Blut durch seine feinen Finger sah, die er vor das Gesicht hielt, dann hieß es: `Heute ist er aus gewesen!' Er kannte den Wald in seinem herrlichen Frühjahrsgrün nur dadurch, daß ihm des Nachbars Sohn den ersten Buchenzweig brachte, den hielt er über seinem Haupte und träumte dann unter Buchen zu sein, wo die Sonne scheint und die Vögel singen. An einem Frühlingstage brachte ihm des Nachbars Knabe auch Feldblumen, und unter diesen war zufällig eine mit der Wurzel, deshalb wurde sie in einen Blumentopf gepflanzt und am Bette neben das Fenster gestellt. Die Blume war mit einer glücklichen Hand gepflanzt, sie wuchs, trieb neue Zweige und trug jedes Jahr ihre Blumen; sie wurde des kranken Knaben herrlichster Blumengarten, sein kleiner Schatz hier auf Erden; er begoß und pflegte sie, und sorgte dafür, daß sie jeden Sonnenstrahl, bis zum letzten, welcher durch das niedrige Fenster hinunterglitt, erhielt; die Blume selbst verwuchs mit seinen Thränen, denn für ihn blühte sie, verbreitete sie ihren Duft und erfreute das Auge; gegen sie wendete er sich im Tode, da der Herr ihn rief. Ein Jahr ist er nun bei Gott gewesen, ein Jahr hat die Blume vergessen im Fenster gestanden und ist verdorrt und wurde deshalb beim Umziehen im Kehricht hinaus auf die Straße geworfen. Und dies ist die Blume, die arme vertrocknete Blume, welche wir mit in unsern Blumenstrauß genommen haben, denn diese Blume hat mehr erfreut, als die reichste Blume im Garten einer Königin!''

``Aber woher weißt Du das alles?'' fragte das Kind, welches der Engel gen Himmel trug.

``Ich weiß es,'' sagte der Engel, ``denn ich war selbst der kleine, kranke Knabe, welcher auf Krücken ging; meine Blume kenne ich wohl!''

Das Kind öffnete seine Augen ganz und sah in des Engels herrliches, frohes Antlitz hinein, und im selben Augenblick befanden sie sich in Gottes Himmel, wo Freude und Glückseligkeit war. Gott drückte das tote Kind an sein Herz und da bekam es Schwingen, wie der andere Engel und flog Hand in Hand mit ihm. Gott drückte alle Blumen an sein Herz, aber die arme verdorrte Feldblume küßte er, und sie erhielt Stimme und sang mit allen Engeln, welche Gott umschwebten, einige ganz nahe, andere um diese herum in großen Kreisen und immer weiter fort, in das Unendliche, aber alle gleich glücklich. Und alle sangen sie, klein und groß, samt dem guten, gesegneten Kinde und der armen Feldblume, welche verdorrt dagelegen, hingeworfen in den Kehricht des Umziehtages, in der schmalen, dunkeln Gasse.

Der böse Fürst

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\AMsection{Der böse Fürst}

Es war einmal ein böser und übermütiger Fürst, der nur darauf sann, alle Länder der Erde zu erobern und durch seinen Namen Furcht einzuflößen. Er fuhr umher mit Feuer und Schwert; seine Soldaten zertraten das Korn auf den Feldern, sie zündeten des Bauern Haus an, sodaß die Flamme die Blätter von den Bäumen leckte und die Frucht gebraten von den versengten Bäumen herabhing. Manche arme Mutter verbarg sich mit ihrem nackten Säugling hinter den rauchenden Mauern und die Soldaten suchten sie und wenn sie dieselbe und das Kind fanden, so begann ihre teuflische Freude; böse Geister konnten nicht ärger verfahren. Der Fürst aber meinte, es gehe wie es solle. Tag für Tag wuchs seine Macht, sein Name wurde von allen gefürchtet, und das Glück folgte ihm bei allen seinen Thaten. Von den eroberten Städten führte er große Schätze heim; in seiner Königsstadt wurde ein Reichtum angehäuft, der an keinem andern Orte seinesgleichen fand. Nun ließ er prächtige Schlösser, Kirchen und Hallen bauen, und jeder, der diese Herrlichkeit erblickte, sagte: ``Welch großer Fürst!'' Sie gedachten aber nicht der Not, die er über andere Länder gebracht hatte, sie hörten nicht die Seufzer und den Jammer, der sich von den eingeäscherten Städten erhob.

Der Fürst betrachtete sein Gold, sah seine prächtigen Gebäude und dachte dann, gleich der Menge: ``Welch großer Fürst, aber ich muß mehr haben, viel mehr! Keine Macht darf mir gleich, viel weniger größer genannt werden, als die meine!'' Er begann Krieg mit allen seinen Nachbarn, und besiegte sie alle. Die überwundenen Könige ließ er mit goldenen Ketten an seinen Wagen fesseln, wenn er durch die Straßen fuhr, und saß er zu Tische, so mußten sie ihm und seinen Hofleuten zu Füßen liegen und die Brocken aufsammeln, die man ihnen zuwarf.

Nun ließ der Fürst seine Bildsäule auf den Plätzen und in den königlichen Schlössern errichten. Ja, er wollte, sie solle in den Kirchen vor dem Altar des Herrn stehen, aber die Prediger sagten: ``Fürst, Du bist groß, aber Gott ist größer, wir wagen es nicht!''

``Wohl,'' sagte der böse Fürst, ``dann überwinde ich auch Gott!'' Und in seines Herzens Übermut und Thorheit ließ er ein köstliches Schiff bauen, womit man die Luft durchschiffen konnte; es war so bunt, wie der Schweif des Pfaues, und schien mit tausend Augen besetzt zu sein, aber jedes Auge war ein Büchsenlauf. Der Fürst saß mitten im Schiffe, er brauchte nur an eine Feder zu drücken, dann flogen tausend Kugeln hinaus und die Büchsen waren gleich wieder wie früher geladen. Hunderte von starken Adlern wurden vor das Schiff gespannt, und so flog er nun gegen die Sonne an. Die Erde lag tief unten; zuerst erschien sie mit ihren Bergen und Wäldern nur wie ein aufgepflügter Acker, wo das Grüne aus den umgewälzten Rasenstücken hervorblickt, später glich sie einer flachen Landkarte, und bald war sie ganz in Nebel und Wolken verhüllt. Höher und höher flogen die Adler aufwärts. Da entsendete Gott einen einzigen seiner unzähligen Engel, und der böse Fürst ließ Tausende von Kugeln gegen ihn fliegen, aber die Kugeln fielen gleich Hagel von den glänzenden Flügeln des Engels zurück; ein Blutstropfen, nur ein einziger, tröpfelte von der weißen Flügelfeder, und dieser Tropfen fiel auf das Schiff, in welchem der König saß, er brannte sich im Schiffe ein, er lastete gleich tausend Centnern Blei und riß das Schiff in stürzender Fahrt gegen die Erde nieder. Der Adler starke Schwingen zerbrachen, der Wind umsauste des Fürsten Haupt, und die Wolken ringsum --- sie waren von den abgebrannten Städten gebildet --- bildeten sich zu drohenden Gestalten, wie zu meilengroßen Krebsen, die ihre starken Klauen nach ihm ausstreckten, zu rollenden Felsstücken und feuerspeienden Drachen; halb tot lag der König im Schiffe, welches zuletzt in des Waldes dicken Baumzweigen hängen blieb.

``Ich will Gott besiegen!'' sagte er, ``ich habe es geschworen, mein Wille soll geschehen!'' und er ließ sieben Jahre lang künstliche Schiffe zum Durchsegeln der Luft bauen, er ließ Blitzstrahlen vom härtesten Stahl schmieden, denn er wollte des Himmels Befestigung sprengen. Von allen seinen Landen sammelte er große Kriegsheere, die einen Raum von mehreren Meilen bedeckten, als sie Mann bei Mann aufgestellt waren. Sie bestiegen die künstlichen Schiffe, der König selbst näherte sich dem seinen; da entsendete Gott einen Mückenschwarm, einen einzigen, kleinen Mückenschwarm. Der umschwirrte den König und stach dessen Antlitz und Hände; er zog im Zorn sein Schwert, schlug aber nur in die leere Luft, die Mücken konnte er nicht treffen. Da gebot er, daß köstliche Teppiche gebracht werden sollten, mit diesen mußte man ihn umwickeln, da konnte keine Mücke mit ihrem Stachel durchdringen, und man that, wie er befohlen hatte. Aber eine einzige Mücke setzte sich auf die innere Seite des Teppichs, sie kroch in des Königs Ohr und stach ihn dort; es brannte wie Feuer, das Gift schlug in sein Gehirn, wie toll schleuderte er die Teppiche ab, zerriß seine Kleider und tanzte nackt vor den rohen, wilden Soldaten umher, die nun des tollen Fürsten spotteten, der Gott bestürmen wollte, und von einer einzigen kleinen Mücke überwunden worden war.

Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern

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\AMsection{Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern}

Es war fürchterlich kalt; es schneite und begann dunkler Abend zu werden, es war der letzte Abend im Jahre, Neujahrsabend! In dieser Kälte und in dieser Finsternis ging ein kleines, armes Mädchen mit bloßem Kopfe und nackten Füßen auf der Straße. Sie hatte freilich Pantoffeln gehabt, als sie vom Hause wegging, aber was half das! Es waren sehr große Pantoffeln, ihre Mutter hatte sie zuletzt getragen, so groß waren sie, diese verlor die Kleine, als sie sich beeilte, über die Straße zu gelangen, indem zwei Wagen gewaltig schnell daher jagten. Der eine Pantoffel war nicht wieder zu finden und mit dem andern lief ein Knabe davon, der sagte, er könne ihn als Wiege benutzen, wenn er selbst einmal Kinder bekomme.

Da ging nun das arme Mädchen auf den bloßen, kleinen Füßen, die ganz rot und blau vor Kälte waren. In einer alten Schürze hielt sie eine Menge Schwefelhölzer und ein Bund trug sie in der Hand. Niemand hatte ihr während des ganzen Tages etwas abgekauft, niemand hatte ihr auch nur einen Dreier geschenkt; hungrig und halberfroren schlich sie einher und sah sehr gedrückt aus, die arme Kleine! Die Schneeflocken fielen in ihr langes, gelbes Haar, welches sich schön über den Hals lockte, aber an Pracht dachte sie freilich nicht.

In einem Winkel zwischen zwei Häusern --- das eine sprang etwas weiter in die Straße vor, als das andere --- da setzte sie sich und kauerte sich zusammen. Die kleinen Füße hatte sie fest angezogen, aber es fror sie noch mehr, und sie wagte nicht nach Hause zu gehen, denn sie hatte ja keine Schwefelhölzer verkauft, nicht einen einzigen Dreier erhalten. Ihr Vater würde sie schlagen, und kalt war es daheim auch, sie hatten nur das Dach gerade über sich und da pfiff der Wind herein, obgleich Stroh und Lappen zwischen die größten Spalten gestopft waren. Ihre kleinen Hände waren vor Kälte fast ganz erstarrt. Ach! Ein Schwefelhölzchen könnte gewiß recht gut thun; wenn sie nur wagen dürfte, eins aus dem Bunde herauszuziehen, es gegen die Wand zu streichen, und die Finger daran zu wärmen. Sie zog eins heraus, ``Ritsch!'' Wie sprühte es, wie brannte es! Es gab eine warme, helle Flamme, wie ein kleines Licht, als sie die Hand darum hielt, es war ein wunderbares Licht! Es kam dem kleinen Mädchen vor, als sitze sie vor einem großen eisernen Ofen mit Messingfüßen und einem messingenen Aufsatz; das Feuer brannte ganz herrlich darin und wärmte schön! --- Die Kleine streckte schon die Füße aus, um auch diese zu wärmen --- --- da erlosch die Flamme, der Ofen verschwand --- sie saß mit einem kleinen Stumpf des ausgebrannten Schwefelholzes in der Hand.

Ein neues wurde angestrichen, es brannte, es leuchtete, und wo der Schein desselben auf die Mauer fiel, wurde diese durchsichtig wie ein Flor. Sie sah gerade in das Zimmer hinein, wo der Tisch mit einem glänzend weißen Tischtuch und mit feinem Porzellan gedeckt stand, und herrlich dampfte eine mit Pflaumen und Äpfeln gefüllte, gebratene Gans darauf! Und was noch prächtiger war, die Gans sprang von der Schüssel herab, watschelte auf dem Fußboden hin mit Gabel und Messer im Rücken, gerade auf das arme Mädchen kam sie zu. Da erlosch das Schwefelholz, und nur die dicke, kalte Mauer war zu sehen.

Sie zündete ein neues an. Da saß sie unter dem schönsten Weihnachtsbaume. Der war noch größer und aufgeputzter als der, welchen sie zu Weihnachten durch die Glasthüre bei dem reichen Kaufmanne erblickt hatte. Viel tausend Lichter brannten auf den grünen Zweigen und bunte Bilder, wie die, welche die Ladenfenster schmücken, schauten zu ihr herab. Die Kleine streckte die beiden Hände in die Höh' --- da erlosch das Schwefelholz; die vielen Weihnachtslichter stiegen höher und immer höher, nun sah sie, daß es die klaren Sterne am Himmel waren, einer davon fiel herab und machte einen langen Feuerstreifen am Himmel.

``Nun stirbt jemand!'' sagte die Kleine, denn ihre alte Großmutter, welche die einzige war, die sie lieb gehabt hatte, die jetzt aber tot war, hatte gesagt: ``Wenn ein Stern fällt, so steigt eine Seele zu Gott empor.''

Sie strich wieder ein Schwefelholz gegen die Mauer, es leuchtete ringsumher, und im Glanze desselben stand die alte Großmutter, glänzend, mild und lieblich da.

``Großmutter!'' rief die Kleine. ``O, nimm mich mit! Ich weiß, daß Du auch gehst, wenn das Schwefelholz ausgeht; gleichwie der warme Ofen, der schöne Gänsebraten und der große, herrliche Weihnachtsbaum!'' Sie strich eiligst den ganzen Rest der Schwefelhölzer, welche noch im Bunde waren, sie wollte die Großmutter recht festhalten; und die Schwefelhölzer leuchteten mit solchem Glanz, daß es heller war, als am lichten Tage. Die Großmutter war nie so schön, so groß gewesen; sie hob das kleine Mädchen auf ihren Arm, und in Glanz und Freude flogen sie in die Höhe, und da fühlte sie keine Kälte, keinen Hunger, keine Furcht --- sie waren bei Gott!

Aber im Winkel am Hause saß in der kalten Morgenstunde das kleine Mädchen mit roten Wangen, mit lächelndem Munde --- tot, erfroren am letzten Abend des alten Jahres. Der Neujahrsmorgen ging über die kleine Leiche auf, welche mit Schwefelhölzern da saß, wovon ein Bund fast verbrannt war. Sie hat sich wärmen wollen, sagte man. Niemand wußte, was sie Schönes erblickt hatte, in welchem Glanze sie mit der alten Großmutter zur Neujahrsfreude eingegangen war!

Ein Blatt vom Himmel

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\AMsection{Ein Blatt vom Himmel}

Hoch oben in der dünnen, klaren Luft flog ein Engel mit einer Blume aus dem Himmelsgarten, und während er einen Kuß auf die Blume drückte, löste sich ein winzig kleines Blättchen ab und fiel auf die nasse Erde mitten im Walde; da faßte es sogleich Wurzeln und begann mitten zwischen den anderen Kräutern zu sprossen.

``Das ist ja ein merkwürdiger Steckling'' sagten sie, und keiner wollte sich zu ihm bekennen, weder die Distel noch die Brennessel.

``Es wird wohl eine Art Gartengewächs sein'' sagten sie und lachten spöttisch. Und sie machten sich über das vermeintliche Gartengewächs lustig; aber es wuchs und wuchs wie keines von den anderen und trieb Zweige weit umher in langen Ranken.

``Wo willst Du hin?'' sagten die hohen Disteln, die Stacheln an jedem Blatte hatten. ``Du gehst zu weit. Deine Zweige haben keine Stütze und keinen Halt mehr. Wir können doch nicht stehen und Dich tragen!''

Der Winter kam und Schnee legte sich über die Pflanze; aber durch sie bekam die Schneedecke einen Glanz, als würde er von unten her mit Sonnenlicht durchströmt. Im Frühjahr stand dort ein blühendes Gewächs, herrlich wie kein anderes im Walde.

Da kam ein Professor der Botanik daher, der ein Zeugnis bei sich hatte, daß er war, was er war. Er besah sich die Pflanze, biß sogar in ihre Blätter, aber sie stand nicht in seiner Pflanzenkunde; es war ihm nicht möglich zu entdecken, zu welcher Gattung sie gehörte.

``Das ist eine Spielart!'' sagte er. --- ``Ich kenne sie nicht, sie ist nicht in das System aufgenommen!''

``Nicht in das System aufgenommen'' sagten die Disteln und Nesseln.

Die großen Bäume ringsum hörten, was gesagt wurde, und auch sie sahen, daß es kein Baum von ihrer Art war; aber sie sagten nichts, weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes, das ist immer das Sicherste, wenn man dumm ist.

Da kam ein armes, unschuldiges Mädchen durch den Wald; ihr Herz war rein und ihr Verstand groß durch ihren Glauben; ihr ganzes Erbteil in dieser Welt bestand in einer alten Bibel, aber aus deren Blättern sprach Gottes Stimme zu ihr: Wollen die Menschen Dir übel, so denke an die Geschichte von Joseph: ``Sie dachten übles in ihren Herzen, aber Gott wendete es zum Besten'' Leidest Du Unrecht, wirst Du verkannt und verhöhnt, so denke an den Reinsten und Besten, den sie verspotteten und an das Kreuz nagelten, wo er noch betete: ``Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!''

Sie blieb vor der wunderbaren Pflanze stehen, deren grüne Blätter so süß und erquickend dufteten und deren Blüten im hellen Sonnenschein wie ein wahres Farbenfeuerwerk leuchteten. Und aus jeder sang und klang es, als verberge sie aller Melodien tiefen Born, der in Jahrtausenden nicht erschöpft wird. Mit frommer Andacht schaute sie auf all die Gottesherrlichkeit; sie bog einen der Zweige nieder, um die Blüte recht anschauen zu können und ihren Duft einzuatmen. Und ihr wurde licht und wohl ums Herz. Gern hätte sie eine Blüte mitgenommen, aber sie hatte nicht das Herz, sie zu brechen, sie würde nur zu schnell bei ihr welken, und so nahm sie nur ein einziges von den grünen Blättern, trug es heim, legte es in ihre Bibel und dort lag es frisch, immer frisch und unverwelklich.

Zwischen den Blättern der Bibel lag es verborgen, und mit der Bibel wurde es unter des jungen Mädchens Haupt gebettet, als sie einige Wochen später im Sarge lag, des Todes heiligen Ernst auf dem frommen Antlitz, als ob es sich in ihrer irdischen Hülle noch abpräge, daß sie nun vor ihrem Gotte stand.

Aber draußen im Walde blühte die wunderbare Pflanze, die bald wie ein Baum anzusehen war. Und alle Zugvögel kamen und neigten sich vor ihr, besonders die Schwalben und Störche.

``Das ist ein ausländisches Gehabe!'' sagten die Distel und die Klette, ``so würden wir uns doch hier niemals aufführen!''

Und die schwarzen Waldschnecken spuckten auf den Baum.

Da kam der Schweinehirt, er raufte Disteln und Ranken aus, um sie zu Asche zu verbrennen; den ganzen wunderbaren Baum, mit allen Wurzeln riß er aus und stopfte ihn mit in das Bund. ``Er muß auch Nutzen bringen!'' sagte er, und dann war es getan.

Aber nach Jahr und Tag litt des Landes König an der tiefsten Schwermut; er war fleißig und arbeitssam, aber es half nichts. Es wurden ihm tiefsinnige Schriften vorgelesen und auch die allerleichtesten, aber auch das half nichts. Da kam Botschaft von einem der weisesten Männer der Welt. Man hatte sich an ihn gewendet und er ließ sie wissen, daß sich ein sicheres Mittel finde, den Leidenden zu kräftigen und zu heilen. ``In des Königs eigenem Reiche wächst im Walde eine Pflanze himmlischen Ursprungs, so und so sieht sie aus, man kann sich gar nicht irren!'' --- und dann folgte eine Zeichnung der Pflanze, sie war leicht zu erkennen. --- ``Sie grünt Sommer und Winter; man nehme jeden Abend ein frisches Blatt davon und lege es auf des Königs Stirn, da wird es seine Gedanken licht machen, und ein schöner Traum wird ihn für den kommenden Tag stärken!''

Das war nun deutlich genug, und alle Doktoren und der Professor der Botanik gingen in den Wald hinaus. --- Ja, aber wo war die Pflanze?

``Ich habe sie wohl mit in mein Bund gepackt!'' sagte der Schweinehirt. ``Sie ist schon längst zu Asche geworden, aber ich verstand es nicht besser!''

``Er verstand es nicht besser!'' sagten alle. ``Unwissenheit! Unwissenheit wie groß bist Du.'' Und diese Worte konnte sich der Schweinehirt zu Herzen nehmen, denn ihm und keinem anderen galten sie.

Nicht ein Blatt war zu finden, das einzige lag in dem Sarge der Toten, und das wußte niemand.

Der König selbst kam in seiner Schwermut in den Wald zu dem Orte hinaus. ``Hier hat der Baum gestanden'' sagte er, ``das ist ein heiliger Ort''

Und die Erde wurde mit einem goldenen Gitter eingefaßt und eine Schildwache stand Tag und Nacht davor.

Der Professor der Botanik schrieb eine Abhandlung über die himmlische Pflanze, und dafür wurde er vergoldet. Das war ihm ein großes Vergnügen. Und die Vergoldung kleidete ihn und seine Familie, und das ist das Erfreulichste an der ganzen Geschichte, denn die Pflanze war fort und der König war schwermütig und betrübt --- ``aber das war er auch schon vorher!'' sagte die Schildwache.

Der alte Grabstein

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\AMsection{Der alte Grabstein}

In einem der kleinen Marktflecken bei einem Manne, der seinen eigenen Hof hatte, saß abends in der Jahreszeit, in der die Abende länger werden, die ganze Familie im Kreise zusammen. Es war noch milde und warm. Die Lampe war angezündet, die langen Gardinen hingen vor den Fenstern nieder, auf denen Blumentöpfe standen, und draußen war herrlicher Mondschein. Aber davon sprachen sie nicht, sie sprachen von einem alten, großen Stein, der unten im Hofe lag, dicht bei der Küchentür, wohin die Mädchen oft das geputzte Kupferzeug stellten, damit es in der Sonne trocknen sollte, und wo die Kinder gern spielten, es war eigentlich ein alter Grabstein.

``Ja,'' sagte der Hausherr, ``ich glaube, er stammt aus der alten, abgebrochenen Klosterkirche. Die Kanzel, die Denkmäler und die Grabsteine wurden ja verkauft! Mein seliger Vater kaufte mehrere davon; sie wurden zu Pflastersteinen zerschlagen, aber dieser Stein blieb übrig und liegt seitdem im Hofe.''

``Man kann wohl sehen, daß es ein Grabstein ist'', sagte das älteste von den Kindern. ``Es ist darauf noch ein Stundenglas und ein Stück von einem Engel zu sehen, aber die Inschrift, die darauf gestanden hat, ist schon verwischt außer dem Namen Preben und einem großen ``S'', das gleich dahinter steht, und ein bißchen weiter unten steht ``Marthe''. Mehr kann man nicht herausbekommen und auch das ist nur deutlich zu sehen, wenn es geregnet hat oder wir ihn gewaschen haben.''

``Herrgott, das ist Preben Svanes und seiner Frau Leichenstein!'' sagte ein alter, alter Mann im Zimmer. Seinem Alter nach hätte er gut und gerne der Großvater all der Alten und Jungen, die hier versammelt waren, sein können. ``Ja, das Ehepaar war eines der letzten, die auf dem alten Klosterkirchhofe beerdigt worden sind! Das war ein altes, ehrenhaftes Paar aus meinen Knabenjahren! Alle kannten sie, und alle liebten sie; sie waren das Alters-Königspaar hier in der Gegend. Die Leute sagten von ihnen, daß sie über eine Tonne Gold besäßen, doch gingen sie einfach gekleidet im gröbsten Zeug, aber ihr Linnen war blendend weiß. Das war ein prächtiges altes Paar. Preben und Marthe. Wenn sie auf der Bank oben auf der großen Steintreppe des Hauses saßen, über die der alte Lindenbaum seine Zweige breitete, und sie so freundlich und milde nickten, wurde man ordentlich fröhlich. Sie waren unendlich gutherzig gegen die Armen! Sie speisten sie und kleideten sie, und es war Vernunft und wahres Christentum in all ihren Wohltaten. Zuerst starb die Frau. Ich entsinne mich noch so gut des Tages. Ich war ein kleiner Knabe und mit meinem Vater drinnen beim alten Preben, als sie gerade hinübergeschlummert war. Der alte Mann war so bewegt, er weinte wie ein Kind. Die Tote lag noch in der Schlafkammer, dicht neben dem Zimmer, in dem wir saßen. Und er sprach zu meinem Vater und ein paar Nachbarn davon, wie einsam es nun sein würde, wie gut sie gewesen sei, wieviele Jahre sie zusammen gelebt hätten und wie es zugegangen wäre, daß sie einander kennen gelernt und sich lieb gehabt hätten. Ich war, wie gesagt, klein und stand und hörte zu, aber es erfüllte mich seltsam stark, dem alten Mann zu lauschen und zu sehen, wie er immer lebhafter wurde und rote Wangen bekam, als er vom Verlobungstage sprach und davon, wie lieblich sie gewesen wäre und wieviele unschuldige, kleine Umwege er gemacht hätte, um mit ihr zusammenzutreffen. Und er erzählte vom Hochzeitstag; seine Augen leuchteten auf dabei, er lebte sich gleichsam wieder zurück in die schönen Zeiten damals, und sie lag dicht dabei in der Kammer, tot, eine alte Frau, und er war ein alter Mann und sprach von den Zeiten der Hoffnung! --- ja, ja, so gehts! Damals war ich ein Kind nur, und heute bin ich alt, alt wie Preben Svane. Die Zeit vergeht und alles verändert sich! Ich erinnere mich noch gut ihres Begräbnistages. Der alte Preben ging dicht hinter dem Sarge her. Ein paar Jahre vorher hatte das Ehepaar seinen Grabstein meißeln lassen mit Inschrift und Namen, bis auf den Todestag. Der Stein wurde am Abend hinausgefahren und auf das Grab gelegt, und ein Jahr später wurde er wieder emporgehoben und der alte Preben kam zu seiner Frau heim. --- Sie hinterließen nicht solchen Reichtum, wie die Leute geglaubt und behauptet hatten. Das was blieb, fiel an die Familie, die weit entfernt lebte, keiner hatte sie je gekannt. Das Fachwerkhaus mit der Bank auf der hohen Steintreppe unter dem Lindenbaum wurde vom Magistrat niedergerissen, denn es war allzu baufällig, als daß man es hätte stehen lassen dürfen. Später, als es der Klosterkirche ebenso erging und der Kirchhof aufgehoben wurde, kam Prebens und Marthes Grabstein, wie alles andere von dort, zu dem, der ihn kaufen wollte, und nun hat es sich gerade so getroffen, daß er nicht mit zerschlagen und verbraucht worden ist, sondern noch immer im Hofe liegt als Spielzeug für die Kleinen und als Trockenstelle für das gescheuerte Küchenzeug der Mädchen. Die gepflasterte Straße geht nun über die Ruhestätte des alten Preben und seiner Frau. Keiner kennt sie mehr.''

Und der alte Mann, der all dies erzählte, schüttelte wehmütig das Haupt. ``Vergessen'' --- ``Alles wird vergessen'' sagte er.

Und dann sprachen sie im Zimmer von anderen Dingen, aber der kleinste Knabe, ein Kind mit großen, ernsten Augen, kletterte auf den Stuhl hinter der Gardine und sah hinab in den Hof, wo der Mond hell auf den großen Stein schien, der ihm zuvor stets leer und flach erschienen war, nun aber da lag, wie ein großes Blatt im Buche der Geschichte. Alles, was der Knabe von Preben und seiner Frau gehört hatte, knüpfte sich an den Stein. Und er blickte auf ihn und hinauf in den klaren, lichten Mond in der reinen, hohen Luft, und es war, als ob eines Gottes Antlitz über die Erde hinschien.

``Vergessen. Alles wird vergessen!'' klang es im Zimmer, und in diesem Augenblick küßte ein unsichtbarer Engel des Kindes Brust und Stirn und flüsterte leise: ``Bewahre das empfangene Samenkorn gut. Bewahre es bis zur Zeit der Reife. Durch Dich, o Kind, sollen die verwischte Inschrift, der verwitterte Grabstein in leuchtenden, goldenen Zügen für kommende Geschlechter bewahrt bleiben. Das alte Ehepaar soll wieder Arm in Arm durch die alten Straßen wandern, mit frischen, roten Wangen lächelnd auf der Steintreppe unter dem Lindenbaum sitzen und arm und reich zunicken. Das Samenkorn aus dieser Stunde wird im Laufe der Jahre sich in eine blühende Dichtung verwandeln. Das Gute und Schöne wird nicht vergessen, es lebt in Sagen und Liedern.''

Die Stopfnadel

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\AMsection{Die Stopfnadel}

Es war einmal eine Stopfnadel, die sich so fein dünkte, daß sie sich einbildete, eine Nähnadel zu sein.

``Seht nur darauf, daß Ihr mich haltet!'' sagte die Stopfnadel zu den Fingern, die sie hervornahmen. ``Verliert mich nicht! falle ich hinunter, so ist es sehr die Frage, ob ich wieder gefunden werde, so fein bin ich!''

``Das geht noch an!'' sagten die Finger, und faßten sie um den Leib.

``Seht Ihr, ich komme mit Gefolge!'' sagte die Stopfnadel, und dann zog sie einen langen Faden nach sich, der aber keinen Knoten hatte.

Die Finger richteten die Stopfnadel gerade gegen den Pantoffel der Köchin, an dem das Oberleder abgeplatzt war und jetzt wieder zusammengenäht werden sollte.

``Das ist eine gemeine Arbeit!'' sagte die Stopfnadel, ``ich komme nie hindurch, ich breche! ich breche!'' --- und da brach sie. ``Habe ich es nicht gesagt?'' seufzte die Stopfnadel; ``ich bin zu fein!''

``Nun taugt sie nichts mehr,'' meinten die Finger, aber sie mußten sie festhalten, die Köchin betröpfelte sie mit Siegellack und steckte sie dann vorn in ihr Tuch.

``Sieh, jetzt bin ich eine Busennadel!'' sagte die Stopfnadel. ``Ich wußte wohl, daß ich zu Ehren kommen werde; wenn man etwas wert ist, so wird man auch anerkannt.'' Dann lachte sie innerlich, denn von außen kann man es einer Stopfnadel niemals ansehen, daß sie lacht; da saß sie nun so stolz, als wenn sie in einer Kutsche führe, und sah sich nach allen Seiten um.

``Sind Sie von Gold?'' fragte die Stecknadel, welche ihre Nachbarin war. ``Sie haben ein herrliches Äußere und Ihren eigenen Kopf, aber klein ist er! Sie müssen darnach trachten, daß derselbe wächst, denn man kann nicht allen das Ende mit Lack betröpfeln!'' Und darauf hob sich die Stopfnadel so stolz in die Höhe, daß sie aus dem Tuch in die Gosse fiel, gerade als die Köchin spülte.

``Nun gehen wir auf Reisen,'' sagte die Stopfnadel; ``wenn ich nur nicht dabei verloren gehe!'' Aber sie ging verloren.

``Ich bin zu fein für diese Welt!'' sagte sie, als sie im Rinnstein saß. ``Ich habe ein gutes Bewußtsein, und das ist immer ein kleines Vergnügen!'' Die Stopfnadel behielt ihre Haltung und verlor ihre gute Laune nicht.

Es schwamm allerlei über sie hin, Späne, Stroh und Stücken von Zeitungen. ``Sieh, wie sie segeln!'' sagte die Stopfnadel. ``Sie wissen nicht, was unter ihnen steckt. Ich stecke, ich sitze hier. Sieh, da geht nun ein Span, der denkt an nichts in der Welt, ausgenommen an einen `Span', und das ist er selbst; da schwimmt ein Strohhalm, sieh, wie der sich schwenkt, wie der sich dreht! Denke nicht soviel an Dich selbst, Du könntest Dich an einen Stein stoßen. Da schwimmt eine Zeitung! --- Vergessen ist, was darin steht und doch macht sie sich breit! Ich sitze geduldig und still; ich weiß was ich bin, und das bleibe ich!'' ---

Eines Tages lag etwas dicht neben ihr, was herrlich glänzte, und da glaubte die Stopfnadel, daß es ein Diamant sei, aber es war ein Glasscherben, und weil derselbe glänzte, so redete die Stopfnadel ihn an und gab sich als Busennadel zu erkennen. ``Sie sind wohl ein Diamant?'' --- ``Ja, ich bin etwas der Art!'' Und so glaubte eins vom andern, daß sie recht kostbar seien, und dann sprachen sie darüber, wie hochmütig die Welt sei.

``Ja, ich habe in einer Schachtel bei einer Jungfrau gewohnt,'' sagte die Stopfnadel, ``und die Jungfrau war Köchin; sie hatte an jeder Hand fünf Finger, aber etwas so Eingebildetes, als diese fünf Finger, habe ich nicht gekannt, und doch waren sie nur da, um mich zu halten, mich aus der Schachtel zu nehmen und mich in die Schachtel zu legen.''

``Glänzten sie denn?'' fragte der Glasscherben.

``Glänzen!'' sagte die Stopfnadel, ``nein, aber hochmütig waren sie! Es waren fünf Brüder, alle geborene `Finger', sie hielten sich stolz neben einander, obgleich sie von verschiedener Länge waren; der äußerste, der Däumling, war kurz und dick, er ging außen vor dem Gliede her, und dann hatte er nur Ein Gelenk im Rücken, er konnte nur Eine Verbeugung machen, aber er sagte, daß, wenn er von einem Menschen abgehauen würde, dieser dann zum Kriegsdienste untauglich sei. Der Topflecker kam in Süßes und Saures, zeigte nach Sonne und Mond, und er verursachte den Druck, wenn sie schrieben; der Langemann sah den andern über den Kopf; der Goldrand ging mit einem Goldreif um den Leib, und der kleine Peter Spielmann that gar nichts, und darauf war er stolz. Prahlerei war es und Prahlerei blieb es! und deshalb ging ich in die Gosse.''

``Nun sitzen wir hier und glänzen!'' sagte der Glasscherben. Gleichzeitig kam mehr Wasser in den Rinnstein, es strömte über die Grenzen und riß den Glasscherben mit sich fort.

``Sieh, nun wurde dieser befördert!'' sagte die Stopfnadel. ``Ich bleibe sitzen, ich bin zu fein, aber das ist mein Stolz, und der ist achtungswert!'' So saß sie stolz da und hatte viele Gedanken.

``Ich möchte fast glauben, daß ich von einem Sonnenstrahl geboren bin, so fein bin ich! Kommt mir es doch auch vor, als ob die Sonne mich immer unter dem Wasser aufsuche. Ach, ich bin so fein, daß meine Mutter mich nicht auffinden kann. Hätte ich mein altes Auge, welches abbrach, so glaube ich, ich könnte weinen; --- aber ich würde es nicht thun --- es ist nicht fein, weinen!''

Eines Tages kamen einige Straßenjungen und wühlten im Rinnstein, wo sie alte Nägel, Pfennige und dergleichen fanden. Das war kein schönes Geschäft und doch machte es ihnen Vergnügen.

``Au!'' sagte der eine, er stach sich an der Stopfnadel. ``Das ist auch ein Kerl!''

``Ich bin kein Kerl, ich bin ein Fräulein!'' sagte die Stopfnadel, aber niemand hörte es; der Siegellack war von derselben abgegangen und sie war schwarz und dünn geworden, und darum glaubte sie, daß sie noch feiner sei, als sie früher war.

``Da kommt eine Eierschale angesegelt!'' sagten die Jungen und steckten die Stopfnadel in die Schale.

``Weiße Wände und selbst schwarz,'' sagte die Stopfnadel, ``das kleidet gut! Nun kann man mich doch sehen! --- Wenn ich nur nicht seekrank werde!'' --- Aber sie wurde nicht seekrank.

``Es ist gut gegen die Seekrankheit, einen Stahlmagen zu haben und immer daran zu denken, daß man etwas mehr als ein Mensch ist! Nun ist es bei mir vorbei. Je feiner man ist, desto mehr kann man aushalten.''

``Krach!'' da lag die Eierschale, es ging ein Lastwagen über sie hin. ``Au, wie das drückt!'' sagte die Stopfnadel. ``Jetzt werde ich doch seekrank!'' Aber sie wurde es nicht, obgleich ein Lastwagen über sie wegfuhr, sie lag der Länge nach und --- da mag sie liegen bleiben.

Die Schnellläufer

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\AMsection{Die Schnellläufer}

Es war ein Preis ausgesetzt, ja, es waren zwei ausgesetzt, ein kleiner und ein großer, für die größte Schnelligkeit, aber nicht etwa bei einem Laufe, sondern über das ganze Jahr verteilt.

``Ich bekam den ersten Preis'' sagte der Hase; ``Gerechtigkeit muß doch sein, wenn die eigene Familie und gute Freunde mit im Rate sitzen; aber daß die Schnecke den zweiten Preis bekam, finde ich beinahe beleidigend für mich:''

``Nein,'' versicherte der Zaunpfahl, der bei der Preisverteilung Zeuge gewesen war, ``es muß auch Fleiß und guter Wille berücksichtigt werden, das wurde von mehreren achtbaren Personen gesagt, und das habe ich sehr wohl verstanden. Die Schnecke hat freilich ein halbes Jahr gebraucht, um über die Türschwelle zu kommen, aber sie hat sich den Schenkel bei der übereilten Arbeit, die es doch für sie war, gebrochen. Sie hat einzig und allein für den Lauf gelebt, und außerdem lief sie mit ihrem Hause. --- Das ist aller Achtung wert. Und deshalb bekam sie den zweiten Preis.''

``Ich hätte doch auch in Betracht gezogen werden können!'' sagte die Schwalbe. ``Hurtiger in Flug und Schwenkung, glaube ich, hat sich keiner bewiesen, und wo bin ich nicht überall gewesen: weit, weit, weit.''

``Ja, das ist eben Ihr Unglück'' sagte der Zaunpfahl, ``Sie bummeln zu viel herum. Immer wollen Sie weiter fort nach dem Auslande, wenn es hier zu frieren beginnt. Sie haben keine Vaterlandsliebe. Sie können nicht in Betracht kommen!''

``Aber wenn ich nun den ganzen Winter lang im Moore gelegen habe'' sagte die Schwalbe, ``und die ganze Zeit verschlafen hätte, käme ich dann in Betracht?''

``Schaffen Sie ein Attest von der Moorfrau herbei, daß Sie die halbe Zeit im Vaterland verschlafen haben, dann sollen Sie in Betracht gezogen werden!''

``Ich hätte freilich den ersten Preis verdient und nicht den zweiten'' sagte die Schnecke. ``Eins weiß ich genau, der Hase ist nur aus Feigheit gelaufen, jedesmal, wenn er glaubte, daß Gefahr drohe. Ich dagegen habe meinen Lauf als Lebensaufgabe aufgefaßt und bin im Dienste zum Krüppel geworden. Wenn überhaupt jemand den ersten Preis erhalten sollte, so wäre ich es! --- Aber ich mache kein Aufhebens davon, das verachte ich!''

Und dann spuckte sie.

``Ich kann mit Wort und Rede dafür gerade stehen, daß jeder Preis, wenigstens meine Stimme da zu, nur vom Gerechtigkeitsstandpunkte aus gegeben worden ist'' sagte das alte Landvermessungszeichen im Walde, das Mitglied des entscheidenden Richterkollegiums war. ``Ich gehe immer mit Ordnung, Überlegung und Berechnung zu Werke. Sieben Mal habe ich schon die Ehre gehabt, zur Preisverteilung herangezogen zu werden, aber außer heute habe ich noch niemals meinen Willen durchsetzen können. Bei jeder Verteilung bin ich von etwas Bestimmten ausgegangen. Beim ersten Preis habe ich bei den Buchstaben immer von vorne angefangen und beim zweiten Preis von rückwärts. Wollen Sie nun bemerken, daß, wenn man von vorne rechnet, der achte Buchstabe nach dem A das H ist, da haben wir den Hasen, und so stimmte ich beim ersten Preise für den Hasen; der achte Buchstabe von rückwärts ist das S, deshalb stimmte ich für die Schnecke bei der zweiten Prämie. Beim nächsten Male wird das I der erste und das R der zweiter --- jedes Ding muß seine Ordnung haben. Man muß immer etwas haben, wonach man sich richten kann.''

``Ich hätte für mich selbst gestimmt, wäre ich nicht einer der Richter gewesen,'' sagte der Maulesel, der auch unter den Preisrichtern war. ``Man soll nicht nur berücksichtigen, wie schnell man vorwärts kommt, sondern auch die anderen Eigenschaften, zum Beispiel, wie viel man ziehen kann. Das wollte ich dieses Mal nicht hervorheben, auch nicht die Klugheit des Hasen, bei seiner Flucht mit einem Mal einen Sprung zur Seite zu tun, um die Leute auf falsche Spur zu fahren. Nein, es gibt noch etwas, worauf viele Leute Wert legen, und was man keinesfalls außer acht lassen darf, das ist das, was man das Schöne nennt. Darauf habe ich hier gesehen, ich betrachtete die schönen, wohlgeformten Ohren des Hasen, es ist ein Vergnügen zu sehen, wie lang sie sind. Ich meinte schier, mich selbst zu erblicken, als ich noch klein war, und deshalb stimmte ich für ihm''

``Pst.'' sagte die Fliege, ``ich will keine Rede halten, ich will nur eben etwas sagen. Ich weiß, daß ich mehr als einen Hasen in Grund und Boden gelaufen habe. Neulich habe ich einem von den Jüngsten die Hinterbeine zerbrochen. Ich saß auf der Lokomotive vor dem Eisenbahnzuge, das tue ich oft, man kann dort seine eigene Schnelligkeit am besten beobachten. Ein junger Hase lief weit voraus, er ahnte nicht, daß ich da war. Zuletzt mußte er abschwenken, aber da hatte ihm die Lokomotive schon die Hinterbeine gebrochen, denn ich saß darauf. Der Hase blieb liegen, ich fuhr weiter. Das heißt doch wohl, ihn besiegen! Aber ich dränge mich nicht nach dem Preis.''

``Mir scheint eigentlich,'' dachte die wilde Rose, aber sie sprach es nicht aus, es liegt nicht in ihrer Natur, sich auszusprechen, obwohl es ganz gut gewesen wäre, wenn sie es getan hätte, ``mir scheint eigentlich, daß der Sonnenstrahl den ersten Ehrenpreis hätte bekommen müssen, und den zweiten dazu. Er fliegt in einem Augenblick den unermeßlichen Weg von der Sonne zu uns hinab und kommt mit einer Stärke, daß die ganze Natur dabei erwacht. Er ist von einer Schönheit, daß all wir Rosen erröten und zu duften anfangen. Die hohe urteilfällende Behörde scheint ihn gar nicht bemerkt zu haben! Wäre ich der Sonnenstrahl, so bekäme jeder von ihnen einen Sonnenstich --- aber das würde sie nur närrisch machen, übrigens werden sie es ohnedies werden. Ich sage nichts!'' dachte die wilde Rose. ``Frieden im Walde. Herrlich ist es zu blühen, zu duften, zu erquicken und in Sage und Sang fortzuleben. Der Sonnenstrahl überlebt uns doch alle zusammen!''

``Was ist der erste Preis?'' fragte der Regenwurm, der es verschlafen hatte, und jetzt erst dazu kam.

``Er besteht im freien Eintritt in einen Kohlgarten.'' sagte der Maulesel; ``ich habe diesen Preis vorgeschlagen. Der Hase mußte und sollte ihn bekommen, und deshalb nahm ich als vernüftig denkendes und handelndes Mitglied Rücksicht auf den Nutzen dessen, der ihn erhalten sollte. Nun ist der Hase versorgt. Die Schnecke hat Erlaubnis, auf der steinernen Mauer zu sitzen und sich an Moos und Sonnenschein zu delektieren; außerdem wurde sie zu einem der ersten Richter für den Schnellauf ernannt. Es ist immer gut, einen Fachmann mit im Komitee zu haben. Ich muß sagen, ich erwarte viel von der Zukunft, es hat schon so gut angefangen!''

Fünf aus einer Hülse

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\AMsection{Fünf aus einer Hülse}

Es waren einmal fünf Erbsen in einer Hülse; sie waren grün und die Hülse war auch grün, und deshalb glaubten sie, die ganze Welt sei grün, und das war ganz richtig. Die Hülse wuchs und die Erbsen wuchsen; sie streckten sich eben nach ihrer Decke. --- Alle standen schön in einer Reihe. --- Die Sonne schien draußen und wärmte die Hülse, und der Regen wusch sie sauber. Es war warm und gut da drinnen, hell am Tage und dunkel in der Nacht, eben wie es sein sollte, und die Erbsen wurden größer und immer nachdenklicher, wie sie so saßen, denn etwas mußten sie ja auch zu tun haben.

``Soll ich hier immer so sitzen bleiben?'' fragten sie. ``Wenn ich nur nicht hart von dem langen Sitzen werde! Ist es nicht gleichsam, als ob es auch draußen etwas gäbe; ich habe so eine Ahnung.''

Und Wochen vergingen; die Erbsen wurden gelb und die Hülse wurde gelb. ``Die ganze Welt wird gelb'', sagten sie, und das durften sie wohl sagen.

Plötzlich verspürten sie einen Ruck an der Hülse; sie wurde abgerissen, kam in Menschenhände und dann mit mehreren anderen Erbsenhülsen in eine Rocktasche hinein. --- ``Nun wird uns bald aufgeschlossen werden!'' sagten sie und warteten voller Spannung darauf.

``Nun möchte ich nur wissen, wer von uns es am weitesten bringt!'' sagte die kleinste Erbse. ``Ja, das wird sich nun bald zeigen!''

``Geschehe, was da wolle!'' sagte die größte.

``Krach'' da platzte die Hülse und alle fünf Erbsen rollten in den hellen Sonnenschein hinaus; sie lagen in einer Kinderhand, ein kleiner Knabe hielt sie fest und sagte, sie seien schöne Erbsen für seine Knallbüchse. Und gleich wurde eine Erbse in die Büchse gesteckt und weggeschlossen.

``Nun fliege ich in die weite Welt hinaus. Halt mich, wenn Du kannst!'' und dann war sie fort.

``Ich,'' sagte die zweite, ``fliege gleich mitten in die Sonne, das ist gerade die passende Hülse für mich.''

Weg war sie.

``Wir schlafen, wohin wir auch kommen!'' sagten die beiden nächsten; ``aber wir werden schon vorwärtskommen.'' Und dann rollten sie zuerst auf den Fußboden, ehe sie in die Knallbüchse kamen, aber hinein kamen sie. ``Wir bringen es am weitesten.''

``Geschehe, was da wolle'' sagte die letzte und wurde in die Luft geschossen. Und sie flog auf das alte Brett unter dem Dachkammerfenster, gerade in einen Spalt hinein, der mit Moos und hineingewehter Erde gefüllt war; und das Moos schloß sich über ihr. Dort lag sie verborgen, aber nicht von Gott vergessen.

``Geschehe, was da wolle!'' sagte sie.

In der kleinen Dachkammer wohnte eine arme Frau, die am Tage Öfen putzen, ja sogar Holz spalten ging und schwere Arbeit verrichten mußte, denn Kräfte hatte sie und fleißig war sie auch, aber sie blieb arm. Und zuhause in der kleinen Kammer lag ihre halberwachsene einzige Tochter, sie war ganz fein und zart; ein ganzes Jahr hatte sie nun im Bette gelegen und schien weder leben noch sterben zu können.

``Sie geht zu ihrer kleinen Schwester'' sagte die Frau. ``Ich hatte nur die zwei Kinder, und es war schwer genug für mich, für beide zu sorgen. Aber da teilte der liebe Gott mit mir und nahm die eine zu sich. Nun möchte ich freilich die andere gern behalten, die mir geblieben ist, aber er will vielleicht nicht, daß sie getrennt sind, und sie wird zu ihrer kleinen Schwester hinaufgehen.''

Aber das kranke Mädchen blieb; und geduldig und still lag sie den ganzen Tag, während die Mutter fort war, um Geld zu verdienen.

Es war um die Frühjahrszeit und noch frühe am Morgen, gerade als die Mutter zur Arbeit gehen wollte, Die Sonne schien so schön in das kleine Fenster hinein, und das kranke Mädchen blickte durch die unterste Glasscheibe hinaus. Was mag nur das Grüne sein, was dort durch die Scheibe hereinguckt? Es bewegt sich im Winde.

Und die Mutter ging ans Fenster und öffnete es ein wenig. ``Ach!'' sagte sie, ``das ist ja eine kleine Erbse, die da mit ihren grünen Blättchen heraussprießt. Wie kommt sie nur in die Spalte? Da hast Du ja einen kleinen Garten zum Anschauen.''

Das Bett der Kranken wurde näher ans Fenster gerückt, damit sie die sprossende Erbse sehen konnte, und die Mutter ging zur Arbeit.

``Mutter, ich glaube, ich werde gesund!'' sagte am Abend das kleine Mädchen. ``Die Sonne hat heute so warm zu mir hereingeschienen. Die kleine Erbse wächst so hübsch. Und ich werde sicherlich auch wachsen und wieder aufstehen und in den Sonnenschein hinauskönnen!''

``Wollte Gott, es wäre so'' sagte die Mutter, aber sie glaubte nicht daran. Doch der kleinen Pflanze, das ihrem Kinde frohe Lebensgedanken eingeflößt hatte, gab sie ein Hölzchen an die Seite, damit sie nicht vom Winde geknickt werden könne. Sie band einen Bindfaden am Brett fest und zog ihn hinauf bis an den Fensterrahmen, damit die Erbsenranke etwas habe, woran sie sich festhalten und emporranken könne, wenn sie wüchse. Und das tat sie auch. Jeden Tag konnte man sehen, wie sie wuchs.

``Nein, sie bekommt ja sogar Blüten'' sagte die Frau eines Morgens, und nun bekam auch sie Hoffnung und Glauben, daß ihr kleines krankes Mädchen wieder gesund würde. Es kam ihr in den Sinn, daß das Kind in letzter Zeit lebhafter gesprochen hatte, am vergangenen Morgen hatte es sich sogar selbst im Bette aufgerichtet und dagesessen und mit strahlenden Augen ihren kleinen Erbsengarten mit der einen einzigen Erbse darin angesehen. In einer Woche darauf war die Kranke zum ersten Male über eine Stunde auf. Glückselig saß sie im warmen Sonnenschein; das Fenster war geöffnet und draußen stand eine weißrote Erbsenblüte völlig aufgebrochen. Das kleine Mädchen neigte ihren Kopf nieder und küßte ganz leise die feinen Blättchen. Dieser Tag war für sie gleichsam ein Festtag.

``Der liebe Gott hat sie selbst gepflanzt und sie treiben lassen, um uns Hoffnung und Freude für Dich zu geben, mein liebes Kind, und für mich mit'' sagte die frohe Mutter und lächelte der Blume zu, wie einem Engel, den Gott zu ihr geschickt hatte.

Aber nun zu den anderen Erbsen, --- ja, die, die in die weite Welt hinausgeflogen war: ``Halte mich, wenn Du kannst!'' fiel in die Dachrinne und kam in einen Taubenkropf; dort lag sie wie Jonas im Walfisch. Die zwei Faulen brachten es ebensoweit, sie wurden auch von den Tauben verspeist, und dadurch brachten sie einen soliden Nutzen; aber die vierte, die in die Sonne hinauf wollte, die fiel in den Rinnstein und lag dort Wochen und Tage im schmutzigen Wasser, wo sie richtig aufquoll.

``Ich werde so furchtbar dick'' sagte die Erbse. ``Ich werde noch platzen, und weiter, glaube ich, kann es keine Erbse bringen und hat es wohl auch nie eine gebracht!''

Und der Rinnstein hielt es mit ihrer Ansicht.

Aber das junge Mädchen stand am Dachfenster mit leuchtenden Augen und dem Glanze der Gesundheit auf den Wangen, und sie faltete ihre feinen Hände über der Erbsenblüte und dankte Gott dafür.

``Ich halte es mit meiner Erbse,'' sagte der Rinnstein.

Die glückliche Familie

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\AMsection{Die glückliche Familie}

Das größte grüne Blatt hier zu Lande ist sicherlich das Klettenblatt; hält man es vor seinen kleinen Leib, so ist es gerade wie eine ganze Schürze, und legt man es auf seinen Kopf, dann ist es im Regenwetter fast ebenso gut wie ein Regenschirm, denn es ist ungeheuer groß. Nie wächst eine Klette allein, nein! Wo eine wächst, da wachsen auch mehrere, es ist eine große Herrlichkeit, und all' diese Herrlichkeit ist Schneckenspeise. Die großen weißen Schnecken, woraus vornehme Leute in früheren Zeiten Leckerbissen bereiten ließen, speisten und sagten: ``Hm! Schmeckt das prächtig!'' --- denn sie glaubten nun einmal, daß dieselben gut schmecken --- diese Schnecken lebten von Klettenblättern und deswegen wurden die Kletten gesäet.

Nun gab es da ein altes Rittergut, wo man keine Schnecken mehr speiste, diese waren beinahe ganz ausgestorben, aber die Kletten waren nicht ausgestorben, sie wuchsen über alle Gänge und Beete, man konnte ihrer nicht mehr Meister werden. Es war ein förmlicher Klettenwald, hin und wieder stand ein Apfel- und ein Pflaumenbaum, sonst hätte man gar nicht vermuten können, daß dies ein Garten gewesen sei. Alles war Klette und drinnen wohnten die beiden letzten steinalten Schnecken.

Sie wußten selbst nicht, wie alt sie waren, aber sie konnten sich sehr wohl erinnern, daß ihrer weit mehr gewesen, daß sie von einer Familie aus fremden Ländern abstammten und daß für sie und die Ihrigen der ganze Wald gepflanzt worden war. Sie waren nie aus demselben hinaus gekommen, aber sie wußten doch, daß es außerdem noch etwas in der Welt gab, was der Herrenhof hieß, und da oben wurde man gekocht, und dann wurde man schwarz, und dann wurde man auf eine silberne Schüssel gelegt, was aber dann weiter geschah, das wußten sie nicht. Wie das übrigens war, gekocht zu werden und auf einer silbernen Schüssel zu liegen, das konnten sie sich nicht denken, aber schön sollte es sein, und außerordentlich vornehm. Weder die Maikäfer, noch die Kröten oder die Regenwürmer, welche sie darum befragten, konnten ihnen Bescheid darüber geben; keiner von ihnen war gekocht worden oder hatte auf einer silbernen Schüssel gelegen.

Die alten, weißen Schnecken waren die vornehmsten in der Welt, das wußten sie; der Wald war ihrethalben da, und der Herrenhof war da, damit sie gekocht und auf eine silberne Schüssel gelegt werden konnten.

Sie lebten nun sehr einsam und glücklich, und da sie selbst keine Kinder hatten, so hatten sie eine kleine, gewöhnliche Schnecke angenommen, die sie wie ihr eigenes Kind erzogen; aber die Kleine wollte nicht wachsen, denn es war nur eine gewöhnliche Schnecke. Die Alten, besonders die Mutter, die Schneckenmutter, glaubte doch zu bemerken, daß sie zunahm, und sie bat den Vater, wenn er das nicht sehen könnte, so möge er doch nur das kleine Schneckenhaus anfühlen, und dann fühlte er und fand, daß die Mutter recht habe.

Eines Tages regnete es stark.

``Höre, wie es auf den Kletten tromme-romme-rommelt!'' sagte der Schneckenvater.

``Da kommen auch Tropfen!'' sagte die Schneckenmutter. ``Es läuft ja gerade am Stengel herab! Du wirst sehen, daß es hier naß werden wird. Ich bin froh, daß wir unsere guten Häuser haben und daß der Kleine auch eins hat! Für uns ist freilich mehr gethan, als für alle andern Geschöpfe, man kann also sehen, daß wir die Herren der Welt sind! Wir haben ein Haus von der Geburt ab und der Klettenwald ist unsertwegen gesäet! --- Ich möchte wohl wissen, wie weit er sich erstreckt und was außerhalb desselben ist!''

``Da ist nichts außerhalb!'' sagte der Schneckenvater. ``Besser als bei uns kann es nirgends sein, und ich habe nichts zu wünschen!''

``Ja,'' sagte die Schneckenmutter, ``ich möchte wohl nach dem Herrenhof kommen, gekocht und auf eine silberne Schüssel gelegt werden, das ist allen unsern Vorfahren widerfahren, und glaube mir, es ist ganz etwas Besonderes dabei!''

``Der Herrenhof ist vielleicht zusammengestürzt,'' sagte der Schneckenvater, ``oder der Klettenwald ist darüber hinweg gewachsen, sodaß die Menschen nicht herauskommen können. Übrigens hat das keine Eile, Du eilst immer gewaltig und der Kleine fängt auch schon damit an; er ist nun in drei Tagen an dem Stiel hinaufgekrochen, mir wird schwindlig, wenn ich zu ihm hinauf sehe!''

``Du mußt nicht schelten!'' sagte die Schneckenmutter. ``Er kriegt so besonnen; wir werden noch Freude an ihm erleben, und wir Alten haben ja nichts anderes, wofür wir leben können! Hast Du aber wohl daran gedacht, wo wir eine Frau für ihn hernehmen? Glaubst Du nicht, daß da weit hinein in den Klettenwald noch Jemand von unserer Art sein möchte?''

``Schwarze Schnecken, glaube ich, werden wohl da sein,'' sagte der Alte; ``schwarze Schnecken ohne Haus, aber das ist gemein, und doch sind sie stolz. Aber wir könnten die Ameisen damit beauftragen, die laufen hin und her, als ob sie etwas zu thun hätten, sie wissen sicher eine Frau für unsern Kleinen.''

``Ich weiß freilich die allerschönste,'' sagte eine der Ameisen, ``aber ich fürchte, es geht nicht, denn sie ist eine Königin!''

``Das schadet nichts!'' sagten die Alten. ``Hat sie ein Haus?''

``Sie hat ein Schloß,'' sagte die Ameise, ``das schönste Ameisenschloß mit siebenhundert Gängen.''

``Schönen Dank!'' sagte die Schneckenmutter. ``Unser Sohn soll nicht in einen Ameisenhaufen! Wißt Ihr nichts besseres, so geben wir den Auftrag den weißen Mücken, die fliegen bei Regen und Sonnenschein weit umher und kennen den Klettenwald von innen und außen.''

``Wir haben eine Frau für ihn!'' sagten die Mücken. ``Hundert Menschenschritte von hier sitzt auf einem Stachelbeerstrauch eine kleine Schnecke mit einem Hause, sie ist ganz allein, und alt genug, sich zu verheiraten. Es sind nur hundert Menschenschritte!''

``Ja, laßt sie zu ihm kommen,'' sagten die Alten, ``er hat einen Klettenwald, sie hat nur einen Strauch!''

Sie holten das kleine Schneckenfräulein. Es währte acht Tage, ehe sie eintraf, aber das war gerade das Vornehme dabei, daran konnte man sehen, daß sie von der rechten Art war.

Dann hielten sie Hochzeit. Sechs Johanniswürmer leuchteten so gut sie konnten; übrigens ging es im ganzen still zu, denn die alten Schnecken konnten Schwärmen und Lustbarkeiten nicht ertragen. Aber eine schöne Rede wurde von der Schneckenmutter gehalten; der Vater konnte nicht reden, er war zu bewegt, und dann gaben sie ihnen den ganzen Klettenwald zur Erbschaft und sagten, was sie immer gesagt hatten, daß es das beste in der Welt sei und wenn sie redlich und ordentlich lebten und sich vermehrten, dann würden sie und ihre Kinder einst nach dem Herrenhofe kommen, schwarz gekocht und auf eine silberne Schüssel gelegt werden.

Nachdem die Rede gehalten war, krochen die Alten in ihre Häuser und kamen nie wieder heraus; sie schliefen. Das junge Schneckenpaar regierte im Walde und erhielt eine große Nachkommenschaft, aber sie wurden nie gekocht und sie kamen nie auf eine silberne Schüssel, woraus sie den Schluß zogen, daß der Herrenhof zusammengestürzt sei und daß alle Menschen in der Welt ausgestorben seien, und da ihnen niemand widersprach, so mußte es ja wahr sein. Der Regen schlug auf die Klettenblätter, um für sie eine Trommelmusik zu veranstalten, und die Sonne schien, um den Klettenwald für sie zu beleuchten, und sie waren sehr glücklich und die ganze Familie war glücklich.

Es ist ein Unterschied

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\AMsection{Es ist ein Unterschied}

Es war im Monat Mai, der Wind blies noch kalt: aber der Frühling sei da, sagten Büsche und Bäume, Feld und Wiese. Es wimmelte von Blüten, und zwar bis oben in die Hecke hinauf. Und just dort verfocht der Frühling selbst seine Sache. Er sprach von einem kleinen Apfelbäumchen herab. Daran saß nur ein einziger Zweig, der war so frisch, so blühend und ganz übersät mit feinen, rosenroten Knospen, die sich eben öffnen wollten; er wußte auch selbst, wie schön er war, denn das liegt im Blatt ebenso wie im Blut. Deshalb war er auch nicht überrascht, als der herrschaftliche Wagen vor ihm auf dem Wege anhielt und die junge Gräfin sagte, daß der Apfelzweig das lieblichste sei, was man sehen könne, er sei der Frühling selbst in seiner herrlichsten Offenbarung. Und der Zweig wurde abgebrochen und sie hielt ihn in ihrer feinen Hand und beschattete ihn mit ihrem seidenen Sonnenschirme. So fuhren sie nach dem Schlosse, wo es hohe Säle und reichgeschmückte Zimmer gab. Lichte, weiße Vorhänge flatterten an den offenen Fenstern, und herrliche Blumen standen in glänzenden, durchsichtigen Vasen, und in einer von diesen, die wie aus frischgefallenem Schnee geschnitten glitzerte, wurde der Apfelzweig mitten zwischen frische, lichtgrüne Buchenzweige gesetzt; es war eine Lust, ihn anzuschauen!

Da wurde der Zweig stolz, und das war ja nur menschlich!

Es kamen vielerlei Leute durch die Zimmer, und je nach ihrer Geltung durften sie ihrer Bewunderung Ausdruck geben. Manche sagten gar nichts und manche sagten zu viel, und der Apfelzweig sah daraus, daß es einen Unterschied zwischen den Menschen gibt ebenso wie zwischen den Gewächsen. ``Manche sind zum Staat da, manche zur Nahrung und manche sind ganz überflüssig'' meinte der Apfelzweig, und da er just an das offene Fenster gesetzt worden war, von wo aus er in den Garten, aber auch auf das Feld hinaus sehen konnte, gab es für ihn Blumen und Pflanzen genug zum Betrachten und um sich Gedanken darüber zu machen. Da standen reiche und arme, einige allzu arme.

``Arme, verworfene Kräuter'' sagte der Apfelzweig, ``da ist wahrlich ein Unterschied gemacht! Wie müssen sie sich unglücklich fühlen, wenn sie überhaupt fühlen können wie ich und meinesgleichen. Da ist wahrlich ein Unterschied gemacht! Aber er muß ja auch gemacht werden, sonst ständen wir ja alle auf der gleichen Stufe.''

Und der Apfelzweig betrachtete mit einer Art Mitleid besonders eine Sorte von Blumen, die in großen Mengen an Feldern und Gräbern wuchsen. Niemand band sie zum Strauße, sie waren allzu gewöhnlich. Ja man konnte sie selbst zwischen den Pflastersteinen finden; sie schossen empor wie das ärgste Unkraut, und dann trugen sie zum Überfluß noch den häßlichen Namen ``Des Teufels Milchschläuche''.

``Armes, verachtetes Gewächs'' sagte der Apfelzweig. ``Du kannst nichts dafür, daß Du wurdest, was Du bist, daß Du so gewöhnlich bist und den häßlichen Namen bekamst, den Du trägst. Aber es ist mit den Gewächsen wie mit den Menschen: es müssen Unterschiede sein.''

``Unterschiede?'' sagte der Sonnenstrahl und küßte den blühenden Apfelzweig, aber er küßte auch die gelben Milchschläuche des Teufels, die Butterblumen draußen auf dem Felde, und alle Brüder des Sonnenstrahls küßten die Blumen, die armen wie die reichen.

Der Apfelzweig hatte noch nie über Gottes unendliche Liebe gegen alles, was da lebt und webt, nachgedacht, wie viel Schönes und Gutes verborgen aber nicht vergessen liegt --- aber das war ja nur menschlich!

Der Sonnenstrahl, der Strahl des Lichtes wußte es besser: ``Du siehst nicht weit, Du siehst nicht klar! --- Wo ist die verworfene Pflanze, die Du so besondere beklagst?''

``Die Milchschläuche des Teufels!'' sagte der Apfelzweig. ``Niemals werden sie in einen Strauß gebunden, sie werden mit Füßen getreten, es gibt zu viele davon und wenn sie Samen tragen, fliegen sie wie kleine Wollföckchen über die Wege hin und hängen sich den Leuten an die Kleider. Unkraut ist es! Aber das muß ja auch sein. --- Ich bin wirklich recht dankbar, daß ich nicht eine von diesen geworden bin!''

Über das Feld her kam eine ganze Schar Kinder. Das kleinste von ihnen war so winzig, daß es von den anderen getragen wurde, und als es ins Gras zwischen die gelben Blumen gesetzt wurde, jauchzte es vor Freuden laut auf, zappelte mit den kleinen Beinen, wälzte sich herum, pflückte nur die gelben Blumen und küßte sie in süßer Unschuld. Die etwas größeren Kinder brachen die Blüten von den hohlen Stengeln, bogen sie rund zu Ringen zusammen und reihten Glied an Glied, eine ganze Kette wurde daraus. Erst eine um den Hals, dann eine, die um Schultern und Leib gehängt wurde, und dann noch eine für Brust und Kopf. Es war wirklich eine Pracht mit des grünen Ketten und Bändern! Aber die größten Kinder nahmen vorsichtig die abgeblühten Stengel, die die flockenartig zusammengesetzte Samenkrone trugen. Diese lose, luftige Wollblume, die ein ganz zartes, kleines Kunstwerk wie aus den feinsten Federn, Flöckchen oder Daunen ist, hielten sie vor den Mund und versuchten, sie mit einem einzigen Hauch vollkommen abzublasen. Der, der es konnte, bekam neue Kleider, bevor noch das Jahr um war, hatte die Großmutter gesagt.

Die verachtete Blume wurde zu einem richtigen Propheten bei dieser Gelegenheit.

``Siehst Du'' sagte der Sonnenstrahl, ``siehst Du ihre Schönheit, ihre Macht?''

``Ja, für Kinder'' sagte der Apfelzweig.

Dann kam eine alte Frau auf das Feld und stach mit ihrem stumpfen, grifflosen Messer rings um die Wurzel der Blumen und zog sie heraus. Einige der Wurzeln wollte sie ihrem Kaffee zusetzen, andere wollte sie dem Apotheker als Heilmittel bringen und Geld damit verdienen.

``Schönheit ist doch etwas Höheres'' sagte der Apfelzweig. ``Nur die Auserwählten kommen in das Reich des Schönen! Es sind Unterschiede zwischen den Gewächsen, ebenso wie es Unterschiede zwischen den Menschen gibt.''

Und der Sonnenstrahl sprach von Gottes unendlicher Liebe zu allem Erschaffenen, zu allem, was Leben hat, und wie alles gleichmäßig in Zeit und Ewigkeit verteilt sei.

``Ja, das ist Ihre Meinung!'' sagte der Apfelzweig.

Da kamen Leute in das Zimmer und die junge Gräfin kam, sie, die den Apfelzweig in die schöne, durchsichtige Vase gestellt hatte, wo das Sonnenlicht auf ihn schien. Und sie brachte eine Blume oder was es sonst sein mochte, mit, die von drei, vier großen Blättern, die wie eine Tüte rund darum standen, beschützt wurde, damit kein Zug oder Windhauch sie verletzen konnte, und so vorsichtig wurde sie getragen, wie es nicht einmal mit dem feinen Apfelzweig geschehen war. Ganz sacht wurden nun die großen Blätter beiseite geschoben, und man sah die feine, flockige Samenkrone der gelben, verachteten Milchschläuche des Teufels. Sie war es, die so vorsichtig gepflückt und so sorgsam getragen worden war, damit nicht einer der feinen Federpfeile, die gleichsam ihre Nebelhülle bilden und so lose sitzen, abgeblasen würde.

Unversehrt und herrlich hatte sie die Blume nun hier und bewunderte ihre schönen Formen, ihre luftige Klarheit, ihre ganze eigenartige Zusammensetzung und ihre Schönheit, wenn die Krone vom Winde fortgetragen würde.

``Sieh nur, wie wunderbar schön der liebe Gott sie gemacht hat!'' sagte sie. ``Ich will sie mit dem Apfelzweige zusammen malen, der ist so unendlich schön für die Augen aller Menschen, aber auch diese arme Blume hat vom lieben Gott ebensoviel, nur auf eine andere Art, mitbekommen! So verschieden sind sie, und doch beide Kinder im Reiche der Schönheit.''

Und der Sonnenstrahl küßte die arme Blume und küßte den blühenden Apfelzweig, dessen Blüten dabei zu erröten schienen.

Das Wichtelmännchen und der Höker

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\AMsection{Das Wichtelmännchen und der Höker}

Es war einmal ein richtiger Student; er wohnte in der Dachkammer und besaß nichts. Und es war ein richtiger Höker, er wohnte im Parterre und besaß das ganze Haus, und zu ihm hielt sich das Wichtelmännchen, denn hier bekam es jeden Weihnachtsabend seine Schüssel Grütze mit einem großen Klumpen Butter darin! Das konnte der Höker geben; und das Wichtelmännchen blieb im Laden, das war recht lehrreich.

Eines Tages kam der Student durch die Hintertür, um in eigener Person sein Licht und seinen Käse einzukaufen. Er hatte niemand zum Schicken und deshalb ging er selbst. Er bekam, was er verlangte, er bezahlte es und der Höker und seine Frau nickten ihm Guten Abend zu. Das war eine Frau, die mehr konnte als nicken, sie hatte Redegaben. --- Und der Student nickte auch, blieb aber stehen und las ganz vertieft in dem Blatt Papier, das um den Käse gewickelt war. Es war ein Blatt, aus einem alten Buche gerissen, das nicht hätte in Stücke zerrissen werden dürfen, denn es war ein altes Buch voller Poesie.

``Da liegt noch mehr davon'' sagte der Höker, ``ich gab einer alten Frau ein paar Kaffeebohnen dafür; wenn Sie mir dafür acht Schilling geben wollen, sollen Sie den Rest haben.''

``Schönen Dank!'' sagte der Student, ``geben Sie es mir anstelle des Käse! Ich kann heute Abend unbelegtes Butterbrot essen! Es wäre ja sündhaft, wenn das ganze Buch entzwei gerissen werden sollte. Sie sind ein prächtiger Mann, ein praktischer Mann, aber auf Poesie verstehen Sie sich nicht mehr, als diese Bütte hier.''

Das war unartig gesagt, besonders gegen die Bütte, doch der Höker lachte und der Student lachte, denn es war ja halb im Scherze gesagt. Aber das Wichtelmännchen ärgerte sich, daß man solche Dinge einem Höker sagen durfte, der Hauswirt war und die beste Butter verkaufte.

Als es Nacht wurde, der Laden geschlossen und alle zu Bette gegangen waren bis auf den Studenten, ging das Wichtelmännchen hinein und nahm das Maulwerk der Hökersfrau, sie brauchte es ja nicht, während sie schlief. Wo in der Stube er es auf einen Gegenstand setzte, bekam dieser Sprache und konnte seine Gedanken und Gefühlen ebensogut aussprechen wie die Frau; aber nicht mehr als einer konnte es auf einmal haben, und das war ein Segen, denn sonst wären sie sich gegenseitig übers Maul gefahren.

Nun setzte das Wichtelmännchen das Maulwerk auf die Bütte, worin die alten Zeitungen lagen. ``Ist es wirklich wahr, daß Sie nicht wissen, was Poesie ist?''

``Ja, das weiß ich!'' sagte die Bütte, ``das ist so etwas, was in den Zeitungen unter dem Strich steht und ausgeschnitten wird. Ich glaube, daß ich mehr davon in mir habe als der Student, und doch bin ich nur eine geringe Bütte beim Höker.''

Und das Wichtelmännchen setzte das Maulwerk auf die Kaffeemühle, nein, wie es bei ihr ging! Und er setzte es auf das Butterfäßchen und die Geldschublade --- alle waren derselben Meinung wie die Bütte, und worüber die meisten sich einig sind, das muß man respektieren.

``Nun soll es der Student haben!'' damit ging das Wichtelmännchen ganz leise die Hintertreppe hinauf bis an die Dachkammer, wo der Student wohnte. Es war Licht drinnen, und das Wichtelmännchen guckte durch das Schlüsselloch und sah, daß der Student in dem zerfetzten Buche von unten las. Aber wie hell es da drinnen war. Aus dem Buche drang ein leuchtender Strahl hervor, er wurde zu einem Stamm, einem mächtigen Baum, der sich hoch erhob und seine Zweige weit über den Studenten hinbreitete. Jedes Blatt war frisch und jede Blüte ein schönes Mädchenantlitz mit Augen so dunkel und strahlend, und anderen blau und klar. Jede Frucht war ein leuchtender Stern und in den Zweigen sang und klang es so herrlich und wundersam!

Nein, solche Herrlichkeit hätte sich das kleine Wichtelmännchen niemals träumen lassen. Niemals hatte es Ähnliches vernommen. Und so blieb es auf den Zehenspitzen stehen und guckte und guckte, bis das Licht drinnen ausging. Der Student blies wohl seine Lampe aus und ging zu Bett, aber der kleine Wichtel stand noch immer da, denn der Gesang ertönte weiter und war so sanft und liebevoll wie ein Schlummerlied für den Studenten, der sich zur Ruhe legte.

``Hier ist es unsagbar schön'' sagte der kleine Wichtel, ``das hätte ich nicht erwartet! Ich glaube, ich werde bei dem Studenten bleiben'' --- und er dachte darüber nach --- dachte ganz vernünftig nach; dann seufzte er: ``Der Student hat keine Grütze'' --- und dann ging er --- Ja, dann ging er wieder hinab zu dem Höker. Und es war gut, daß er kam, denn die Bütte hatte das Maulwerk der Frau beinahe verbraucht, indem sie alles, was sie in sich aufgespeichert hatte, von der einen Seite von sich gab, und sie war gerade im Begriff, sich umzudrehen und es von der anderen Seite auch noch von sich zu geben, als das Wichtelmännchen kam und das Maulwerk wieder der Frau aufsetzte. Der ganze Laden jedoch, von der Geldschublade bis zum Brennholz hinab, richtete seit dieser Zeit seine Meinung nach der Bütte und achtete sie in einem solchen Grade und traute ihr soviel zu, daß von nun an, wenn der Höker in seiner Zeitung die Kunst- und Theatermitteilungen las, sie glaubten, daß sie von der Bütte herrührten.

Doch das kleine Wichtelmännchen saß nicht länger ruhig und lauschte all der Weisheit und dem Verstande hier unten, nein, sobald das Licht aus der Bodenkammer schimmerte, war es gerade, als seien die Lichtstrahlen ein starkes Ankertau, das ihn hinaufzog.

Und er mußte laufen und durch das Schlüsselloch gucken, und dort umbrauste ihn dann eine Größe, wie wir sie am rollenden Meere fühlen, wenn Gott im Sturme darüber hingeht, und er brach in Tränen aus; er wußte selbst nicht, weshalb er weinte, aber es waren so wohltuende Tränen. --- Wie unvergleichlich schön mußte es sein, mit dem Studenten unter dem Baume zu sitzen, aber es sollte nicht sein, er war ja auch schon froh am Schlüsselloche. Dort stand er noch auf dem Gange, als der Herbstwind zu den Bodenluken hereinblies, und es war so kalt, so kalt, aber das fühlte der Kleine erst, wenn das Licht drinnen in der Dachkammer ausging und die Töne im Winde ersterben. Hu, dann fror er und kroch wieder hinunter in sein warmes Eckchen; dort war es angenehm und behaglich. Und als die Weihnachtsgrütze mit einem großen Klumpen Butter kam, ja, da war der Höker Meister.

Aber mitten in der Nacht erwachte das Wichtelmännchen durch ein fürchterliches Gepolter an den Fensterläden. Die Leute donnerten von außen dagegen, der Wächter pfiff, es war eine große Feuersbrunst; die ganze Straße glühte lichterloh. War es hier im Hause oder bei den Nachbarn? Wo? Das war ein Entsetzen. Die Hökersfrau war so bestürzt, daß sie ihre goldenen Ohrringe aus den Ohren nahm und sie in die Tasche steckte, um doch etwas zu retten. Der Höker lief zu seinen Obligationen und das Dienstmädchen nach seiner Seidenmantille, die zu kaufen ihr kürzlich ihre Mittel gestattet hatten. Jeder wollte das Beste retten, und das wollte auch der kleine Wichtel. In ein paar Sprüngen war er die Treppe hinauf und beim Studenten drinnen, der ganz ruhig am offenen Fenster stand und auf das Feuer herabsah, das im gegenüberliegenden Hause ausgebrochen war. Der kleine Wichtel griff nach dem wunderbaren Buche auf dem Tisch, steckte es in seine rote Kappe und hielt es mit beiden Händen fest. Des Hauses bester Schatz war gerettet! Und dann rannte er davon, aufs Dach und ganz oben auf den Schornstein hinauf, und dort saß er dann, von dem brennenden Hause gegenüber beleuchtet, und beide Hände fest um seine rote Kappe gepreßt, worin der Schatz lag. Nun erkannte er sein innerstes Herz und wem er eigentlich zugehörte, als jedoch später das Feuer gelöscht war und er seine Besinnung wiederfand, ja, da sagte er: ``Ich will mich zwischen sie teilen. Ich kann mich von dem Höker nicht ganz lossagen, wegen der Grütze.''

Und das war ja auch ganz menschlich! --- Wir anderen gehen ja auch zum Höker -- wegen der Grütze.

Der letzte Tag

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\AMsection{Der letzte Tag}

Der heiligste von allen unseren Lebenstagen ist der Tag, an dem wir sterben; das ist der letzte Tag, der heilige, große Tag der Verwandlung. Hast Du schon einmal von rechtem Ernste erfüllt über diese mächtige, und allen gewisse letzte Stunde auf Erden nachgedacht?

Da war einmal ein Mann, ein Strenggläubiger, wie er genannt wurde, ein Streiter für das Wort, das ihm Gesetz war, ein eifernder Diener eines eifernden Gottes. --- Nun stand der Tod an seinem Bette. Der Tod mit seinem strengen himmlischen Antlitz.

``Die Stunde ist gekommen, da Du mir folgen sollst!'' sagte der Tod; er berührte mit seinen eiskalten Händen seine Füße und sie erstarrten; der Tod berührte seine Stirn, und dann sein Herz, und es brach bei der Berührung und die Seele folgte dem Engel des Todes.

Aber in den wenigen Sekunden vorher, während der Weihe vom Fuße über die Stirn bis zum Herzen, brauste, wie eines Meeres große, schwere Woge, alles, was das Leben gebracht und erweckt hatte, über den Sterbenden dahin. So sieht man mit einem Blick hinab in die schwindelnde Tiefe und erfaßt mit einem blitzartigen Gedanken den unübersehbaren Weg, so sieht man mit einem Blick das zahllose Sternengewimmel, erkennt Körper und Welten im weiten Raume.

In solchem Augenblick schaudert der entsetzte Sünder und hat nichts, auf das er sich stützen könnte, es ist, als sänke er tief in eine unendliche Leere. Aber der Fromme birgt sein Haupt in Gottes Schoß und ergibt sich ihm wie ein Kind: ``Dein Wille geschehe mit mir.''

Doch dieser Sterbende hatte nicht eines Kindes Sinn; er fühlte, daß er Mann war. Er schauderte nicht wie der Sünder, er wußte, er war ein Rechtgläubiger. Die Gesetze der Religion hatte er in all ihrer Strenge erfüllt. Millionen, wußte er, mußten den breiten Weg der Verdammnis beschreiten; mit Schwert und Feuer hätte er ihren Leib hier zerstören mögen, wie ihre ganze Seele es bereits war und ewig bleiben würde! Sein Weg ging nun gen Himmel, wo ihm die Gnade die Tore öffnen würde, die verheißene Gnade.

Und die Seele ging mit dem Engel des Todes, aber einmal noch blickte sie zurück zu dem Lager, wo ihre irdische Hülle in dem weißen Totenhemd lag. Ein fremder Abdruck ihres Ich. --- Und sie flogen und sie gingen --- es war wie in einer mächtigen Halle und doch wie in einem Walde. Die Natur war beschnitten, gespannt, aufgebunden und in Reihen gestellt, verkünstelt, wie in den alten französischen Gärten; es war eine Maskerade.

``So ist das Menschenleben'' sagte der Engel des Todes.

Alle Gestalten waren mehr oder weniger vermummt; es waren nicht immer die edelsten und mächtigsten, die mit Samt und Gold bekleidet waren, und es waren nicht die niedrigsten und geringsten, die in den Armeleutekleidern steckten. --- Es war eine wunderliche Maskerade. Ganz besonders seltsam war es zu sehen, wie jeder unter seinen Kleidern sorgfältig etwas vor dem anderen verbarg; aber der eine riß am anderen, bis es zum Vorschein kam, und da sah man den Kopf eines Tieres hervorkommen; bei dem einen war es ein grinsender Affe, bei einem anderen ein häßlicher Ziegenbock, eine feuchte Schlange oder ein matter Fisch.

Es war das Tier, das wir alle in uns tragen, das Tier, das in jedem Menschen mit ihm zugleich wächst, und es hüpfte und sprang und wollte heraus, aber jeder hielt die Kleider fest darüber. Die anderen jedoch zerrten sie beiseite und riefen: ``Siehst Du, sieh, das ist sie.'' Und einer entblößte des anderen Erbärmlichkeit.

``Und welches Tier war in mir?'' fragte die wandernde Seele; und der Engel des Todes zeigte auf eine stolze Gestalt vor ihnen, um deren Haupt eine buntschillernde Glorie sich zeigte. Aber am Herzen des Mannes verbargen sich die Füße des Tieres, eines Pfauen Füße; der Glorienschein war nur des Vogels bunter Schweif.

Und als sie weiter wanderten, schrieen große Vögel widerlich kreischend von den Zweigen der Baume; mit deutlich vernehmbaren Menschenstimmen kreischten sie: ``Du Wanderer des Todes, denkst Du an mich?'' --- Das waren alle die bösen Gedanken und Begierden aus den Tagen seines Lebens, die ihm jetzt zuriefen: ``Denkst Du an mich?'' ---

Und die Seele schauderte einen Augenblick, denn sie erkannte die Stimmen, die bösen Gedanken und Begierden, die hier als Zeugen auftraten.

``In unserem Fleisch, in unserer bösen Natur wohnt das Gute nicht'' sagte die Seele, ``aber die Gedanken wurden bei mir nicht zu Taten, die Welt hat ihre böse Frucht nicht gesehen!'' Und sie eilte vorwärts, um dem widerlichen Geschrei zu entgehen, aber die großen schwarzen Vögel umschwebten sie rings im Kreise und schrien und kreischten, als solle es über die ganze Welt gehört werden. Sie sprang wie die gejagte Hindin, und bei jedem Schritt stieß sie mit dem Fuße auf scharfe Feuersteine, die die Füße zerschnitten, daß es schmerzte. ``Woher kommen diese scharfen Steine? Wie welkes Laub liegen sie auf der Erde.''

``Das ist jedes unvorsichtige Wort, das Du fallen ließest und das Deines Nächsten Herz weit tiefer versehrte, als jetzt die Steine Deinen Fuß.''

``Das habe ich nicht bedacht!'' sagte die Seele.

``Richtet nicht, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet!'' erklang es durch die Luft. ``Wir haben alle gesündigt!'' sagte die Seele und erhob sich wieder. ``Ich habe das Gesetz und das Evangelium gehalten, ich habe getan, was ich tun konnte, ich bin nicht wie die anderen.''

Und sie standen an der Himmelspforte, und der Engel, der Hüter des Eingangs, fragte: ``Wer bist Du? Bekenne mir Deinen Glauben und zeige ihn mir in Deinen Taten!''

``Ich habe alle Gebote strenge erfüllt. Ich habe mich vor den Augen der Welt gedemütigt, ich habe das Böse und die Bösen gehaßt und verfolgt, sie, die auf dem breiten Weg zur ewigen Verdammnis schreiten, und das will ich noch jetzt mit Feuer und Schwert, wenn ich die Macht dazu habe.''

``Du bist also einer von Mohammeds Bekennern!'' sagte der Engel.

``Ich? --- Niemals.''

``Wer zum Schwerte greifet, soll durch das Schwert umkommen, sagt der Sohn! Seinen Glauben hast Du nicht. Bist Du vielleicht ein Sohn Israels, der mit Moses spricht: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ein Sohn Israels, dessen eifernder Gott nur Deines Volkes Gott ist?''

``Ich bin ein Christ!''

``Das erkenne ich weder in Deinem Glauben noch in Deinen Taten. Christi Lehre ist Versöhnung, Liebe und Gnade.''

``Gnade!'' erklang es durch den unendlichen Raum und die Himmelspforte öffnete sich und die Seele schwebte der offenen Herrlichkeit entgegen.

Aber das Licht, das herausströmte, war so blendend, so durchdringend, daß die Seele zurückwich wie vor einem gezogenen Schwerte. Die Töne erklangen so weich und ergreifend, wie keine irdische Zunge es wiedergeben kann, und die Seele bebte und beugte sich tiefer und immer tiefer; doch die himmlische Klarheit durchdrang sie und sie fühlte und empfand, was sie niemals zuvor gefühlt hatte, die Bürde ihres Hochmutes, ihrer Härte und Sünde. --- Es wurde licht in ihr.

``Was ich Gutes tat in der Welt, das tat ich, weil ich nicht anders konnte, aber das Böse --- das kam aus mir selbst!''

Und die Seele fühlte sich von dem reinen, himmlischen Lichte geblendet; ohn\-mäch\-tig versank sie, so schien es ihr, in sich selbst verkrümmt in die Tiefe. Gebeugt, unreif für das Himmelreich und mit den Gedanken bei dem strengen, gerechten Gott, wagte sie nicht hervorzustammeln: ``Gnade.''

Und nun war die Gnade da, die nicht erwartete Gnade.

Gottes Himmel war überall im unendlichen Raum, Gottes Liebe durchströmte ihn in unerschöpflicher Fülle.

``Werde heilig, herrlich, liebreich und ewig, o Menschenseele!'' klang es und sang es. Und alle, alle sollten wir an unseres irdischen Lebens letztem Tage, wie die Seele hier, zurückbeben vor des Himmelreichs Glanz und Herrlichkeit, sollten uns beugen und tief und demütig niedersinken und doch getragen von seiner Liebe, seiner Gnade, aufrecht erhalten werden, schwebend in neuen Bahnen, geläutert, edler und besser, und immer näher des Lichtes Herrlichkeit, bis wir, von ihm gestärkt, Kraft erhalten, um zur ewigen Klarheit emporzusteigen.

Der kleine Tuk

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\AMsection{Der kleine Tuk}

Ja, das war der kleine Tuk; er hieß eigentlich nicht Tuk, aber zu der Zeit, als er noch nicht richtig sprechen konnte, da nannte er sich selbst Tuk; das soll Karl bedeuten, und es ist gut, wenn man das weiß; er sollte auf seine Schwester Marie achtgeben, die noch viel kleiner als er war, und dann sollte er auch seine Aufgabe lernen, aber beides wollte nicht auf einmal gehen. Der Knabe faß mit seiner kleinen Schwester auf dem Schoß und sang alle die Lieder, die er wußte und inzwischen schielten die Augen nach dem Geographiebuche, welches offen vor ihm lag; er sollte bis morgen alle Städte von Seeland mit ihren Merkwürdigkeiten hersagen können.

Nun kam seine Mutter nach Hause und nahm die kleine Marie; Tuk lief ans Fenster und las, daß er sich fast die Augen ausgelesen hätte, denn es wurde schon dunkel, aber die Mutter hatte nicht die Mittel, Licht zu kaufen.

``Da geht die alte Waschfrau drüben aus der Gasse!'' sagte die Mutter, indem sie aus dem Fenster blickte. ``Sie kann sich kaum selbst schleppen und doch muß sie den Eimer vom Brunnen tragen; spring' hinaus, kleiner Tuk, sei ein guter Junge und hilf der alten Frau!''

Tuk sprang sogleich hin und half; da er aber wieder zurückkam, war es ganz finster geworden, und von Licht war keine Rede. Nun sollte er ins Bett, das war eine alte Schlafbank; in dieser lag er und dachte an seine Geographieaufgabe und an alles, was der Lehrer erzählt hatte. Es hätte freilich gelesen werden müssen, aber das konnte er nun doch nicht. Das Geographiebuch steckte er unter das Kopfkissen, denn er hatte gehört, daß das bedeutend helfe, um seine Aufgabe zu behalten; aber darauf kann man sich nicht verlassen.

Da lag er nun und dachte, und da war es auf einmal, als wenn ihn jemand auf Augen und Mund küßte; er schlief und schlief doch auch nicht, es war gerade, als ob die alte Waschfrau ihn mit ihren sanften Augen anblickte und zu ihm sagte: ``Es würde eine große Schande sein, wenn Du Deine Aufgabe nicht gelernt hättest! Du hast mir geholfen, jetzt werde ich Dir helfen, und der liebe Gott wird es immer thun.''

Und mit einem Male kribbelte und krabbelte das Buch unter dem Kopf des kleinen Tuk.

``Kikeriki! put put!'' das war eine Henne und die kam aus Kjöge. ``Ich bin eins von den Hühnern aus Kjöge!'' Und dann sagte sie, wie viele Einwohner dort seien, und sprach von der Schlacht, die dort geliefert worden sei, und die war gar nicht der Rede wert.

``Kribbel, krabbel, bums!'' da fiel einer; das war ein hölzerner Vogel, der jetzt ankam; es war der Papagei vom Vogelschießen in Prästo. Der sagte, daß dort eben soviel Einwohner seien, als er Nägel im Leibe habe; und er war recht stolz: ``Thorwaldsen hat bei mir an der Ecke gewohnt. Bums! Ich liege herrlich!''

Aber der kleine Tuk lachte nicht, er war auf einmal zu Pferde. Im Galopp, im Galopp ging es. Ein prächtig gekleideter Ritter mit glänzendem Helm und wallendem Federbusch hatte ihn vor sich auf dem Pferde, und sie ritten durch den Wald nach der alten Stadt Vordingborg, und dieses war eine große lebhafte Stadt; hohe Türme prangten auf der Königsburg, und die Lichter leuchteten weit durch die Fenster hinaus; drinnen war Gesang und Tanz! König Waldemar und geputzte junge Hoffräulein tanzten mit einander. --- Es wurde Morgen und sowie die Sonne erschien, sank die Stadt und das Schloß des Königs zusammen, ein Turm nach dem andern, zuletzt stand nur noch ein einziger auf dem Hügel, wo das Schloß gestanden hatte, und die Stadt war klein und arm, und die Schulknaben kamen mit ihren Büchern unter dem Arm und sagten: ``Zweitausend Einwohner,'' aber das war nicht wahr, soviel waren da nicht.

Und der kleine Tuk lag in seinem Bette, es war ihm, als ob er träumte und doch wieder nicht träumte; aber es war jemand dicht neben ihm.

``Kleiner Tuk, kleiner Tuk!'' sprach es; das war ein Seemann, eine ganz kleine Figur, als wenn es ein Kadett wäre. ``Ich soll vielmals grüßen von Corsör. Das ist eine Stadt, welche im Aufblühen ist; es ist eine lebhafte Stadt, sie hat Dampfschiffe und Postwagen; früher wurde sie immer häßlich genannt, aber das war eine veraltete Ansicht.'' --- ``Ich liege am Meer,'' sagte Corsör; ``ich besitze Landstraßen und Lufthaine, und ich habe einen Dichter geboren, der belustigend war, und das sind sie nicht alle. Ich habe ein Schiff zur Fahrt rings um die Erde aussenden wollen, ich that es nicht, hätte es aber thun können, und dann dufte ich herrlich, dicht am Thore blühen die schönsten Rosen!''

Der kleine Tnk sah dieselben, es wurde ihm rot und grün vor den Augen, als aber Ruhe in das Farbenspiel kam, da war es ein großer, waldbewachsener Abhang dicht bei dem klaren Meerbusen; und hoch oben lag eine prächtige, alte Kirche mit zwei hohen, spitzen Kirchtürmen. Aus dem Abhange sprangen die Quellen in dicken Wasserstrahlen hervor, sodaß es plätscherte und dicht daneben stand ein alter König mit einer goldenen Krone auf seinem langen Haar, das war der König Hroar bei den Quellen, bei der Stadt Roeskilde (Roesquelle), wie man sie jetzt nennt. Und über den Abhang hin gingen alle Könige und Königinnen Dänemarks Hand in Hand, alle mit den goldenen Kronen auf dem Kopfe, in die alte Kirche, und die Orgel spielte und die Quellen rieselten. Der kleine Tuk sah alles, hörte alles. ``Vergiß die Stände nicht!'' sagte der König Hroar.

Auf einmal war alles wieder fort; ja, wo war es geblieben? Es war gerade, als ob man ein Blatt in einem Buche umschlägt. Und nun stand eine alte Frau da, es war eine Jäterin, sie kam von Sorö, wo Gras auf dem Markte wächst. Sie hatte ihre graue Leinwandschürze über den Kopf und den Rücken hinabhängen; diese war naß, es mußte geregnet haben. ``Ja, geregnet hat es!'' sagte sie und dann erzählte sie manches belustigende aus Holbergs Komödien und wußte von Waldemar und Absalon; aber auf einmal schrumpfte sie zusammen und wackelte mit dem Kopf; es war gerade, als ob sie springen wollte. ``Koax!'' sagte sie, ``es ist naß, es ist Todenstille in Sorö!'' Sie war auf einmal ein Frosch, ``Koax!'' und dann war sie wieder die alte Frau. ``Man muß sich nach der Witterung kleiden!'' sagte sie. ``Es ist naß, es ist naß! Meine Stadt ist gerade wie eine Flasche; beim Pfropfen muß man hinein, und da muß man auch wieder hinaus! Ich habe früher Fische gehabt, und jetzt habe ich frische, rotwangige Knaben auf dem Boden der Flasche; da lernen sie Weisheit: Griechisch! Griechisch! Koax!'' Das klang gerade, als ob die Frösche quakten oder als ob man mit großen Stiefeln im Moorwasser geht. Es war immer derselbe Laut, so einförmig, so langweilig, so ermüdend, daß der kleine Tuk fest einschlief und das that ihm wohl.

Aber auch in diesem Schlaf kam ein Traum, oder was es sonst war; seine kleine Schwester Marie mit den blauen Augen und den gelben, gelockten Haaren war auf einmal ein erwachsenes schönes Mädchen, und ohne Flügel zu haben, konnte sie fliegen, und sie flogen über Seeland, über die grünen Wälder und die blauen Gewässer dahin.

``Hörst Du die Hühner krähen, kleiner Tuk? Kikeriki! Die Hühner fliegen aus der Stadt Kjöge auf! Du bekommst einen Hühnerhof, Du wirst weder Hunger noch Not leiden! Den Vogel wirst Du abschießen, wie man sagt, Du wirst ein reicher und glücklicher Mann werden! Dein Haus wird stolz prangen wie der Turm Waldemars, und reich wird es gebaut werden mit Statuen von Marmor, gleich denen von Prästo, Du verstehst mich wohl! Dein Name wird mit Ruhm weit durch die Welt fliegen, wie das Schiff, welches von Corsör hätte ausgehen sollen, und in der Stadt Roeskilde --- `gedenke der Stände!' sagte der König Hroar --- da wirst Du gut und klug sprechen, kleiner Tuk, und wenn Du dann einst in Dein Grab kommst, dann sollst Du so ruhig schlummern --- ''

``Als ob ich in Sorö läge!'' sagte Tuk, und dann erwachte er; es war heller Morgen, er konnte sich nicht des mindesten von seinem Traum erinnern, aber das sollte er auch nicht, denn man darf nicht wissen, was geschehen wird.

Er sprang aus dem Bette und las in seinem Buch, und da wußte er seine Aufgabe sogleich. Die alte Waschfrau steckte den Kopf zur Thüre herein und sagte:

``Schönen Dank für Deine Hülfe gestern, Du liebes Kind! Der liebe Gott lasse Deinen besten Traum in Erfüllung gehen!''

Der kleine Tuk wußte gar nicht, was er geträumt hatte, aber der liebe Gott wußte es.

Der Schweinehirt

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\AMsection{Der Schweinehirt}

Es war einmal ein armer Prinz; er hatte ein Königreich, welches ganz klein war, aber es war immer groß genug, um sich darauf zu verheiraten, und verheiraten wollte er sich.

Nun war es freilich etwas keck von ihm, daß er zur Tochter des Kaisers zu sagen wagte: ``Willst Du mich haben?'' Aber er wagte es doch, denn sein Name war weit und breit berühmt; es gab hundert Prinzessinnen, die gerne ja gesagt hätten; aber ob sie es that?

Nun wir wollen hören.

Auf dem Grabe des Vaters des Prinzen wuchs ein Rosenstrauch, ein herrlicher Rosenstrauch; der blühte nur jedes fünfte Jahr und trug dann auch nur eine einzige Blume, aber das war eine Rose, die duftete so süß, daß man alle seine Sorgen und seinen Kummer vergaß, wenn man daran roch. Der Prinz hatte auch eine Nachtigall, die konnte singen, als ob alle schönen Melodien in ihrer Kehle säßen. Diese Rose und die Nachtigall sollte die Prinzessin haben, und deshalb wurden sie beide in große silberne Behälter gesetzt und ihr zugesandt.

Der Kaiser ließ sie vor sich her in den großen Saal tragen, wo die Prinzessin war und ``Es kommen Fremde'' mit ihren Hofdamen spielte; als sie die großen Behälter mit den Geschenken darin erblickte, klatschte sie vor Freude in die Hände.

``Wenn es doch eine kleine Mitzekatze wäre!'' sagte sie, aber da kam der Rosenstrauch mit der herrlichen Rose hervor.

``Wie niedlich sie gemacht ist!'' sagten alle Hofdamen.

``Sie ist mehr als niedlich,'' sagte der Kaiser, ``sie ist schön!''

Aber die Prinzessin befühlte sie, und da war sie nahe daran, zu weinen.

``Pfui, Papa!'' sagte sie; ``sie ist nicht künstlich, sie ist natürlich!''

``Pfui,'' sagten alle Hofdamen, ``sie ist natürlich!''

``Laßt uns nun erst sehen, was in dem andern Behälter ist, ehe wir böse werden!'' meinte der Kaiser, und da kam die Nachtigall heraus, die so schön sang, daß man nicht gleich etwas Böses gegen sie vorbringen konnte.

{\em ``Superbe! Charmant!''} sagten die Hofdamen, denn sie plauderten alle französisch, eine immer ärger als die andere.

``Wie der Vogel mich an die Spieldose der seligen Kaiserin erinnert!'' sagte ein alter Kavalier; ``ach ja, das ist derselbe Ton, derselbe Vortrag!''

``Ja!'' sagte der Kaiser, und dann weinte er wie ein kleines Kind.

``Es wird doch hoffentlich kein natürlicher sein?'' sagte die Prinzessin.

``Ja, es ist ein natürlicher Vogel!'' sagten die, welche ihn gebracht hatten.

``So laßt den Vogel fliegen,'' sagte die Prinzessin, und sie wollte nicht gestatten, daß der Prinz komme.

Aber dieser ließ sich nicht einschüchtern. Er bemalte sich das Antlitz mit Braun und Schwarz, drückte die Mütze tief über den Kopf und klopfte an.

``Guten Tag, Kaiser!'' sagte er. ``Könnte ich nicht hier auf dem Schlosse einen Dienst bekommen?''

``Jawohl!'' sagte der Kaiser. ``Ich brauche jemand, der die Schweine hüten kann, denn deren haben wir viele.''

So wurde der Prinz angestellt als kaiserlicher Schweinehirt. Er bekam eine jämmerlich kleine Kammer unten bei den Schweinen und da mußte er bleiben; aber den ganzen Tag saß er und arbeitete, und als es Abend war, hatte er einen niedlichen, kleinen Topf gemacht; rings um denselben waren Schellen, und sobald der Topf kochte, klingelten sie schön und spielten die alte Melodie:

\AMquote{
        Ach, du lieber Augustin, \\
        Alles ist weg, weg, weg!
}

Aber das Allerkünstlichste war, daß, wenn man den Finger in den Dampf des Topfes hielt, man sogleich riechen konnte, welche Speisen auf jedem Feuerherd in der Stadt zubereitet wurden. Das war wahrlich etwas ganz anderes als die Rose!

Nun kam die Prinzessin mit allen ihren Hofdamen daherspaziert, und als sie die Melodie hörte, blieb sie stehen und sah ganz erfreut aus; denn sie konnte auch ``Ach, du lieber Augustin'' spielen. Das war das einzige, was sie konnte, aber das spielte sie mit einem Finger.

``Das ist ja das, was ich kann!'' sagte sie. ``Dann muß es ein gebildeter Schweinehirt sein! Höre, gehe hinunter und frage ihn, was das Instrument kostet!''

Da mußte eine der Hofdamen hineingehen, aber sie zog Holzpantoffeln an.

``Was willst Du für den Topf haben?'' fragte die Hofdame.

``Ich will zehn Küsse von der Prinzessin haben!'' sagte der Schweinehirt.

``Gott bewahre uns!'' sagte die Hofdame.

``Ja, anders thue ich es nicht!'' antwortete der Schweinehirt.

``Er ist unartig!'' sagte die Prinzessin, und dann ging sie; aber als sie ein kleines Stück gegangen war, erklangen die Schellen so lieblich:

\AMquote{
        Ach, du lieber Augustin, \\
        Alles ist weg, weg, weg!
}

``Höre,'' sagte die Prinzessin, ``frage ihn, ob er zehn Küsse von meinen Hofdamen will!''

``Ich danke schön,'' sagte der Schweinehirt; ``zehn Küsse von der Prinzessin oder ich behalte meinen Topf.''

``Was ist das doch für eine langweilige Geschichte!'' sagte die Prinzessin. ``Aber dann müßt Ihr vor mir stehen, damit es niemand sieht!''

Die Hofdamen stellten sich davor, und breiteten ihre Kleider aus, und da bekam der Schweinehirt zehn Küsse, und sie erhielt den Topf.

Nun, das war eine Freude! Den ganzen Abend und den ganzen Tag mußte der Topf kochen; es gab nicht einen Feuerherd in der ganzen Stadt, von dem sie nicht wußten, was darauf gekocht wurde, sowohl beim Kammerherrn wie beim Schuhflicker. Die Hofdamen tanzten und klatschten in die Hände.

``Wir wissen, wer süße Suppe und Eierkuchen essen wird, wir wissen, wer Grütze und Braten bekommt! Wie schön ist doch das!''

``Ja, aber haltet reinen Mund, denn ich bin des Kaisers Tochter!''

``Jawohl, jawohl!'' sagten alle.

Der Schweinehirt, das heißt der Prinz --- aber sie wußten es ja nicht anders, als daß er ein wirklicher Schweinehirt sei --- ließ die Tage nicht verstreichen, ohne etwas zu thun, und da machte er eine Knarre, wenn man diese herumschwang, erklangen alle die Walzer und Hopser, die man von Erschaffung der Welt an kannte.

``Ach, das ist {\em superbe}'', sagte die Prinzessin, indem sie vorbei ging. ``Ich habe nie eine schönere Musik gehört! Höre, gehe hinein und frage ihn, was das Instrument kostet, aber ich küsse nicht wieder!''

``Er will hundert Küsse von der Prinzessin haben!'' sagte die Hofdame, welche hineingegangen war, um zu fragen.

``Ich glaube, er ist verrückt!'' sagte die Prinzessin, und dann ging sie; aber als sie ein kleines Stück gegangen war, blieb sie stehen. ``Man muß die Kunst aufmuntern,'' sagte sie; ``ich bin des Kaisers Tochter! Sage ihm, er soll wie neulich zehn Küsse haben; den Rest kann er von meinen Hofdamen nehmen!''

``Ach, aber wir thun es ungern!'' sagten die Hofdamen.

``Das ist Geschwätz,'' sagte die Prinzessin, ``wenn ich ihn küssen kann, dann könnt Ihr es auch; bedenkt, ich gebe Euch Kost und Lohn!'' Da mußten die Hofdamen wieder zu ihm hineingehen.

``Hundert Küsse von der Prinzessin,'' sagte er, ``oder jeder behält das Seine!''

``Stellt Euch davor!'' sagte sie dann, und da stellten sich alle Hofdamen davor, und nun küßte er.

``Was mag das wohl für ein Auflauf beim Schweinestall sein?'' fragte der Kaiser, welcher auf den Balkon hinausgetreten war. Er rieb sich die Augen und setzte die Brille auf. ``Das sind ja die Hofdamen, die da ihr Wesen treiben; ich werde wohl zu ihnen hinuntergehen müssen!''

Potz tausend, wie er sich sputete!

Sobald er in den Hof hinunter kam, ging er ganz leise, und die Hofdamen hatten so viel damit zu thun, die Küsse zu zählen, damit es ehrlich zugehen möge, daß sie den Kaiser gar nicht bemerkten. Er erhob sich auf den Zehen.

``Was ist das?'' sagte er, als er sah, daß sie sich küßten, und dann schlug er seine Tochter mit seinem Pantoffel auf den Kopf, gerade als der Schweinehirt den sechsundachtzigsten Kuß erhielt.

``Fort mit Euch!'' sagte der König, denn er war böse, und sowohl die Prinzessin wie der Schweinehirt mußten sein Kaiserreich verlassen.

Da stand sie nun und weinte, der Schweinehirt schalt, und der Regen strömte hernieder.

``Ach, ich elendes Geschöpf,'' sagte die Prinzessin, ``hätte ich doch den schönen Prinzen genommen! Ach, wie unglücklich bin ich!''

Der Schweinehirt aber ging hinter einen Baum, wischte sich das Schwarze und Braune aus seinem Antlitz, warf die schlechten Kleider von sich und trat nun in seiner Prinzentracht hervor, so schön, daß die Prinzessin sich verneigen mußte.

``Ich bin dahin gekommen, Dich zu verachten!'' sagte er. ``Du wolltest keinen ehrlichen Prinzen haben! Du verstandest Dich nicht auf die Rose und die Nachtigall, aber den Schweinehirten konntest Du für eine Spielerei küssen. Das hast Du nun dafür!''

Und dann ging er in sein Königreich hinein; da konnte sie draußen singen:

\AMquote{
        Ach, du lieber Augustin, \\
        Alles ist weg, weg, weg!
}

Das Gänseblümchen

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\AMsection{Das Gänseblümchen}

Nun höre einmal!

Draußen auf dem Lande, dicht am Wege lag ein Landhaus, Du hast es gewiß selbst einmal gesehen. Vor demselben ist ein kleiner Garten mit Blumen und einem Zaun, welcher angestrichen ist; dicht dabei am Graben, mitten in dem schönsten grünen Grase wuchs eine kleine Gänseblume; die Sonne beschien sie eben so warm und schön, als die großen, schönen Prachtblumen drinnen im Garten, und deshalb wuchs sie von Stunde zu Stunde.

Eines Morgens stand sie mit ihren kleinen, blendend weißen Blättern, die wie Strahlen um die kleine, gelbe Sonne in der Mitte ringsherum sitzen, ganz entfaltet da. Sie dachte gar nicht daran, daß kein Mensch sie dort im Grase sehe und daß sie eine arme, verachtete Blume sei; nein, sie war vergnügt, sie wendete sich der warmen Sonne gerade entgegen, sah zu ihr auf und horchte auf die Lerche, die in der Luft sang.

Das kleine Gänseblümchen war so glücklich, als ob es ein großer Festtag gewesen wäre, und es war doch ein Montag. Alle Kinder waren in der Schule. Während sie auf den Bänken saßen und etwas lernten, saß sie auf ihrem kleinen, grünen Stengel und lernte auch von der warmen Sonne und allem ringsumher, wie gut Gott ist, und es schien ihr Recht, daß die kleine Lerche alles, was sie in der Stille fühlte, so deutlich und schön sang; und die Gänseblume blickte mit einer Art Ehrfurcht zu dem glücklichen Vogel, der singen und fliegen konnte, empor, war aber gar nicht betrübt, weil sie es selbst nicht konnte. ``Ich sehe und höre ja!'' dachte sie; ``die Sonne bescheint mich und der Wind küßt mich! O, wie bin ich doch begabt worden!''

Im Garten standen viele steife, vornehme Blumen, je weniger Duft sie hatten, um so mehr prunkten sie. Die Sonnenrose blies sich auf, um größer als eine Rose zu sein, aber die Größe ist es nicht, die es macht! Die Tulpen hatten die allerschönsten Farben, das wußten sie wohl und hielten sich so gerade, damit man sie besser sehen möchte. Sie beachteten die kleine Gänseblume da draußen gar nicht, aber sie sah desto mehr nach ihnen und dachte: ``Wie sind sie reich und schön! Ja, zu ihnen fliegt sicher der prächtige Vogel hernieder und besucht sie! Gott sei Dank, daß ich so nahe dabei stehe, so kann ich doch den Staat zu sehen bekommen!'' Und gerade, wie sie das dachte, ``Quirrvit!'', da kam die Lerche geflogen, aber nicht zu den Tulpen herunter, nein, nieder ins Gras zu der armen Gänseblume; die erschrak so vor lauter Freude, daß sie gar nicht wußte, was sie denken sollte.

Der kleine Vogel tanzte rings um sie her und sang: ``Wie ist doch das Gras so weich! Welch' liebliche, kleine Blume mit Gold im Herzen und Silber auf dem Kleide!'' Der gelbe Punkt in der Gänseblume sah ja auch aus wie Gold und die kleinen Blätter ringsherum erglänzten silberweiß.

Wie glücklich die kleine Gänseblume war, das kann niemand begreifen! Der Vogel küßte sie mit seinem Schnabel, sang ihr vor und flog dann wieder in die blaue Luft hinauf. Es währte sicher eine ganze Viertelstunde, bevor die Blume sich erholen konnte. Halb beschämt und doch innerlich erfreut, sah sie nach den anderen Blumen im Garten; sie hatten ja die Ehre und Glückseligkeit, die ihr widerfahren war, gesehen, sie mußten ja begreifen, welche Freude das war; aber die Tulpen standen noch einmal so steif, wie früher, und dann waren sie spitz im Gesicht und rot, denn sie hatten sich geärgert. Die Sonnenblumen waren ganz dickköpfig; es war gut, daß sie nicht sprechen konnten, sonst hätte die Gänseblume eine ordentliche Zurechtweisung bekommen. Die arme, kleine Blume konnte wohl sehen, daß sie nicht guter Laune waren, und das that ihr herzlich weh. Zur selben Zeit kam drinnen im Garten ein Mädchen mit einem großen, scharfen und glänzenden Messer, sie ging gerade auf die Tulpen zu und schnitt eine nach der andern ab. ``Uh!'' seufzte die kleine Gänseblume, ``das war erschrecklich, nun ist es mit ihnen vorbei!'' Dann ging das Mädchen mit den Tulpen fort. Das Gänseblümchen war froh, daß es draußen im Grase stand und eine kleine Blume war, es fühlte sich so dankbar, und als die Sonne unterging, faltete es seine Blätter, schlief ein und träumte die ganze Nacht von der Sonne und dem kleinen Vogel.

Am nächsten Morgen, als die Blume wieder glücklich alle ihre weißen Blätter gerade wie kleine Arme gegen Luft und Licht ausstreckte, erkannte es des Vogels Stimme, aber es war traurig, was er sang. Ja, die arme Lerche hatte guten Grund dazu; sie war gefangen worden und saß nun in einem Käfig dicht beim offenen Fenster. Sie besang das freie und glückliche Umherfliegen, sang von dem jungen grünen Korn auf dem Felde und von der herrlichen Reise, die sie auf ihren Flügeln hoch in die Luft hinauf machen konnte. Der arme, kleine Vogel war nicht bei guter Laune, gefangen saß er da im Käfig.

Die kleine Gänseblume wünschte zu helfen. Aber wie sollte sie das anfangen? Ja, es war schwer zu erdenken. Sie vergaß völlig, wie schön alles ringsumher stand, wie warm die Sonne schien und wie herrlich weiß ihre Blätter aussahen; ach, sie konnte nur an den gefangenen Vogel denken, für den sie durchaus nicht im stande war, etwas zu thun.

In derselben Zeit kamen zwei kleine Knaben aus dem Garten; der eine von ihnen hatte ein Messer in den Händen, groß und scharf wie das, welches das Mädchen hatte, um die Tulpen damit abzuschneiden. Sie gingen gerade auf die kleine Gänseblume zu, die gar nicht begreifen konnte, was sie wollten.

``Hier können wir ein herrliches Rasenstück für die Lerche ausschneiden!'' sagte der eine Knabe und begann nun um die Gänseblume in einem Viereck tief hineinzuschneiden, sodaß sie mitten in das Rasenstück zu stehen kam.

``Reiße die Blume ab!'' sagte der eine Knabe, und das Gänseblümchen zitterte aus Angst; denn abgerissen zu werden, war ja das Leben verlieren, und nun wollte es so gern leben, da es mit dem Rasenstück zu der gefangenen Lerche in den Käfig sollte.

``Nein, laß sie sitzen!'' sagte der andere Knabe; ``sie putzt so niedlich!'' und so blieb die kleine Gänseblume sitzen und kam mit in den Käfig zur Lerche.

Aber der arme Vogel klagte laut über die verlorene Freiheit und schlug mit den Flügeln gegen den Eisendraht im Käfig; die kleine Gänseblume konnte nicht sprechen, kein tröstendes Wort sagen, so gern sie es wollte. So verging der ganze Vormittag.

``Hier ist kein Wasser!'' sagte die gefangene Lerche. ``Sie sind alle ausgegangen und haben vergessen, mir einen Tropfen zu trinken zu geben. Mein Hals ist trocken und brennend! Es ist Feuer und Eis in mir und die Luft ist so schwer! Ach, ich muß sterben, scheiden von dem warmen Sonnenschein, vom frischen Grün, von all' der Herrlichkeit, die Gott geschaffen!'' Und dann bohrte sie ihren Schnabel in das kühle Rasenstück, um sich dadurch ein wenig zu erfrischen; da fielen ihre Augen auf das Gänseblümchen, und der Vogel nickte ihm zu, küßte es mit dem Schnabel und sagte: ``Du mußt hier drinnen auch vertrocknen, Du arme, kleine Blume! Dich und den kleinen Flecken grünen Grases hat man mir für die ganze Welt gegeben, die ich draußen hatte! Jeder kleine Grashalm soll mir ein grüner Baum, jedes Deiner weißen Blätter eine duftende Blume sein! Ach, Ihr erzählt mir nur, wieviel ich verloren habe!''

``Wer ihn doch trösten könnte!'' dachte die Gänseblume, aber sie konnte kein Blatt bewegen; doch der Duft, der den feinen Blättern entströmte, war weit stärker, als man ihn sonst bei dieser Blume findet; das bemerkte der Vogel auch, und obgleich er vor Durst fast verschmachtete und in seinem Schmerz die grünen Grashalme abriß, berührte er doch nicht die Blume.

Es wurde Abend, und noch kam niemand, dem armen Vogel einen Wassertropfen zu bringen; da streckte er seine hübschen Flügel aus, schüttelte sie krampfhaft, sein Gesang war ein wehmütiges Piep, piep; das kleine Haupt neigte sich der Blume entgegen, und des Vogels Herz brach aus Mangel und Sehnsucht. Da konnte die Blume nicht, wie am vorhergehenden Abend, ihre Blätter zusammenfalten und schlafen, sie hing krank und traurig zur Erde nieder.

Erst am nächsten Morgen kamen die Knaben, und als sie den Vogel tot erblickten, weinten sie, weinten viele Thränen und gruben ihm ein niedliches Grab, welches mit Blumenblättern verziert wurde. Des Vogels Leiche kam in eine rote, schöne Schachtel, königlich sollte er bestattet werden, der arme Vogel! Als er lebte und sang, vergaßen sie ihn, ließen ihn im Käfig sitzen und Mangel leiden, nun bekam er Staat und viele Thränen.

Aber das Rasenstück mit dem Gänseblümchen wurde in den Staub der Landstraße hinausgeworfen; niemand dachte an die, welche doch am meisten für den kleinen Vogel gefühlt hatte und ihn gern trösten wollte.

Gute Laune

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\AMsection{Gute Laune}

Mein Vater hat mir das beste Erbteil hinterlassen; von ihm habe ich die gute Laune. Und wer war mein Vater? Ja, das hat mit der Laune wohl nichts zu schaffen. Er war lebhaft und betriebsam, wohlbeleibt und rund; sein Äußeres und Inneres standen völlig im Gegensatz zu seinem Gewerbe. Und was war sein Geschäft, seine gesellschaftliche Stellung? Ja, wenn das gleich im Anfang eines Buches niedergeschrieben und gedruckt wird, so ist es verständlich, daß einige, die es lesen, das Buch zur Seite legen und sagen: Das sieht mir zu unheimlich aus, damit will ich nichts zu tun haben, und doch war mein Vater weder Abdecker noch Scharfrichter, im Gegenteil, sein Geschäft stellte ihn oft an die Spitze der ehrenwertesten Männer, und dort war er ganz zu recht, ganz an seinem Platze; er mußte der Erste sein, vor dem Bischof und vor Prinzen von Geblüt --- und er war der Erste --- er war Leichenwagenkutscher.

Nun ist es heraus. Und das kann ich sagen, wenn man meinen Vater dort oben sitzen sah vor dem Omnibus des Todes, in seinem langen, schwarzen Mantel und mit dem schwarzbefransten Dreispitz auf dem Kopfe und dazu in sein Gesicht blickte, das ganz leibhaftig aussah, als habe man die Sonne abgezeichnet, rund und lachend, dann konnte man an Trauer und Grab nicht denken; das Antlitz sagte: ``Das tut nichts, es geht alles viel besser, als man glaubt!''

Sieh, von ihm habe ich meine gute Laune und die Gewohnheit, zuweilen auf den Kirchhof hinaus zu gehen; das ist unterhaltsam, wenn man nur gute Laune mitbringt, und dann halte ich auch das Provinzblättchen, wie er es tat.

Ich bin nicht mehr ganz jung, --- ich habe weder Frau noch Kind noch Bibliothek, aber wie gesagt, ich halte das Provinzblättchen, das genügt mir, es ist für mich das beste Blatt, und das war es auch für meinen Vater. Es leistet gute Dienste und enthält alles, was ein Mensch zu wissen braucht: wer in der Kirche und wer in den neuen Büchern predigt, wo man Häuser, Dienstmädchen, Kleider und Nahrungsmittel bekommt, wer ausverkauft und wer von der Erde scheidet, und dann liest man von sovielen Wohltaten und soviele unschuldige Verse, die niemandem weh tun, Heiratsannoncen und Stelldicheine, auf die eingegangen wird oder auch nicht, alles ist einfach und natürlich. Man kann wirklich glücklich leben und sich begraben lassen, wenn man das Provinzblättchen hält, und dann hat man auch an seinem Lebensende so herrlich viel Papier, daß man sich weich darauf betten kann, wenn man nicht gern auf Hobelspänen liegt.

Das Provinzblättchen und der Kirchhof, das sind und waren immer meine geistanregendsten Spazierfahrten, meine beiden gesegneten Badeanstalten für die gute Laune.

Das Provinzblättchen kann sich ein jeder zu Gemüte führen; aber gehe mit mir auf den Kirchhof, laß uns dorthin gehen, wenn die Sonne scheint und die Bäume grün sind, laß uns zwischen den Gräbern entlang gehen. Jedes von ihnen ist ein geschlossenes Buch mit dem Rücken nach oben. Man kann den Titel lesen, der ankündigt, was das Buch enthält und doch nichts besagt. Aber ich weiß Bescheid, weiß es von meinem Vater her und von mir selbst. Ich habe es in meinem Gräberbuch aufgezeichnet; das ist ein Buch, das ich selbst verfertigt habe zum Nutzen und Vergnügen. Darin liegen sie allesamt, und noch einige mehr.

Nun sind wir auf dem Kirchhofe.

Hier, hinter dem weißgestrichenen Holzgitter, worin einstmals ein Rosenstrauch stand, --- nun ist er fort, aber ein wenig Immergrün vom Nachbargrabe streckt seine grünen Finger hinein, um es doch etwas zu schmücken, ruht ein sehr unglücklicher Mann und doch, als er lebte, stand er sich gut, wie man so sagt; er hatte sein gutes Auskommen und noch etwas mehr, aber er ließ sich die Welt, oder vielmehr die Kunst, zu nahe gehen. Saß er des Abends im Theater, um mit ganzer Seele zu genießen, so geriet er völlig außer sich, wenn nur der Maschinenmeister ein zu starkes Licht hinter dem Monde anbrachte, oder der Theaterhimmel vor den

Kulissen hing, wenn er dahinter hängen sollte, oder ein Palmenbaum auf einer Ostseeinsel stand, ein Kaktus in Tirol oder Buchenwald hoch oben in Norwegen. Kann das nicht ganz gleichgültig sein? Wer denkt über so etwas nach. Es ist ja nur Theater, das zu unserem Vergnügen da sein soll. --- Dann wieder fand er, daß das Publikum zuviel oder zu wenig klatschte. ``Es ist nasses Holz'' sagte er, ``es will heute abend nicht zünden.'' Und dann wandte er sich um, um zu sehen, was für Leute da seien. Dabei sah er, daß sie ganz verkehrt lachten, an Stellen lachten, die gar nicht zum Lachen angetan waren. Und über so etwas ärgerte er sich und litt darunter und war ein unglücklicher Mensch. Nun liegt er im Grabe.

Hier ruht ein sehr glücklicher Mann, das will sagen, ein sehr vornehmer Mann von hoher Geburt, und das war sein Glück, denn sonst wäre niemals etwas aus ihm geworden. Aber alles ist ja so weise in der Natur eingerichtet, daß es ein Vergnügen ist, darüber nachzusinnen. Er ging vorn und hinten gestickt und war im Empfangszimmer aufgestellt, wie man einen köstlichen, perlenbestickten Klingelzug anbringt, der hinter sich immer eine gute dicke Schnur zu hängen hat, die die eigentlichen Dienste versieht; er hatte auch eine gute Schnur hinter sich, einen Vertreter, der den Dienst für ihn versah und ihn noch tut, aber hinter einem anderen, einem neuen gestickten Klingelzug. Alles ist so weislich eingerichtet, daß es nicht schwer ist, seine gute Laune zu behalten.

Hier ruht, ja, das ist wirklich etwas höchst Trauriges. Hier ruht ein Mann, der siebenundsechzig Jahre lang nur den einen Gedanken hatte, einen guten Einfall kund zu tun. Er lebte nur um dieses guten Einfalls willen. Und dann endlich hatte er wirklich einen, seiner eigenen Überzeugung nach wenigstens, und darüber freute er sich so sehr, daß er starb, aus Freude darüber starb, daß er ihn bekommen hatte. Und niemand hatte einen Nutzen davon, niemand hörte den guten Einfall. Es läßt sich sogar denken, daß er des guten Einfalls wegen nicht einmal im Grabe Ruhe findet; denn, gesetzt den Fall, daß es ein Einfall war, der beim Frühstück gesagt werden muß, wenn er seine Wirkung tun sollte, und daß er, als Toter, nach der allgemein geltenden Ansicht sich nur um Mitternacht zeigen kann, so paßt der Einfall nicht in die Zeit; keiner lacht darüber und er kann sich mit seinem guten Einfall begraben lassen. Das ist ein trauriges Grab.

Hier ruht eine sehr geizige Madame; als sie lebte, stand sie des Nachts auf und miaute, damit die Nachbarn glauben sollten, sie hielte eine Katze; so geizig war sie.

Hier ruht ein Fräulein aus guter Familie. In Gesellschaft sollte sie stets ihre Stimme hören lassen, und dann sang sie: ``mi manca la voce!'' Das war die einzige Wahrheit, die sie während ihres Lebens über die Lippen brachte!

Hier ruht eine Jungfrau anderen Schlages. Wenn des Herzens Kanarienvogel aufzuschreien beginnt, dann steckt die Vernunft die Finger in die Ohren. Schönjungfrau stand in der höchsten Glorie der Ehe! Das ist eine alltägliche Geschichte --- aber es ist so hübsch gesagt. Laß die Toten ruhen.

Hier ruht eine Witwe, die Schwanengesang auf den Lippen und Eulengalle im Herzen hatte. Sie ging in allen Familien auf Raub aus nach den Mängeln der lieben Nächsten.

Hier ist ein Erbbegräbnis. Alle Glieder des Geschlechtes hielten so getreulich zusammen, daß, wenn die ganze Welt und selbst die Zeitung sagte ``So ist es'' und der kleine Sohn der aus der Schule kam und sagte: ``Ich habe es auf die Art gehört!'' So war seine Art die einzig richtige, weil er zur Familie gehörte. Und es stand fest, wenn es sich gerade traf, daß der Hofhahn der Familie um Mitternacht krähte, so war es Morgen ob auch der Wächter und alle Uhren der Stadt sagten es sei Mitternacht.

Der große Goethe schließt seinen Faust: ``kann fortgesetzt werden'', und das kann auch unsere Wanderung hier auf dem Kirchhofe. Ich komme oft hierher.

Treibt es mir einer meiner Freunde oder Unfreunde zu bunt, dann gehe ich hier hinaus, suche einen Rasenplatz und weihe ihn für denjenigen oder diejenige, die ich begraben will und begrabe ihn sogleich, dann liegen sie dort tot und machtlos, bis sie als neue und bessere Menschen zurückkehren. Ihr Leben und ihre Geschichte schreibe ich, wie ich sie von meiner Seite aus sehe, in mein Gräberbuch. Und so sollten es alle Menschen halten, sollten sich nicht ärgern, wenn es ihnen jemand zu toll treibt, sondern ihn schnell begraben, immer für gute Laune und das Provinzblättchen sorgen, dies vom Volke selbst, oft mit gelenkter Feder, geschriebene Blatt.

Und kommt die Zeit, da ich selbst mit meiner Lebensgeschichte in das Grab eingebunden werden soll, so setzt mir als Inschrift darauf: ``Gute Laune.''

Das ist meine Geschichte.

Der Flachs

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\AMsection{Der Flachs}

Der Flachs blühte. Er hat schöne, blaue Blumen, die so zart wie die Flügel einer Motte, und noch viel feiner sind! --- Die Sonne beschien den Flachs, und die Regenwolken begossen ihn und das thut ihm ebenso wohl, wie es kleinen Kindern thut, wenn sie gewaschen werden, und dann einen Kuß von der Mutter bekommen, sie werden ja viel schöner davon und das wurde der Flachs auch.

``Die Leute sagen, daß ich ausgezeichnet gut stehe,'' sagte der Flachs, ``und daß ich schön lang werde, es wird ein prächtiges Stück Leinwand aus mir werden! Wie glücklich bin ich doch! Ich bin gewiß der Glücklichste von allen! Ich habe es gut, und es wird etwas aus mir werden! Wie der Sonnenschein belebt und wie der Regen schmeckt und erfrischt! Ich bin ganz überglücklich, ich bin der Allerglücklichste!''

``Ja, ja, ja!'' sagten die Zaunpfähle, ``Ihr kennt die Welt nicht, aber wir, wir haben Knorren in uns;'' und dann knarrten sie ganz jämmerlich:

\AMquote{
        ``Schnipp-Schnapp-Schnurre, \\
        Baselurre, \\
        Aus ist das Lied!''
}

``Nein, das ist es nicht!'' sagte der Flachs. ``Die Sonne scheint am Morgen, der Regen thut wohl, ich kann hören, wie ich wachse, ich kann fühlen, daß ich blühe! Ich bin der Allerglücklichste.''

Aber eines Tages kamen Leute, die den Flachs beim Schopfe faßten und mit der Wurzel herausrissen, das that weh; er wurde in Wasser gelegt, als ob er ersäuft werden sollte, und dann kam er über Feuer, als ob er gebraten werden sollte, das war greulich!

``Es kann einem nicht immer gut ergehen!'' sagte der Flachs. ``Man muß etwas durchmachen, dann weiß man etwas!''

Aber es wurde allerdings sehr schlimm. Der Flachs wurde gerissen und gebrochen, gedörrt und gehechelt, ja, das wußte er, wie das alles hieß; er kam auf den Rocken: schnurre rur! Da war es nicht möglich, die Gedanken beisammen zu behalten.

``Ich bin außerordentlich glücklich gewesen!'' dachte er bei aller seiner Pein. ``Man muß froh sein über das Gute, was man genossen hat. Froh, froh, oh!'' --- und das sagte er noch, als er auf den Webstuhl kam, und so wurde er zu einem herrlichen, großen Stück Leinwand. Aller Flachs, jeder einzelne Stengel kam in das eine Stück.

``Aber das ist ja ganz außerordentlich! Das hätte ich nie geglaubt! Nein, wie das Glück mir doch wohl will! Ja, die Zaunpfähle wußten wahrlich gut Bescheid mit ihrem:

\AMquote{
        `Schnipp-Schnapp-Schnurre, \\
        Baselurre!'
}

Das Lied ist keineswegs aus! Nun fängt es erst recht an! Es ist herrlich! Ja, ich habe gelitten, aber jetzt ist dafür auch etwas aus mir geworden; ich bin der Glücklichste von allen! --- Ich bin so stark und so weich, so weiß und so lang! Das ist ganz etwas anderes, als nur Pflanze zu sein, selbst wenn man Blumen trägt! Man wird nicht gepflegt, und bekommt nur Wasser, wenn es regnet! Jetzt habe ich Aufwartung! Das Mädchen wendet mich jeden Morgen und mit der Gießkanne erhalte ich jeden Abend ein Regenbad. Ja, die Frau Pastorin hat selbst eine Rede über mich gehalten und gesagt, daß ich das beste Stück im ganzen Kirchspiel sei. Glücklicher kann ich gar nicht werden!''

Nun kam die Leinwand ins Haus, dann kam sie unter die Scheere. Wie man schnitt, wie man mit der Nähnadel hineinstach! Das war wahrlich kein Vergnügen. Aber aus der Leinwand wurden zwölf Stück Wäsche von der Art, die man nicht gern nennt, die aber alle Menschen haben müssen; es waren zwölf Stück davon.

``Ei sieh, jetzt ist erst etwas aus mir geworden! Das war also meine Bestimmung! Das ist ja herrlich; nun schaffe ich Nutzen in der Welt, und das ist es, was man soll, das ist das wahre Vergnügen. Wir sind zwölfe geworden, aber wir sind doch alle eins und dasselbe, wir sind ein Dutzend! Was ist das für ein erstaunliches Glück!''

Jahre verstrichen, --- dann konnten sie nicht länger halten.

``Einmal muß es ja doch vorbei sein!'' sagte jedes Stück. ``Ich hätte gern noch länger halten mögen, aber man darf nichts Unmögliches verlangen!'' Dann wurden sie in Stücke und Fetzen zerrissen, sodaß sie glaubten, nun sei es ganz vorbei, denn sie wurden zerhackt und zerquetscht und zerkocht, ja sie wußten selbst nicht, wie ihnen geschah --- und dann wurden sie schönes, feines, weißes Papier!

``Nein, das ist eine Überraschung! Und eine herrliche Überraschung!'' sagte das Papier. ``Nun bin ich feiner als zuvor, und nun werde ich beschrieben werden! Was kann nicht alles geschrieben werden! Das ist doch ein außerordentliches Glück!'' Es wurden die allerschönsten Geschichten darauf geschrieben, und die Leute hörten, was darauf stand, und es war richtig und gut, es machte die Menschen weit klüger und besser, als sie bisher waren, es war ein wahrer Segen, der dem Papier in den Worten gegeben war.

``Das ist mehr als ich mir träumen ließ, als ich noch eine kleine, blaue Blume auf dem Felde war! Wie konnte es mir einfallen, daß ich dazu gelangen werde, Freude und Kenntnisse unter die Menschen zu bringen! Ich kann es selbst noch nicht begreifen! Aber es ist nun einmal wirklich so! Der liebe Gott weiß, daß ich selbst durchaus nichts dazu gethan habe, als ich nach schwachem Vermögen für mein Dasein thun mußte! Und doch gewährt er mir eine Freude nach der andern; jedesmal wenn ich denke: `Aus ist das Lied!' dann geht es gerade zu etwas Höherem und Besserem über. Nun werde ich gewiß auf Reisen in der ganzen Welt herum gesandt werden, damit alle Menschen mich lesen können! Das ist das Wahrscheinlichste! Früher trug ich blaue Blumen, jetzt habe ich für jede Blume die schönsten Gedanken! Ich bin der Allerglücklichste!''

Aber das Papier kam nicht auf Reisen, es kam zum Buchdrucker und da wurde alles, was darauf geschrieben stand, zum Druck zu einem Buche gesetzt, ja zu vielen hundert Büchern, denn so konnten unendlich viel Leute mehr Nutzen und Freude davon haben, als wenn das einzige Papier, auf dem das Geschriebene stand, die ganze Welt durchlaufen hätte und auf dem halben Wege schon abgenutzt worden wäre.

``Ja, das ist freilich das allervernünftigste!'' dachte das beschriebene Papier. ``Das fiel mir gar nicht ein! Ich bleibe zu Hause und werde in Ehren gehalten, wie ein alter Großvater! Ich bin es, der beschrieben worden ist, die Worte flossen aus der Feder gerade in mich hinein. Ich bleibe, und die Bücher laufen herum! Nun kann ordentlich was ausgerichtet werden! Nein, wie bin ich froh, wie bin ich glücklich!''

Dann wurde das Papier in ein Päckchen gesammelt und in ein Fach gelegt. ``Nach vollbrachter That ist gut ruhen!'' sagte das Papier. ``Es ist ganz in Ordnung, daß man sich sammelt und über das nachdenkt, was in einem wohnt. Jetzt weiß ich erst recht, was in mir enthalten ist! Und sich selbst kennen, das ist erst der wahre Fortschritt. Was nun wohl kommen wird? Irgend ein Fortschritt geschieht, es geht immer vorwärts!'' ---

Eines Tages wurde alles Papier auf den Feuerherd gelegt, denn es sollte verbrannt und nicht an Höker verkauft werden, die Butter und Zucker darin einwickeln. Alle Kinder im Hause standen rings herum, sie wollten es auflodern sehen, sie wollten die vielen roten Feuerfunken in der Asche sehen, die gleichsam davon laufen und erlöschen, einer immer nach dem andern, ganz geschwind --- das sind die Kinder, die aus der Schule kommen, und der allerletzte Funke ist der Schulmeister; oft glaubt man, daß er schon fort ist, aber dann kommt er auf einmal noch hinterher.

Und alles Papier lag in einem Bündel auf dem Feuer. Uh, wie flammte es empor! ``Uh!'' sagte es, und gleichzeitig war da alles eine Flamme; die ging höher empor, als der Flachs je seine kleine, blaue Blume hatte erheben können, und glänzte, wie die weiße Leinwand nie hatte glänzen können. Alle die geschriebenen Buchstaben wurden augenblicklich ganz rot und alle Worte und Gedanken gingen in Flammen auf.

``Nun gehe ich gerade zur Sonne hinauf!'' sprach es in der Flamme, und es war, als ob tausend Stimmen das mit einem Munde sagten, und die Flamme schlug durch den Schornstein oben hinaus. --- --- Feiner als die Flammen, dem menschlichen Auge ganz unsichtbar, schwebten ganz kleine Wesen, an Zahl den Blumen, die der Flachs getragen hatte, gleich. Sie waren noch leichter, als die Flamme, welche sie führte, und als diese erlosch und von dem Papier nur noch die schwarze Asche übrig war, tanzten sie noch einmal darüber hin, und wo sie dieselbe berührten, erblickte man ihre Fußtapfen, das waren die roten Funken. ``Die Kinder kamen aus der Schule und der Schulmeister war der Allerletzte!'' Das war eine Freude mit anzusehen, die Kinder des Hauses standen und sangen bei der toten Asche:

\AMquote{
        ``Schnipp-Schnapp-Schnurre! \\
        Baselurre, \\
        Aus ist das Lied!''
}

Aber die kleinen, unsichtbaren Wesen sagten alle: ``Das Lied ist nie aus, das ist das Schönste von allem! Ich weiß es, und deswegen bin ich der Allerglücklichste!''

Aber das konnten die Kinder weder hören, noch verstehen und das sollten sie auch nicht, denn Kinder brauchen nicht alles zu wissen.

Des Kaisers neue Kleider

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\AMsection{Des Kaisers neue Kleider}

Vor vielen Jahren lebte ein Kaiser, der so ungeheuer viel auf neue Kleider hielt, daß er all' sein Geld dafür ausgab, um recht geputzt zu sein. Er kümmerte sich nicht um seine Soldaten, kümmerte sich nicht um Theater, und liebte es nicht, in den Wald zu fahren, außer um seine neuen Kleider zu zeigen Er hatte einen Rock für jede Stunde des Tages, und ebenso wie man von einem König sagt, er ist im Rat, so sagte man hier immer: ``Der Kaiser ist in der Garderobe!''

In der großen Stadt, in welcher er wohnte, ging es sehr munter her. An jedem Tage kamen viele Fremde an, und eines Tages kamen auch zwei Betrüger, die gaben sich für Weber aus und sagten, daß sie das schönste Zeug, was man sich denken könne, zu weben verständen. Die Farben und das Muster seien nicht allein ungewöhnlich schön, sondern die Kleider, die von dem Zeuge genäht wurden, sollten die wunderbare Eigenschaft besitzen, daß sie für jeden Menschen unsichtbar seien, der nicht für sein Amt tauge oder der unverzeihlich dumm sei.

``Das wären ja prächtige Kleider,'' dachte der Kaiser; ``wenn ich solche hätte, könnte ich ja dahinter kommen, welche Männer in meinem Reiche zu dem Amte, das sie haben, nicht taugen, ich könnte die Klugen von den Dummen unterscheiden! Ja, das Zeug muß sogleich für mich gewebt werden!'' Er gab den beiden Betrügern viel Handgeld, damit sie ihre Arbeit beginnen sollten.

Sie stellten auch zwei Webstühle auf, thaten, als ob sie arbeiteten, aber sie hatten nicht das Geringste auf dem Stuhle. Trotzdem verlangten sie die feinste Seide und das prächtigste Gold, das steckten sie aber in ihre eigene Tasche und arbeiteten an den leeren Stühlen bis spät in die Nacht hinein.

``Nun möchte ich doch wissen, wie weit sie mit dem Zeuge sind!'' dachte der Kaiser, aber es war ihm beklommen zu Mute, wenn er daran dachte, daß der, welcher dumm sei oder schlecht zu seinem Amte tauge, es nicht sehen könne. Nun glaubte er zwar, daß er für sich selbst nichts zu fürchten brauche, aber er wollte doch erst einen andern senden, um zu sehen, wie es damit stehe. Alle Menschen in der ganzen Stadt wußten, welche besondere Kraft das Zeuge habe, und alle waren begierig zu sehen, wie schlecht oder dumm ihr Nachbar sei.

``Ich will meinen alten, ehrlichen Minister zu den Webern senden,'' dachte der Kaiser; ``er kann am besten beurteilen, wie das Zeug sich ausnimmt, denn er hat Verstand, und keiner versieht sein Amt besser als er!''

Nun ging der alte, gute Minister in den Saal hinein, wo die zwei Betrüger saßen und an den leeren Webstühlen arbeiteten. ``Gott behüte uns!'' dachte der alte Minister und riß die Augen auf. ``Ich kann ja nichts erblicken!'' Aber das sagte er nicht.

Beide Betrüger baten ihn näher zu treten, und fragten, ob es nicht ein hübsches Muster und schöne Farben seien. Dann zeigten sie auf den leeren Stuhl und der arme, alte Minister fuhr fort die Augen aufzureißen, aber er konnte nichts sehen, denn es war nichts da. ``Herr Gott,'' dachte er, ``sollte ich dumm sein? Das habe ich nie geglaubt, und das darf kein Mensch wissen! Sollte ich nicht zu meinem Amte taugen? Nein, es geht nicht an, daß ich erzähle, ich könne das Zeug nicht sehen!''

``Nun, Sie sagen nichts dazu?'' fragte der eine von den Webern.

``O, es ist niedlich, ganz allerliebst!'' antwortete der alte Minister und sah durch seine Brille. ``Dieses Muster und diese Farben! --- Ja, ich werde dem Kaiser sagen, daß es mir sehr gefällt!''

``Nun, das freut uns!'' sagten beide Weber, und darauf benannten sie die Farben mit Namen und erklärten das seltsame Muster. Der alte Minister merkte gut auf, damit er dasselbe sagen könne, wenn er zum Kaiser zurückkomme, und das that er auch.

Nun verlangten die Betrüger mehr Geld, mehr Seide und mehr Gold, um es zum Weben zu gebrauchen. Sie steckten alles in ihre eigenen Taschen, auf den Webstuhl kam kein Faden, aber sie fuhren fort, wie bisher an den leeren Stühlen zu arbeiten.

Der Kaiser sandte bald wieder einen anderen tüchtigen Staatsmann hin, um zu sehen, wie es mit dem Weben stehe und ob das Zeug bald fertig sei; es ging ihm aber gerade wie dem ersten, er sah und sah; weil aber außer dem Webstuhle nichts da war, so konnte er nichts sehen.

``Ist das nicht ein hübsches Stück Zeug?'' fragten die beiden Betrüger und zeigten und erklärten das prächtige Muster, welches gar nicht da war.

``Dumm bin ich nicht,'' dachte der Mann; ``es ist also mein gutes Amt, zu dem ich nicht tauge! Das wäre seltsam genug, aber das muß man sich nicht merken lassen!'' Daher lobte er das Zeug, welches er nicht sah, und versicherte ihnen seine Freude über die schönen Farben und das herrliche Muster. ``Ja, es ist ganz allerliebst!'' sagte er zum Kaiser.

Alle Menschen in der Stadt sprachen von dem prächtigen Zeuge. Nun wollte der Kaiser es selbst sehen, während es noch auf dem Webstuhl sei. Mit einer ganzen Schar auserwählter Männer, unter welchen auch die beiden ehrlichen Staatsmänner waren, die schon früher dagewesen, ging er zu den beiden listigen Betrügern hin, die nun aus allen Kräften webten, aber ohne Faser oder Faden.

``Ja, ist das nicht prächtig?'' sagten die beiden ehrlichen Staatsmänner. ``Wollen Ew. Majestät sehen, welches Muster, welche Farben?'' und dann zeigten sie auf den leeren Webstuhl, denn sie glaubten, daß die andern das Zeug wohl sehen könnten.

``Was!'' dachte der Kaiser; ``ich sehe gar nichts! Das ist ja erschrecklich! Bin ich dumm? Tauge ich nicht dazu, Kaiser zu sein? Das wäre das Schrecklichste, was mir begegnen könnte. O, es ist sehr hübsch,'' sagte er; ``es hat meinen allerhöchsten Beifall!'' und er nickte zufrieden und betrachtete den leeren Webstuhl; er wollte nicht sagen, daß er nichts sehen könne. Das ganze Gefolge, was er mit sich hatte, sah und sah, aber es bekam nicht mehr heraus, als alle die andern, aber sie sagten gleichwie der Kaiser: ``O, das ist hübsch!'' und sie rieten ihm, diese neuen prächtigen Kleider das erste Mal bei dem großen Feste, das bevorstand, zu tragen. ``Es ist herrlich, niedlich, ausgezeichnet!'' ging es von Mund zu Mund, und man schien allerseits innig erfreut darüber. Der Kaiser verlieh jedem der Betrüger ein Ritterkreuz, um es in das Knopfloch zu hängen, und den Titel Hofweber.

Die ganze Nacht vor dem Morgen, an dem das Fest statthaben sollte, waren die Betrüger auf und hatten über sechszehn Lichte angezündet. Die Leute konnten sehen, daß sie stark beschäftigt waren, des Kaisers neue Kleider fertig zu machen. Sie thaten, als ob sie das Zeug aus dem Webstuhl nähmen, sie schnitten in die Luft mit großen Schweren, sie nähten mit Nähnadeln ohne Faden und sagten zuletzt: ``Sieh, nun sind die Kleider fertig!''

Der Kaiser mit seinen vornehmsten Beamten kam selbst und beide Betrüger hoben den einen Arm in die Höhe, gerade, als ob sie etwas hielten, und sagten: ``Seht, hier sind die Beinkleider! hier ist das Kleid! hier der Mantel!'' und so weiter. ``Es ist so leicht wie Spinnewebe; man sollte glauben, man habe nichts auf dem Körper, aber das ist gerade die Schönheit dabei!''

``Ja!'' sagten alle Beamte, aber sie konnten nichts sehen, denn es war nichts.

``Belieben Ew.\ kaiserliche Majestät Ihre Kleider abzulegen,'' sagten die Betrüger, ``so wollen wir Ihnen die neuen hier vor dem großen Spiegel anziehen!''

Der Kaiser legte seine Kleider ab, und die Betrüger stellten sich, als ob sie ihm ein jedes Stück der neuen Kleider anzögen, welche fertig genäht sein sollten, und der Kaiser wendete und drehte sich vor dem Spiegel.

``Ei, wie gut sie kleiden, wie herrlich sie sitzen!'' sagten alle. ``Welches Muster! welche Farben! Das ist ein kostbarer Anzug!'' ---

``Draußen stehen sie mit dem Thronhimmel, welche über Ew. Majestät getragen werden soll!'' meldete der Oberceremonienmeister.

``Seht, ich bin ja fertig!'' sagte der Kaiser. ``Sitzt es nicht gut?'' und dann wendete er sich nochmals zu dem Spiegel; denn es sollte scheinen, als ob er seine Kleider recht betrachte.

Die Kammerherren, welche die Schleppe tragen sollten, griffen mit den Händen gegen den Fußboden, als ob sie die Schleppe aufhöben, sie gingen und thaten, als hielten sie etwas in der Luft; sie wagten es nicht, es sich merken zu lassen, daß sie nichts sehen konnten.

So ging der Kaiser unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf der Straße und in den Fenstern sprachen: ``Wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich! Welche Schleppe er am Kleide hat! Wie schön sie sitzt!'' Keiner wollte es sich merken lassen, daß er nichts sah; denn dann hätte er ja nicht zu seinem Amte getaugt, oder wäre sehr dumm gewesen. Keine Kleider des Kaisers hatten solches Glück gemacht als diese.

``Aber er hat ja gar nichts an!'' sagte endlich ein kleines Kind. ``Hört die Stimme der Unschuld!'' sagte der Vater; und der eine zischelte dem andern zu, was das Kind gesagt hatte.

``Aber er hat ja gar nichts an!'' rief zuletzt das ganze Volk. Das ergriff den Kaiser, denn das Volk schien ihm recht zu haben, aber er dachte bei sich: ``Nun muß ich aushalten.'' Und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.

Frontmatter

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Der standhafte Zinnsoldat

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\AMsection{Der standhafte Zinnsoldat}

Es waren einmal fünfundzwanzig Zinnsoldaten, die waren alle Brüder, denn sie waren aus einem alten zinnernen Löffel gemacht worden. Das Gewehr hielten sie im Arm und das Gesicht gerade aus; rot und blau, überaus herrlich war die Uniform; das Allererste, was sie in dieser Welt hörten, als der Deckel von der Schachtel genommen wurde, in der sie lagen, war das Wort ``Zinnsoldaten!'' Das rief ein kleiner Knabe und klatschte in die Hände; er hatte sie erhalten, denn es war sein Geburtstag, und er stellte sie nun auf dem Tische auf. Der eine Soldat glich dem andern leibhaft, nur ein einziger war etwas verschieden; er hatte nur Ein Bein, denn er war zuletzt gegossen worden, und da war nicht mehr Zinn genug da: doch stand er eben so fest auf seinem einen Bein als die andern auf ihren zweien, und gerade er ist es, der sich bemerkbar machte.

Auf dem Tisch, auf welchem sie aufgestellt wurden, stand vieles andere Spielzeug, aber das, was am meisten in die Augen fiel, war ein niedliches Schloß von Papier. Durch die kleinen Fenster konnte man gerade in die Säle hineinsehen. Draußen vor demselben standen kleine Bäume rings um einen kleinen Spiegel, der wie ein kleiner See aussehen sollte. Schwäne von Wachs schwammen darauf und spiegelten sich. Das war alles niedlich, aber das Niedlichste war doch ein kleines Mädchen, das mitten in der offenen Schloßthür stand; sie war auch aus Papier ausgeschnitten, aber sie hatte ein schönes Kleid und ein kleines, schmales, blaues Band über den Schultern, gerade wie eine Schärpe; mitten in dieser saß ein glänzender Stern, gerade so groß wie ihr ganzes Gesicht. Das kleine Mädchen streckte ihre beiden Arme aus, denn sie war eine Tänzerin, und dann hob sie das eine Bein so hoch empor, daß der Zinnsoldat es durchaus nicht finden konnte und glaubte, daß sie gerade wie er nur Ein Bein habe.

``Das wäre eine Frau für mich,'' dachte er; ``aber sie ist etwas vornehm, sie wohnt in einem Schlosse, ich habe nur eine Schachtel und da sind wir fünfundzwanzig darin, das ist kein Ort für sie; doch ich muß suchen, Bekanntschaft mit ihr anzuknüpfen!'' Und dann legte er sich, so lang er war, hinter eine Schnupftabaksdose, welche auf dem Tische stand; da konnte er recht die kleine, feine Dame betrachten, die fortfuhr auf einem Bein zu stehen, ohne umzufallen.

Als es Abend wurde, kamen alle die andern Zinnsoldaten in ihre Schachtel und die Leute im Hause gingen zu Bette. Nun fing das Spielzeug an zu spielen, sowohl ``Es kommen Fremde!'' als auch ``Krieg führen'' und ``Ball geben''; die Zinnsoldaten rasselten in der Schachtel, denn sie wollten mit dabei sein, aber sie konnten den Deckel nicht aufheben. Der Nußknacker schoß Purzelbäume, und der Griffel belustigte sich auf der Tafel; es war ein Lärm, daß der Kanarienvogel davon erwachte und anfing mitzusprechen, und zwar in Versen. Die beiden einzigen, die sich nicht von der Stelle bewegten, waren der Zinnsoldat und die Tänzerin; sie hielt sich gerade auf der Zehenspitze und beide Arme ausgestreckt; er war eben so standhaft auf seinem Einen Beine; seine Augen wandte er keinen Augenblick von ihr weg.

Nun schlug die Uhr zwölf, und klatsch! da sprang der Deckel von der Schnupftabaksdose, aber da war kein Tabak darin, nein, sondern ein kleiner schwarzer Kobold. Das war ein Kunststück.

``Zinnsoldat,'' sagte der Kobold, ``halte Deine Augen im Zaum!''

Aber der Zinnsoldat that, als ob er es nicht hörte.

``Ja, warte nur bis morgen!'' sagte der Kobold.

Als es nun Morgen wurde und die Kinder aufstanden, wurde der Zinnsoldat in das Fenster gestellt, und war es nun der Kobold oder der Zugwind, auf einmal flog das Fenster zu und der Soldat stürzte drei Stockwerke hoch hinunter. Das war eine erschreckliche Fahrt. Er streckte das Bein gerade in die Höhe und blieb auf der Helmspitze mit dem Bajonnet abwärts zwischen den Pflastersteinen stecken.

Das Dienstmädchen und der kleine Knabe kamen sogleich hinunter, um zu suchen; aber, obgleich sie nahe daran waren, auf ihn zu treten, so konnten sie ihn doch nicht erblicken. Hätte der Zinnsoldat gerufen: ``Hier bin ich!'' so hätten sie ihn wohl gefunden, aber er fand es nicht passend, laut zu schreien, weil er in Uniform war.

Nun fing es an zu regnen; die Tropfen fielen immer dichter, es ward ein ordentlicher Platzregen; als derselbe zu Ende war, kamen zwei Straßenjungen vorbei.

``Sieh Du!'' sagte der eine, ``da liegt ein Zinnsoldat! Der soll hinaus und segeln!''

Sie machten ein Boot von einer Zeitung, setzten den Soldat mitten in dasselbe, und nun segelte er den Rinnstein hinunter; beide Knaben liefen nebenher und klatschten in die Hände. Was schlugen da für Wellen in dem Rinnstein und welcher Strom war da! Ja, der Regen hatte aber auch geströmt. Das Papierboot schaukelte auf und nieder, mitunter drehte es sich so geschwind, daß der Zinnsoldat bebte; aber er blieb standhaft, verzog keine Miene, sah gerade aus und hielt das Gewehr im Arm.

Mit einem Male trieb das Boot unter eine lange Rinnsteinbrücke; da wurde es gerade so dunkel, als wäre er in seiner Schachtel.

``Wohin mag ich nun kommen?'' dachte er. ``Ja, ja, das ist des Kobolds Schuld! Ach säße doch das kleine Mädchen hier im Boote, da möchte es meinetwegen noch einmal so dunkel sein!''

Da kam plötzlich eine große Wasserratte, welche unter der Rinnsteinbrücke wohnte.

``Hast Du einen Paß?'' fragte die Ratte. ``Her mit dem Passe!''

Aber der Zinnsoldat schwieg still und hielt das Gewehr noch fester.

Das Boot fuhr davon und die Ratte hinterher. Hu! wie fletschte sie die Zähne und rief den Holzspänen und dem Stroh zu:

``Halt auf! halt auf! Er hat keinen Zoll bezahlt; er hat den Paß nicht gezeigt!''

Aber die Strömung wurde stärker und stärker! Der Zinnsoldat konnte schon da, wo das Brett aufhörte, den hellen Tag erblicken, aber er hörte auch einen brausenden Ton, der wohl einen tapfern Mann erschrecken konnte; denkt nur, der Rinnstein stürzte, wo die Brücke endete, gerade hinaus in einen großen Kanal; das würde für ihn eben so gefährlich gewesen sein, als für uns, einen großen Wasserfall hinunterzufahren.

Nun war er schon so nahe dabei, daß er nicht mehr anhalten konnte. Das Boot fuhr hinaus, der arme Zinnsoldat hielt sich so steif er konnte, niemand sollte ihm nachsagen, daß er mit den Augen blinke. Das Boot schnurrte drei-, viermal herum und war bis zum Rande mit Wasser gefüllt, es mußte sinken. Der Zinnsoldat stand bis zum Halse im Wasser, und tiefer und tiefer sank das Boot, mehr und mehr löste das Papier sich auf; nun ging das Wasser über des Soldaten Kopf. Da dachte er an die kleine, niedliche Tänzerin, die er nie mehr zu Gesicht bekommen sollte, und es klang vor des Zinnsoldaten Ohren:

\AMquote{
        ``Fahre, fahre Kriegsmann! \\
        Den Tod mußt Du erleiden!''
}

Nun ging das Papier entzwei und der Zinnsoldat stürzte hindurch, wurde aber augenblicklich von einem großen Fisch verschlungen.

Wie war es dunkel dadrinnen! Da war es noch schlimmer als unter der Rinnsteinbrücke, und dann war es so sehr eng; aber der Zinnsoldat war standhaft und lag so lang er war, mit dem Gewehre im Arm.

Der Fisch fuhr umher, er machte die allerschrecklichsten Bewegungen; endlich wurde er ganz still, es fuhr wie ein Blitzstrahl durch ihn hin. Das Licht schien ganz klar und jemand rief laut: ``Der Zinnsoldat!'' Der Fisch war gefangen worden, auf den Markt gebracht, verkauft und war in die Küche hinaufgekommen, wo die Köchin ihn mit einem großen Messer aufschnitt. Sie nahm mit zwei Fingern den Soldat mitten um den Leib und trug ihn in die Stube hinein, wo alle den merkwürdigen Mann sehen wollten, der im Magen eines Fisches herumgereist war; aber der Zinnsoldat war gar nicht stolz. Sie stellten ihn auf den Tisch und da --- wie sonderbar kann es doch in der Welt zugehen! Der Zinnsoldat war in derselben Stube, in der er früher gewesen war, er sah dieselben Kinder und dasselbe Spielzeug stand auf dem Tische, das herrliche Schloß mit der niedlichen, kleinen Tänzerin; sie hielt sich noch auf dem einen Bein und hatte das andere hoch in der Luft, sie war auch standhaft; das rührte den Zinnsoldat, er war nahe daran, Zinn zu weinen, aber es schickte sich nicht. Er sah sie an, aber sie sagten gar nichts.

Da nahm der eine der kleinen Knaben den Soldaten und warf ihn gerade in den Ofen, obwohl er gar keinen Grund dafür hatte; es war sicher der Kobold in der Dose, der schuld daran war.

Der Zinnsoldat stand ganz beleuchtet da und fühlte eine Hitze, die erschrecklich war; aber ob sie von dem wirklichen Feuer oder von der Liebe herrührte, das wußte er nicht. Die Farben waren ganz von ihm abgegangen; ob das auf der Reise geschehen oder ob der Kummer daran schuld war, konnte niemand sagen. Er sah das kleine Mädchen an, sie blickte ihn an, und er fühlte, daß er schmelze, aber noch stand er standhaft mit dem Gewehre im Arm. Da ging eine Thür auf, der Wind ergriff die Tänzerin und sie flog, einer Sylphide gleich, gerade in den Ofen zum Zinnsoldaten, loderte in Flammen auf und war verschwunden, da schmolz der Zinnsoldat zu einem Klumpen, und als das Mädchen am folgenden Tage die Asche herausnahm, fand sie ihn als ein kleines Zinnherz; von der Tänzerin hingegen war nur der Stern noch da, und der war kohlschwarz gebrannt.

Eine Geschichte

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\AMsection{Eine Geschichte}

Im Garten standen alle Apfelbäume in Blüte; sie hatten sich beeilt, um Blüten zu bekommen, ehe die grünen Blätter kamen. Im Hofe waren alle Enten draußen und die Katze auch. Sie schleckte wohl wirklich den Sonnenschein! Sie schleckte ihn von ihrer eigenen Pfote. Und sah man übers Feld hin, da stand das Korn so herrlich und grün, und es war ein Zwitschern und Quinquilieren bei all den kleinen Vögeln, als ob ein großes Fest sei; und das konnte man wohl auch sagen, denn es war Sonntag. Die Glocken läuteten, und die Leute gingen in ihren schönsten Kleidern zur Kirche und alle sahen fröhlich aus. Ja, an jedem Ding war auch etwas Erfreuliches und es war ein Tag, so warm und hell, daß man wohl sagen konnte: ``Der liebe Gott ist wahrhaftig grenzenlos gut gegen uns Menschen.''

Aber in der Kirche drinnen stand der Pfarrer auf der Kanzel und sprach so laut und böse. Er sagte, daß die Menschen so gottlos seien und daß Gott sie dafür strafen würde, und wenn sie gestorben seien, kämen die Bösen hinab in die Hölle, wo sie ewig brennen müßten. Und er sagte, daß der nagende Wurm in ihnen nie sterben würde, nie würden die Feuer dort unten gelöscht werden und niemals fänden sie Rast oder Ruh. Das war gar gräßlich anzuhören und er war seiner Sache so gewiß. Er beschrieb ihnen die Hölle wie eine stinkende Höhle, in der der Schmutz der ganzen Welt zusammenflöße, da wehte kein Lüftlein, nur die heiße Schwefelflamme, da wäre kein Boden, sie sänken und sänken, tief in ein ewiges Schweigen. Allein schon das Hören war schauerlich, aber dem Pfarrer kam alles dies überzeugend aus tiefstem Herzensgrund, und alle Leute in der Kirche entsetzten sich. Aber draußen sangen all die kleinen Vögel so fröhlich, und die Sonne schien so warm, es war, als ob jede kleine Blume sagen wollte: Gott ist so unendlich gut gegen uns aller --- ja, draußen war es gar nicht so, wie es der Pfarrer gepredigt hatte.

Am Abend zur Schlafenszeit sah der Pfarrer seine Frau still und gedankenvoll dasitzen.

``Was fehlt Dir?'' fragte er sie.

``Ja, was fehlt mir eigentlich,'' sagte sie, ``mir fehlt, daß ich nicht recht meine Gedanken sammeln kann, daß es mir nicht recht stimmen will, was Du sagst, daß es soviele Gottlose gäbe, die ewig brennen müßten, ewig --- ach, wie lange. Ich bin nur ein sündiger Mensch, aber ich könnte es nicht über mein Herz bringen, selbst den schlimmsten Sünder ewig brennen zu lassen; wie wollte es da der liebe Gott können, er, der so unendlich gut ist, er, der weiß, wie das Böse von außen und innen an uns herantritt. Nein, ich kann es mir nicht denken, obwohl Du es sagst.''

Es war Herbst. Das Laub fiel von den Bäumen; der ernste, strenge Pfarrer saß am Bette einer Sterbenden. Eine fromme Gläubige schloß ihre Augen; es war die Pfarrerin.

``Findet jemand Frieden im Grabe und Gnade bei Gott, so bist Du es!'' sagte der Pfarrer, und er faltete ihre Hände und sprach ein Gebet über die Tote.

Sie wurde zu Grabe getragen; zwei schwere Tränen rollten über die Wangen des ernsten Mannes nieder. Im Pfarrhofe war es stille und leer; der Sonnenschein darin war erloschen, sie war ja fortgegangen.

Es war Nacht. Ein kalter Wind blies über das Haupt des Pfarrers; er schlug die Augen auf und es war, als ob der Mond in seine Stube hereinscheine, aber der Mond schien nicht. Eine Gestalt war es, die vor seinem Bette stand; er sah den Geist seiner gestorbenen Frau. Sie blickte ihn so tief betrübt an, es war, als wolle sie etwas sagen.

Und der Mann richtete sich halb empor und streckte die Arme nach ihr aus. ``Auch Dir ist nicht die ewige Ruhe vergönnt? Du leidest? Du, die Beste, die Frömmeste?''

Und die Tote neigte ihr Haupt zu einem ja und legte die Hand auf die Brust.

``Kann ich Dir die Ruhe im Grabe geben?''

``Ja'' tönte es.

``Und wie?''

``Gib mir ein Haar, nur ein einziges Haar vom Haupte eines Sünders, für den das Feuer nie erlöschen soll, des Sünders, den Gott in die Hölle zu ewiger Pein hinabstoßen will.''

``Ja, so leicht konntest nur Du erlöst werden, Du Reine, Du Fromme'' sagte er.

``So folge mir!'' sagte die Tote. ``So ist es uns vergönnt. An meiner Seite schwebst Du, wohin Deine Gedanken es wollen. Unsichibar für die Menschen stehen wir vor den heimlichsten Kammern ihres Herzens, aber mit sicherer Hand mußt Du auf den zu ewiger Qual Verdammten zeigen, und vor dem Hahnenschrei muß er gefunden sein.''

Und hurtig, mit Gedankenschnelle, waren sie in der grollen Stadt. Von den Wänden der Häuser leuchteten mit feurigen Buchstaben die Namen der Todsünden: Hochmut, Geiz, Trunksucht, Wollust, kurz, der ganze siebenfarbige Bogen der Sünde.

``Ja, dort drinnen, wie ich es glaube, wie ich es wußte,'' sagte der Pfarrer, ``hausen die dem ewigen Feuer Geweihten.'' Und sie standen vor einem prächtig erleuchteten Portal, wo breite Treppen mit Teppichen und Blumen geschmückt waren und durch die festlichen Säle Ballmusik erklang. Der Schweizer stand davor in Sammet und Seide mit einem großen silberbeschlagenen Stock.

``Unser Ball kann sich mit dem des Königs wohl messen!'' sagte er und wandte sich dem Straßendpöbel zu; von Kopf zu Fuß leuchtete ein Gedanke aus ihm: ``Elendes Pack, das hier zur Pforte hereingafft! Gegen mich seid Ihr alle Kanaillen.''

``Hochmut'' sagte die Tote, ``siehst Du ihn?''

``Ihn,'' wiederholte der Pfarrer, ``ja aber er ist ein Tropf, ein Narr nur, er wird nicht zu ewigem Feuer und ewiger Pein verdammt werden.''

``Ein Narr nur'' erklang es durch das ganze Haus des Hochmuts, das waren sie alle darin.

Und sie flogen in die nackten vier Wände des Geizigen hinein, wo dürr und klappernd vor Kälte, hungrig und durstig, sich ein Greis mit allen seinen Gedanken an sein Gold klammerte. Sie sahen, wie er im Fieber von dem elenden Lager sprang und einen losen Stein aus der Mauer nahm. Da lagen Goldstücke in einem Strumpfe. Er tastete sein lumpiges Hemd ab, in das Goldstücke genäht waren, und die feuchten Finger zitterten.

``Er ist krank. Das ist Wahnwitz, ein freudloser Wahnwitz, umringt von Angst und bösen Träumen.''

Und sie entfernten sich hastig und standen vor der Pritsche der Verbrecher, auf der sie in langer Reihe, Seite an Seite, schliefen. Wie ein wildes Tier fuhr einer aus dem Schlafe empor, einen häßlichen Schrei ausstoßend; er schlug mit seinen spitzen Ellenbogen nach seinem Kameraden; der wandte sich schläfrig um:

``Halts Maul, Du Vieh, und schlaf --- das ist jede Nacht -!''

``Jede Nacht'' wiederholte der andere, ``ja jede Nacht kommt er und heult und würgt mich. In der Hitze habe ich manches getan, der zähe Zorn ist mir angeboren, der hat mich nun das zweite Mal hier herein gebracht. Aber habe ich schlecht getan, so habe ich nun meine Strafe. Nur eins habe ich nicht bekannt. Als ich das letzte Mal hier heraus kam und am Hofe meines letzten Herrn vorbeikam, kochte es in mir empor --- ich strich ein Schwefelholz an der Mauer an, dort wo das Strohdach anstößt. Alles brannte; die Hitze fiel darüber her, wie sie über mich herfällt. Ich half das Vieh und die Bewohner retten. Nichts Lebendes verbrannte außer einer Schar Tauben, die ins Feuer hineinflogen, und dann der Kettenhund. An den hatte ich nicht gedacht. Man konnte ihn heulen hören --- und dies Heulen höre ich noch immer wenn ich schlafen will. Und kommt endlich der Schlaf, dann kommt auch der Hund, groß und zottig. Er legt sich über mich, heult, und drückt und erwürgt mich. So hör doch, was ich erzähle! Schnarchen kannst Du, schnarchen die ganze Nacht, und ich nicht eine kurze Viertelstunde.'' Und das Blut stieg dem Hitzigen zu Kopfe, er warf sich über den Kameraden und schlug ihn mit der geballten Faust ins Gesicht.

``Der wütende Mads ist wieder verrückt geworden.'' rief es ringsumher, und die anderen Verbrecher faßten ihn, rangen mit ihm und bogen ihn krumm, daß der Kopf zwischen den Beinen saß. Dort banden sie ihn fest. Das Blut sprang ihm fast aus den Augen und allen Poren.

``Ihr tötet ihn'' rief der Pfarrer, ``den Unglücklichen.'' Und indem er abwehrend die Hand über den Sünder hinstreckte, der schon hier zu hart leiden mußte, es wechselte die Szene. Sie flogen durch reiche Säle und durch ärmliche Stuben; Wollust, Mißgunst, alle Todsünden schritten an ihnen vorbei. Ein Engel des Gerichts verlas ihre Sünden und ihre Verantwortung. Die war zwar gering vor Gott, aber Gott liest in den Herzen, er kennt alles, das Böse das von außen und das, was von innen kommt, er, der Gnädige und Alliebende.

Des Pfarrers Hand zitterte, er wagte sie nicht auszustrecken, nicht ein Haar von des Sünders Haupt zu reißen. Und die Tränen strömten aus seinen Augen wie Wasser der Gnade und Liebe, die der Hölle ewiges Feuer löschen.

Da krähte der Hahn.

``Erbarmender Gott. Gib ihr die Ruhe im Grabe, die ich ihr nicht einzulösen vermochte.''

``Die habe ich nun,'' sagte die Tote, ``es war Dein hartes Wort, dein finsterer Menschenglaube von Gott und seinen Geschöpfen, der mich zu Dir trieb. Erkenne die Menschen, in welchen selbst bei den Bösen ein Teil von Gott ist, ein Teil, der siegen und die Feuer der Hölle löschen wird.''

Und ein Kuß wurde auf des Pfarrers Mund gedrückt, es leuchtete hell um ihn; Gottes lichte Sonne schien in die Kammer, wo seine Frau, lebendig, sanft und liebevoll, ihn aus einem Traume weckte, der ihm von Gott gesandt war.

Das Judenmädchen

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\AMsection{Das Judenmädchen}

Unter den anderen Kindern in der Armenschule war auch ein kleines Judenmädchen, aufgeweckt und gut, die flinkeste unter allen; aber an einer der Lehrstunden konnte sie nicht teilnehmen, das war die Religionsstunde, sie war ja in einer christlichen Schule.

Sie durfte ihr Geografiebuch vor sich haben und darin lesen oder ihre Rechenaufgaben fertig machen, aber das war bald getan. Es lag wohl ein Buch aufgeschlagen vor ihr, aber sie las nicht darin, sie saß und hörte zu, und bald bemerkte der Lehrer, daß sie seinen Worten folgte, wie fast keines der anderen Kinder.

``Lies in Deinem Buche!'' sagte er mild und ernst, aber sie sah ihn mit ihren strahlenden schwarzen Augen an, und als er sie auch fragte, wußte sie besser Bescheid als die andern alle. Sie hatte gehört, verstanden und wohl behalten.

Ihr Vater war ein armer, braver Mann; er hatte sich, als er seine Tochter der Schule anvertraute, ausbedungen, daß sie nicht im christlichen Glauben unterwiesen werden dürfe. Sie in dieser Lehrstunde fort gehen zu lassen, hätte vielleicht bei den anderen Ärgernis erregt, und den Kleinen Gedanken und Gefühle eingegeben, die nicht berechtigt waren, also war sie geblieben, aber das durfte nicht länger geschehen.

Der Lehrer ging zu dem Vater und sagte ihm, er müsse entweder sein Kind aus der Schule nehmen oder sie Christin werden lassen. ``Ich kann es nicht ertragen, diese brennenden Augen, diese Innigkeit und diesen seelischen Durst nach den Worten des Evangeliums'' sagte der Lehrer.

Der Vater brach in Tränen aus: ``Ich selbst weiß nur wenig von unserer eigenen Religion, aber ihre Mutter war eine Tochter Israels, fest und stark in ihrem Glauben, und ihr gab ich auf ihrem Sterbebette das Versprechen, daß unser Kind niemals christlich getauft werden solle; ich muß mein Versprechen halten, es ist für mich dasselbe, wie ein Pakt mit Gott.''

Und das kleine Judenmädchen wurde aus der christlichen Schule genommen.

Jahre waren vergangen. In einem der kleinsten Marktflecken Jütlands diente in einem geringen bürgerlichen Hause ein armes Mädchen mosaischen Glaubens; es war Sara. Ihr Haar war schwarz wie Ebenholz, ihre Augen dunkel und doch voller Licht und Glanz, wie es den Töchtern des Orients eigen ist. Der Ausdruck des nun völlig erwachsenen Mädchens war noch der gleiche wie bei dem Kinde, da sie auf der Schulbank saß und mit gedankenvollem Blick zuhörte.

Jeden Sonntag tönte aus der Kirche Orgelklang und der Gesang der Gemeinde; es klang über die Straße bis in das gegenüberliegende Haus hinein, wo das Judenmädchen bei seiner Arbeit stand, treu und fleißig in ihrem Beruf. ``Gedenke des Sabbaths und halte ihn heilig'' war ihr Gesetz, aber ihr Sabbath war den Christen ein Arbeitstag, und sie konnte ihn nur in ihrem Herzen heilig halten, doch das schien ihr nicht genug. Aber was sind Tag und Stunde vor Gott. Dieser Gedanke war in Ihrer Seele erwacht, und am Sonntag der Christen wurde nun ihre Andachtsstunde ungestörter. Drang der Orgelklang und der fromme Gesang der Gemeinde zu ihr in die Küche hinüber, so wurde selbst dieser Ort still und geheiligt. Das alte Testament, ihres Volkes Schatz und Eigentum, las sie dann, und nur dies, denn was ihr Vater und der Lehrer zu ihr sprachen, als sie von der Schule genommen wurde, das Versprechen, das der Vater ihrer sterbenden Mutter gegeben hatte, daß Sara nie Christin werden und den Glauben der Väter verleugnen sollte, hatte einen tiefen Eindruck in ihrer Seele hinterlassen. Das Neue Testament war ihr ein verschlossenes Buch und sollte es bleiben, und doch wußte sie soviel noch daraus, leuchtend stand es in den Erinnerungen ihrer Kindheit. Eines Abends saß sie in einer Ecke der Stube und hörte den Hausherrn laut vorlesen, und sie durfte ihm lauschen, war es doch nicht das Evangelium, nein, aus einem alten Geschichtenbuche wurde vorgelesen; sie durfte getrost zuhören. Es handelte sich von einem ungarischen Ritter, der von einem türkischen Pascha gefangen worden war und der ihn mit den Ochsen zusammen vor einen Pflug spannen, ihn mit Peitschenschlägen antreiben und endlich verhöhnen und Hunger und Durst leiden ließ.

Des Ritters Gemahlin verkaufte all ihren Schmuck, verpfändete Burg und Land, seine Freunde schossen große Summen zusammen, denn fast unerschwinglich war das Lösegeld, das verlangt wurde. Aber es wurde zuwege gebracht und er wurde aus Schmach und Sklaverei erlöst. Krank und leidend kam er in seine Heimat zurück. Aber bald ertönte wieder der Ruf an Alle gegen die Feinde des Christentums. Der Kranke hörte davon und fand nicht Rast noch Ruhe, er ließ sich auf sein Streitroß heben, Blut durchströmte seine Wangen wieder, die Kräfte schienen zurückzukehren und er zog aus zum Siege. Just der Pascha, der ihn hatte vor den Pflug spannen, ihn verhöhnen und leiden lassen, wurde jetzt sein Gefangener und wurde von ihm in sein Burgverließ geführt. Aber schon nach der ersten Stunde kam der Ritter und fragte seinen Gefangenen: ``Was glaubst Du wohl, was Deiner wartet?''

``lch weiß es'' antwortete der Türke, ``Vergeltung''

``Ja die Vergeltung des Christen!'' sagte der Ritter. ``Das Christentum gebietet uns, unseren Feinden zu vergeben, unsere Nächsten zu lieben. Gott ist die Liebe. Ziehe in Frieden nach Deiner Heimat zu Deinen Lieben, und werde milde und gut gegen die, welche leiden!''

Da brach der Gefangene in Tränen aus. ``Wie hätte ich glauben können, daß solches möglich sei! Peinigungen und Martern schienen mir gewiß und ich nahm ein Gift, das mich in wenigen Stunden töten wird. Ich muß sterben, es gibt keine Hülfe. Aber bevor ich sterbe, verkünde mir die Lehre, die eine solche Liebe und Gnade in sich schließt, sie ist groß und göttlich! Laß mich in dieser Lehre sterben, als ein Christ sterben.'' Und seine Bitte wurde erfüllt.

Das war die Geschichte, die Legende, die vorgelesen wurde; alle hörten und folgten ihr mit Eifer. Doch am brennendsten, am lebendigsten davon erfüllt war die, welche stumm in der Ecke saß, das Dienstmädchen Sara, das Judenmädchen. Große schwere Tränen standen in ihren leuchtenden, kohlschwarzen Augen. Sie saß dort mit dem gleichen Kindersinn, mit dem sie einst auf der Schulbank gesessen und die Größe des Evangeliums in sich aufgenommen hatte. Tränen rollten über ihre Wangen.

``Laß mein Kind keine Christin werden!'' waren der Mutter letzte Worte auf dem Sterbebette. Diese Worte klangen in ihrem Herzen und in ihrer Seele wieder, zugleich mit den Worten des Gesetzes: ``Ehre Deinen Vater und Deine Mutter.''

``Ich bin ja keine Christin. Sie nennen mich das Judenmädchen. Des Nachbars Knaben riefen es mir am letzten Sonntag im Spott zu, als ich vor der offenen Kirchentür stehen blieb und hinein sah, wie die Altarlichter brannten und die Gemeinde sang. Von der Schulzeit bis auf diesen Tag liegt für mich eine Macht im Christentum, die wie Sonnenschein, ob ich auch meine Augen schließe, in mein Herz dringt. Aber, Mutter, ich will Dich im Grabe nicht betrüben. Ich werde das Versprechen, das der Vater Dir gab, nicht brechen! Ich will nicht die christliche Bibel lesen? ich habe ja den Gott der Väter, an den ich mein Haupt lehnen kann.''

Und die Jahre vergingen.

Der Hausherr starb, die Hausfrau geriet in mißliche Verhältnisse, das Dienst\-mäd\-chen war entbehrlich. Aber Sara verließ sie nicht, sie war die Hülfe in der Not, sie hielt das Ganze zusammen. Bis in die späte Nacht arbeitete sie und schaffte durch ihrer Hände Arbeit Brot ins Haus. Es gab keinen nahen Verwandten, der sich der Familie annahm, und die Frau wurde Tag für Tag schwacher und lag schon seit Monaten auf dem Krankenlager. Sara wachte, pflegte sie, arbeitete milde und fromm, ein Segen für das arme Haus.

``Dort liegt die Bibel'' sagte die Kranke. ``Lies mir an diesem langen Abend etwas vor, ich sehne mich so innig danach, Gottes Wort zu hören.''

Sara senkte das Haupt; ihre Hände falteten sich um die Bibel, die sie öffnete und der Kranken vorlas. Oft brach sie in Tränen aus, aber ihre Augen wurden klarer und in ihrer Seele wurde es licht. ``Mutter, Dein Kind wird nicht der Christen Taufe empfangen, nicht in ihrer Gemeinschaft genannt werden, das hast Du gefordert und das werde ich halten, auf dieser Erde sind wir eins, aber darüber hinaus ist es größer, mit Gott eins zu sein. Er führt uns über den Tod hinaus. Er suchet die Erde heim und macht sie durstig, um sie zu erquicken! Ich verstehe es und weiß doch selbst nicht, wie es gekommen ist. Es geschieht durch ihn und in ihm: Christus.''

Und sie zitterte bei der Nennung dieses heiligen Namens, eine Feuertaufe durchströmte sie stärker, als ihr Leib es zu tragen vermochte. Und sie sank zusammen, kraftloser als die Kranke, bei der sie wachte.

``Arme Sara'' sagte man, ``sie ist von der Arbeit und den Nachtwachen über\-an\-strengt.''

Und sie wurde krank ins Armenhaus gebracht; dort starb sie und wurde begraben, aber nicht auf dem christlichen Friedhofe, da gab es kein Plätzchen für das Judenmädchen, nein, draußen an der Mauer wurde sie begraben.

Und Gottes Sonne, die auf die Gräber der Christen herableuchtete, schien auch auf des Judenmädchens Grab dort an der Mauer, und die Psalmen, die auf dem Kirchhofe der Christen gesungen wurden, erklangen auch über ihrem Grabe und auch die Verkündigung drang zu ihr hinaus: ``Es gibt eine Auferstehung in Christo'' in ihm, der zu seinen Jüngern gesprochen hatte: ``Johannes taufte mit Wasser, aber Ihr sollt mit dem Heiligen Geiste getauft werden!''

Holger Danske

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\AMsection{Holger Danske}

In Dänemark liegt ein altes Schloß, das heißt Kronburg, es liegt ganz dicht am Sund, wo die großen Schiffe jeden Tag zu Hunderten vorbeifahren, sowohl englische, als russische und deutsche, und sie begrüßen das alte Schloß mit Kanonen: ``Bum!'' und das alte Schloß antwortet mit Kanonen: ``Bum!'' Denn so sagen die Kanonen ``Guten Tag!'' --- ``Schönen Dank!'' --- Im Winter segeln da keine Schiffe, alsdann ist alles mit Eis bedeckt, bis hinunter zur schwedischen Küste, sodaß das Wasser wie eine große Landstraße aussieht. Da weht die dänische Flagge und die dänische und schwedische Bevölkerung sagt einander: ``Guten Tag!'' --- ``Schönen Dank!'', aber nicht mit Kanonen, nein, mit freundlichem Handschlag, und der eine holt Weißbrot und Brezeln bei dem andern, denn fremde Kost schmeckt am besten. Aber das Herrlichste am Ganzen ist doch das alte Kronburg, und unter diesem ist es, wo Holger Danske in dem tiefen, finstern Keller sitzt, wo niemand hinkommt. Er ist in Eisen und Stahl gekleidet und stützt sein Haupt auf die starken Arme, sein langer Bart hängt über den Marmortisch hinaus, worin er fest gewachsen ist, er schläft und träumt, aber im Traum sieht er alles, was oben in Dänemark vorgeht. Jeden Weihnachtsabend kommt ein Engel Gottes und sagt ihm, daß das richtig ist, was er geträumt hat, und daß er ruhig wieder schlafen kann, denn Dänemark befindet sich noch in keiner wirklichen Gefahr. Gerät es aber dereinst in solche, ja, dann wird der alte Holger Danske sich erheben, sodaß der Tisch berstet, wenn er den Bart zurückzieht. Dann kommt er wieder hervor und schlägt so gewaltig darein, daß er in allen Ländern der Erde gehört wird.

Ein alter Großvater saß und erzählte alles dieses vom Holger Danske seinem kleinen Enkel, und der kleine Knabe wußte, daß das, was der Großvater sagte, wahr sei. Während der Alte saß und erzählte, schnitzte er an einem großen Holzbilde, welches Holger Danske darstellen und an dem Vorderteil eines Schiffes angebracht werden sollte; denn der alte Großvater war Bildschnitzer, und das ist ein Mann, der Figuren für die äußerste Spitze der Schiffe ausschneidet, je nachdem jedes Schiff benannt werden soll, und hier hatte er nun Holger Danske ausgeschnitzt, der schlank und stolz mit seinem langen Bart dastand und in der einen Hand das breite Schlachtschwert hielt, während er sich mit der andern Hand auf das dänische Reichswappen stützte.

Der alte Großvater erzählte so viel von ausgezeichneten dänischen Männern und Frauen, daß es dem kleinen Enkel am Ende vorkam, als wisse er nun ebensoviel, wie Holger Danske wissen könne, der es ja doch nur träumte; und als der Kleine in sein Bett kam, dachte er so viel daran, daß er sein Kinn gegen die Bettdecke preßte und meinte, er habe einen langen Bart, der daran festgewachsen sei.

Aber der alte Großvater blieb bei seiner Arbeit sitzen und schnitzte an dem letzten Teil desselben, das war das dänische Wappen; als er fertig war, betrachtete er das Ganze und dachte an alles, was er gelesen und gehört, und was er diesen Abend dem kleinen Knaben erzählt hatte; und er nickte, trocknete seine Brille ab, setzte sie wieder auf und sagte: ``Ja, während meiner Lebenszeit kehrt Holger Danske wohl nicht wieder, aber der Knabe dort im Bette kann ihn vielleicht zu sehen bekommen und mit dabei sein, wenn es einst wirklich gilt.'' Und der alte Großvater nickte, und je mehr er seinen Holger Danske anblickte, desto deutlicher wurde es ihm, daß es ein gutes Bild sei, was er gemacht habe; es schien ihm Farbe zu bekommen, und daß der Harnisch wie Eisen und Stahl glänzte; die Herzen im dänischen Wappen wurden mehr und mehr rot, und die Löwen sprangen, mit der Goldkrone auf dem Kopf.

``Das ist doch das schönste Wappen, was man auf der Erde hat!'' sagte der Alte. ``Die Löwen sind die Stärke und die Herzen die Milde und Liebe!'' Er betrachtete den ersten Löwen und gedachte des Königs Knud, der das große England an Dänemarks Thron fesselte, und er blickte den zweiten Löwen an, und er dachte an Waldemar, der Dänemark vereinigte und die wendischen Länder bezwang, er besah den dritten Löwen und dachte an Margarethe, die Dänemark, Schweden und Norwegen vereinigte. Indem er aber die roten Herzen betrachtete, da leuchteten sie noch stärker als zuvor, sie wurden zu Flammen, die sich bewegten, und sein Geist folgte einer jeden derselben.

Die erste Flamme führte ihn in ein enges, dunkles Gefängnis hinein. Da saß eine Gefangene, ein schönes Weib, Christian des Vierten Tochter: Eleonore Ulfeld, und die Flamme setzte sich einer Rose gleich an ihren Busen und blühte mit ihrem Herzen in einander, sie, die edelste und beste aller dänischen Frauen.

``Ja, das ist ein Herz in Dänemarks Wappen!'' sagte der alte Großvater.

Und sein Geist folgte der zweiten Flamme, die ihn auf das Meer hinausführte, wo die Kanonen donnerten, wo die Schiffe in Rauch gehüllt lagen; und die Flamme heftete sich als Ordensband auf Hvitfeldt's Brust, als er zur Errettung der Flotte sich und sein Schiff in die Luft sprengte.

Die dritte Flamme führte ihn nach Grönlands erbärmlichen Hütten, wo der Prediger Hans Egede mit Liebe in Wort und That stand, die Flamme war ein Stern auf seiner Brust, ein Herz zum dänischen Wappen.

Und des alten Großvaters Geist ging der schwebenden Flamme voran, denn sein Geist wußte, wohin die Flamme wollte. In der ärmlichen Stube der Bäuerin stand Friedrich der Sechste und schrieb seinen Namen mit Kreide an den Balken. Die Flamme bebte auf seiner Brust, bebte in seinem Herzen; in der Stube des Bauers wurde sein Herz ein Herz im dänischen Wappen. Und der alte Großvater trocknete seine Augen, denn er hatte König Friedrich mit den silberweißen Haaren und den ehrlichen, blauen Augen gekannt und für ihn gelebt, und er faltete seine Hände und blickte still vor sich hin. Da trat des alten Großvaters Schwiegertochter herein und sagte, daß es schon spät sei, nun solle er ruhen, denn der Abendtisch sei gedeckt.

``Aber schön ist es, was Du gemacht hast, Großvater!'' sagte sie. ``Holger Danske und unser ganzes Wappen! --- Es ist mir gerade, als hätte ich das Gesicht schon früher gesehen!''

``Nein, das hast Du wohl nicht gesehen!'' sagte der alte Großvater, ``aber ich habe es gesehen, und ich habe gestrebt, es ins Holz zu schneiden, so wie ich es in der Erinnerung erhalten habe. Damals war es, als die Engländer auf der Rhede lagen, am zweiten April, als wir zeigten, daß wir alte Dänen waren! Auf `Dänemark', wo ich in Steen Bille's Geschwader stand, hatte ich einen Mann zur Seite; es war, als fürchteten sich die Kugeln vor ihm! Lustig sang er alte Lieder und schoß und kämpfte, als wäre er mehr als ein Mensch. Ich erinnere mich seines Antlitzes noch; aber woher er kam, wohin er ging, weiß ich nicht, weiß niemand. Ich habe oft gedacht, das könnte der alte Holger Danske wohl selbst gewesen sein, der von Kronburg heruntergeschwommen war und uns in der Gefahr half. Das war nun mein Gedanke und dort steht sein Bild.''

Dasselbe warf einen großen Schatten gegen die Wand hinauf, selbst über einen Teil der Decke, es sah aus, als wäre es der wirkliche Holger Danske selbst, der dahinter stände, denn der Schatten bewegte sich, aber es konnte auch daher rühren, daß die Flamme des Lichtes nicht gleichmäßig brannte. Und die Schwiegertochter küßte den alten Großvater und führte ihn nach dem großen Lehnstuhl vor dem Tisch, und sie und ihr Mann, der ja des alten Großvaters Sohn und Vater des kleinen Knaben war, der im Bett lag, saßen und speisten ihr Abendbrot. Der alte Großvater sprach von den dänischen Löwen und den dänischen Herzen, von der Stärke und der Milde, und ganz deutlich erklärte er, daß es noch eine Stärke außer der gebe, welche im Schwert liege, und er zeigte nach dem Schrank, wo alte Bücher lagen, wo Holberg's sämtliche Komödien lagen, die so oft gelesen worden waren, denn sie waren so ergötzlich, daß man meinte, alle Personen vergangener Tage darin zu erkennen.

``Sieh, der hat auch zu schlagen verstanden!'' sagte der alte Großvater. ``Er hat das Unverständige und Eckige des Volkes, solange er konnte, gegeißelt!'' und der Großvater nickte zum Spiegel hin, wo der Kalender mit dem ``runden Turm'' darauf stand und sagte: ``Tycho Brahe war auch einer, der das Schwert gebrauchte, nicht um in Fleisch und Bein zu hauen, sondern um einen deutlicheren Weg zwischen alle Sterne des Himmels hinauf zu hauen! --- Und dann er, dessen Vater meinem Stande angehörte, des alten Bildschnitzers Sohn, er, den wir selbst gesehen haben mit dem weißen Haar und den breiten Schultern, er, der in allen Ländern der Erde genannt wird! Ja, er konnte hauen, ich kann nur schnitzen! Ja, Holger Danske kann in vielen Gestalten kommen, sodaß man in allen Ländern von Dänemarks Stärke hört. Wollen wir nun Bertel's Gesundheit trinken?''

Aber der kleine Knabe im Bette sah deutlich das alte Kronburg mit dem Öresund, den wirklichen Holger Danske, der tief unten mit dem Bart im Marmortisch festgewachsen saß und von allem, was hier oben geschieht, träumte. Holger Danske träumte auch von der kleinen, ärmlichen Stube, wo der Bildschnitzer saß, er hörte alles, was da gesprochen wurde, und nickte im Traum und sagte:

``Ja, erinnert Euch meiner nur, Ihr dänischen Leute, behaltet mich im Andenken! Ich komme in der Stunde der Not!'' ---

Draußen vor der Kronburg schien der klare Tag und der Wind trug die Töne des Jägerhorns herüber vom Nachbarland; die Schiffe segelten vorbei und grüßten: ``Bum! bum!'' und von Kronburg antwortete es: ``Bum! Bum!'' Aber Holger Danske erwachte nicht, so stark sie auch schossen, denn es war ja nur: ``Guten Tag!'' --- ``Schönen Dank!'' Da muß anders geschossen werden, bevor er erwachen wird; aber er erwacht einmal wohl, denn es ist Kern in Holger Danske.

Die Störche

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\AMsection{Die Störche}

Auf dem letzten Hause in einem kleinen Dorfe stand ein Storchnest. Die Storchmutter saß im Neste bei ihren vier kleinen Jungen, welche den Kopf mit dem kleinen, schwarzen Schnabel, denn der war noch nicht rot geworden, hervorstreckten. Ein kleines Stück davon entfernt stand auf dem Dachrücken ganz stramm und steif der Storchvater; er hatte das eine Bein unter sich aufgezogen, um doch einige Mühe zu haben, während er Schildwache stand. Fast hätte man glauben mögen, daß er aus Holz geschnitzt sei, so still stand er. ``Es sieht gewiß recht vornehm aus, daß meine Frau eine Schildwache beim Neste hat!'' dachte er. ``Sie können ja nicht wissen, daß ich ihr Mann bin, sie glauben sicher, daß mir befohlen worden ist, hier zu stehen. Das sieht recht vornehm aus!'' Und er fuhr fort, auf einem Beine zu stehen.

Unten auf der Straße spielte eine Schar Kinder, und da sie die Störche gewahr wurden, sang einer der mutigsten Knaben und später alle zusammen den alten Vers von den Störchen:

\AMquote{
        ``Storch, Storch, fliege heim, \\
        Stehe nicht auf einem Bein, \\
        Deine Frau im Neste liegt, \\
        Wo sie ihre Jungen wiegt. \\
        Das eine wird gehängt, \\
        Das andre wird versengt, \\
        Das dritte man erschießt, \\
        Wenn man das vierte spießt!''
}

``Höre nur, was die Kinder singen!'' sagten die kleinen Storchkinder. ``Sie singen, wir sollen gehängt und versengt werden!''

``Darum sollt Ihr Euch nicht kümmern!'' sagte die Storchmutter. ``Hört nur nicht darauf, so schadet es gar nichts!''

Aber die Knaben fuhren fort zu singen, und sie zischten den Storch mit den Fingern aus; nur ein Knabe, welcher Peter hieß, sagte, daß es unrecht sei, die Tiere zum besten zu haben, und wollte auch gar nicht mit dabei sein. Die Storchmutter tröstete ihre Jungen. ``Kümmert Euch nicht darum,'' sagte sie; ``seht nur, wie ruhig Euer Vater steht, und zwar auf einem Beine!''

``Wir fürchten uns sehr!'' sagten die Jungen und zogen die Köpfe tief in das Nest zurück.

Am nächsten Tage, als die Kinder wieder zum Spielen zusammenkamen und die Störche erblickten, sangen sie ihr Lied:

\AMquote{
        ``Das eine wird gehängt. \\
        Das andre wird versengt'' ---
}

``Werden wir wohl gehängt und versengt werden?'' fragten die jungen Störche.

``Nein, sicher nicht!'' sagte die Mutter. ``Ihr sollt fliegen lernen, ich werde Euch schon einüben; dann fliegen wir hinaus auf die Wiese und statten den Fröschen Besuch ab; die verneigen sich vor uns im Wasser, singen: `Koax, koax'; und dann essen wir sie auf. Das wird ein rechtes Vergnügen geben!''

``Und was dann?'' fragten die Storchjungen.

``Dann versammeln sich alle Störche, die hier im ganzen Lande sind, und die Herbstübung beginnt. Da muß man gut fliegen, das ist von großer Wichtigkeit; denn wer dann nicht ordentlich fliegen kann, wird vom Obersten mit dem Schnabel totgestochen; deshalb gebt wohl acht, etwas zu lernen, wenn das Üben anfängt!''

``So werden wir ja doch gespießt, wie die Knaben sagten, und hört nur, jetzt singen sie es wieder!''

``Hört auf mich und nicht auf sie,'' sagte die Storchmutter. ``Nach der großen Herbstübung fliegen wir in die warmen Länder, weit, weit von hier, über Berge und Wälder. Nach Ägypten fliegen wir, wo es dreieckige Steinhäuser giebt, die in eine Spitze auslaufen, und bis über die Wolken ragen, sie werden Pyramiden genannt, und sind älter, als ein Storch sich denken kann. Da ist auch ein Fluß, welcher aus seinem Bette tritt, dann wird das ganze Land zu Schlamm. Man geht im Schlamm und ißt Frösche.''

``O!'' sagten alle Jungen.

``Ja, da ist es herrlich! Man thut den ganzen Tag nichts anderes, als essen, und während wir es so gut haben, ist in diesem Lande nicht ein grünes Blatt auf den Bäumen; hier ist es so kalt, daß die Wolken in Stücke frieren und in kleinen weißen Lappen herunterfallen!'' Das war Schnee, den sie meinte, aber sie konnte es nicht deutlicher erklären.

``Frieren denn auch die unartigen Knaben in Stücke?'' fragten die jungen Störche.

``Nein, in Stücke frieren sie nicht, aber sie sind nahe daran, und müssen in der dunkeln Stube sitzen und duckmäusern; Ihr hingegen könnt in fremden Ländern umherfliegen, wo es Blumen und warmen Sonnenschein giebt!''

Nun war schon einige Zeit verstrichen und die Jungen waren so groß geworden, daß sie im Neste aufrecht stehen und weit umhersehen konnten, und der Storchvater kam jeden Tag mit schönen Fröschen, kleinen Schlangen und all' den Storchleckereien, die er finden konnte, geflogen. O, das sah lustig aus, wie er ihnen Kunststücke vormachte! Den Kopf legte er gerade herum auf den Schwanz, mit dem Schnabel klapperte er, als wäre er eine kleine Knarre, und dann erzählte er ihnen Geschichten, alle zusammen vom Sumpfe.

``Hört, nun müßt Ihr fliegen lernen!'' sagte eines Tages die Storchmutter, und nun mußten alle vier Jungen hinaus auf den Dachrücken. O, wie sie schwankten, wie sie mit den Flügeln sich im Gleichgewicht hielten, und doch nahe daran waren, hinunter zu fallen!

``Seht nun auf mich!'' sagte die Mutter. ``So müßt Ihr den Kopf halten, so müßt Ihr die Füße stellen! Eins, zwei! Eins, zwei! Das ist es, was Euch in der Welt forthelfen soll!'' Dann flog sie ein kleines Stück, und die Jungen machten einen kleinen, unbeholfenen Sprung. Bums! da lagen sie, denn ihr Körper war zu schwerfällig.

``Ich will nicht fliegen!'' sagte das eine Junge und kroch wieder in das Nest hinauf. ``Mir ist nichts daran gelegen, nach den warmen Ländern zu kommen!''

``Willst Du denn hier erfrieren, wenn es Winter wird? Sollen die Knaben kommen, Dich zu hängen, zu sengen und zu braten! Nun, ich werde sie rufen!''

``O nein!'' sagte der junge Storch und hüpfte wieder auf das Dach wie die andern. Den dritten Tag konnten sie schon ordentlich ein bißchen fliegen, und da glaubten sie, daß sie auch schweben und auf der Luft ruhen könnten; das wollten sie, aber bums! da purzelten sie, darum mußten sie schnell die Flügel wieder rühren. Nun kamen die Knaben unten auf der Straße und sangen ihr Lied:

\AMquote{
        ``Storch, Storch, fliege heim!''
}

``Wollen wir nicht hinunterfliegen und ihnen die Augen aushacken?'' sagten die Jungen.

``Nein, laßt das!'' sagte die Mutter. ``Hört nun auf mich, das ist weit wichtiger! Eins, zwei, drei! Nun fliegen wir rechts herum. Eins, zwei, drei! Nun links um den Schornstein! Seht, das war sehr gut; der letzte Schlag mit den Flügeln war so niedlich und richtig, daß Ihr die Erlaubnis erhalten sollt, morgen mit mir in den Sumpf zu fliegen. Da werden mehrere hübsche Storchfamilien mit ihren Kindern sein; zeigt mir nun, daß die meinen die niedlichsten sind, und daß ihr recht einherstolziert; das sieht gut aus und verschafft Ansehen!''

``Aber sollen wir denn uns nicht an den unartigen Buben rächen?'' fragten die jungen Störche.

``Laßt sie schreien, soviel sie wollen! Ihr fliegt doch zu den Wolken auf und kommt nach dem Lande der Pyramiden, wenn sie frieren müssen und kein grünes Blatt und keinen süßen Apfel haben!''

``Ja, Rache wollen wir nehmen!'' zischelten sie einander zu, und dann wurde wieder geübt.

Von allen Knaben auf der Straße war keiner ärger, das Spottlied zu singen, als gerade der, welcher damit angefangen hatte, und das war ein ganz kleiner, er war wohl nicht mehr als sechs Jahre alt. Die jungen Störche glaubten freilich, daß er hundert Jahre zähle, denn er war ja viel größer als ihre Mutter und ihr Vater, und was wußten sie davon, wie alt Kinder und große Menschen sein können! Ihre ganze Rache sollte diesen Knaben treffen, er hatte ja zuerst begonnen, und er blieb auch immer dabei; die jungen Störche waren sehr aufgebracht, und wie sie größer wurden, wollten sie es noch weniger dulden; die Mutter mußte ihnen zuletzt versprechen, daß sie schon gerächt werden sollten, aber nicht eher, als am letzten Tage, wo sie dort im Lande seien.

``Wir müssen ja erst sehen, wie Ihr Euch bei der großen Übung benehmen werdet; besteht Ihr schlecht, sodaß der Oberst Euch den Schnabel durch die Brust rennt, dann haben ja die Knaben Recht, wenigstens in Einer Hinsicht. Nun laßt uns sehen!''

``Ja, das sollst Du!'' sagten die Jungen, und so gaben sie sich alle Mühe; sie übten sich jeden Tag und flogen so niedlich und leicht, daß es eine Lust war, zuzusehen.

Nun kam der Herbst; alle Störche begannen sich zu sammeln, um fort nach den warmen Ländern zu ziehen, während wir Winter haben. Das war ein Leben! Über Wälder und Dörfer mußten sie, nur um zu sehen, wie sie fliegen könnten, denn es war ja eine große Reise, die ihnen bevorstand. Die jungen Störche machten ihre Sache so brav, daß sie ``Ausgezeichnet gut mit Frosch und Schlange'' erhielten. Das war das allerbeste Zeugnis, und den Frosch und die Schlange konnten sie essen; das thaten sie auch.

``Nun wollen wir Rache haben!'' sagten sie.

``Ja gewiß,'' sagte die Storchmutter. ``Was ich mir ausgedacht, ist gerade das Richtige! Ich weiß, wo der Teich ist, in welchem alle die kleinen Menschenkinder liegen, bis der Storch kommt und sie den Eltern bringt. Die niedlichsten kleinen Kinder schlafen und träumen so lieblich, wie sie später nie mehr träumen. Alle Eltern wollen gern solch ein kleines Kind haben, und alle Kinder wollen eine Schwester oder einen Bruder haben. Nun wollen wir nach dem Teiche hinfliegen, eins für jedes der Kinder zu holen, welche nicht das böse Lied gesungen und die Störche zum besten gehabt!''

``Aber der, welcher zu singen angefangen, der schlimme, häßliche Knabe,'' schrieen die jungen Störche, ``was machen wir mit ihm?''

``Da liegt im Teiche ein kleines, totes Kind, das hat sich tot geträumt; das wollen wir für ihn nehmen, dann muß er weinen, weil wir ihm einen toten, kleinen Bruder gebracht haben; aber dem guten Knaben --- ihn habt Ihr doch nicht vergessen, ihn, der da sagte, es sei Sünde, die Tiere zum besten zu haben? --- ihm wollen wir sowohl einen Bruder, als eine Schwester bringen, und da der Knabe Peter hieß, so sollt Ihr allesamt Peter heißen!''

Und es geschah, wie sie sagte, und so hießen alle Störche Peter, und so werden sie noch genannt.

Die Hirtin und der Schornsteinfeger

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\AMsection{Die Hirtin und der Schornsteinfeger}

Hast Du wohl je einen recht alten Holzschrank, ganz schwarz vom Alter und mit ausgeschnitzten Schnörkeln und Laubwerk daran, gesehen? Gerade ein solcher stand in einer Wohnstube; er war von der Urgroßmutter geerbt und mit ausgeschnitzten Rosen und Tulpen von oben bis unten bedeckt. Da waren die sonderbarsten Schnörkel, und aus diesen ragten kleine Hirschköpfe mit Geweihen hervor. Aber mitten auf dem Schranke stand ein ganzer Mann geschnitzt; er war freilich lächerlich anzusehen, und er grinste auch, man konnte es nicht lachen nennen; er hatte Ziegenbocksbeine, kleine Hörner am Kopfe und einen langen Bart. Die Kinder im Zimmer nannten ihn immer den Ziegenbocksbein-Ober- und Unterkriegsbefehlshaber; das war ein langes Wort, und es giebt nicht viele, die den Titel bekommen; aber ihn auszuschnitzen, das war auch etwas.

Doch nun war er ja da! Immer sah er nach dem Tische unter dem Spiegel, denn da stand eine liebliche, kleine Hirtin von Porzellan; die Schuhe waren vergoldet, das Kleid mit einer roten Rose niedlich aufgeheftet, und dann hatte sie einen Goldhut und einen Hirtenstab; sie war wunderschön. Dicht neben ihr stand ein kleiner Schornsteinfeger, so schwarz wie eine Kohle, aber auch von Porzellan; er war eben so rein und fein als irgend ein anderer; daß er ein Schornsteinfeger war, nun das war ja nur etwas, was er vorstellte; der Porzellanfabrikant hätte ebensogut einen Prinzen aus ihm machen können, denn das war einerlei.

Da stand er niedlich mit seiner Leiter und mit einem Antlitz, so weiß und rot wie ein Mädchen, und das war eigentlich ein Fehler, denn etwas schwarz hätte es doch wohl sein können. Er stand ganz nahe bei der Hirtin; sie waren beide hingestellt, wo sie standen, und da sie nun hingestellt waren, so hatten sie sich verlobt; sie paßten ja zu einander, sie waren von demselben Porzellan und beide gleich zerbrechlich.

Dicht bei ihnen stand noch eine Figur, die war dreimal größer. Es war ein alter Chinese, der nicken konnte; er war auch von Porzellan und sagte, er sei der Großvater der kleinen Hirtin, aber das konnte er freilich nicht beweisen; er behauptete, daß er Gewalt über sie habe, und deswegen hatte er dem Ziegenbocksbein-Ober- und Unterkriegsbefehlshaber, der um die kleine Hirtin freite, zugenickt.

``Da erhältst Du einen Mann,'' sagte der alte Chinese, ``einen Mann, der, wie ich fast glaube, von Mahagoniholz ist; er kann Dich zur Ziegenbocksbein-Ober-und Unterkriegsbefehlshaberin machen; er hat den ganzen Schrank voll Silberzeug, ungerechnet, was er in den geheimen Fächern hat.''

``Ich will nicht in den dunkeln Schrank hinein!'' sagte die kleine Hirtin. ``Ich habe sagen hören, daß er elf Porzellanfrauen darin hat.''

``Dann kannst Du die zwölfte sein!'' sagte der Chinese. ``Diese Nacht, sobald es in dem alten Schranke knackt, sollt Ihr Hochzeit halten, so wahr ich ein Chinese bin!'' Und dann nickte er mit dem Kopf und fiel in Schlaf.

Aber die kleine Hirtin weinte und blickte ihren Herzallerliebsten, den Porzellanschornsteinfeger, an.

``Ich möchte Dich bitten,'' sagte sie, ``mit mir in die weite Welt hinauszugehen, denn hier können wir nicht bleiben!''

``Ich will alles, was Du willst!'' sagte der kleine Schornsteinfeger. ``Laß uns gleich gehen; ich denke wohl, daß ich Dich mit meinem Handwerk ernähren kann!''

``Wenn wir nur erst glücklich von dem Tische hinunter wären!'' sagte sie. ``Ich werde erst froh, wenn wir in der weiten Welt draußen sind.''

Er tröstete sie und zeigte, wie sie ihren kleinen Fuß auf die ausgeschnittenen Ecken und das vergoldete Laubwerk am Tischfuße hinabsetzen sollte; seine Leiter nahm er auch zu Hilfe, und da waren sie auf dem Fußboden. Aber, als sie nach dem alten Schranke hinsahen, war da große Unruhe darin; alle die ausgeschnittenen Hirsche steckten die Köpfe weit hervor, erhoben die Geweihe und drehten die Hälse; der Ziegenbocksbein-Ober- und Unterkriegsbefehlshaber sprang in die Höhe und rief zum alten Chinesen hinüber: ``Nun laufen sie fort! Nun laufen sie fort!''

Da erschraken sie und sprangen geschwind in den Schubkasten des Fenstertrittes.

Hier lagen drei bis vier Spiele Karten, die nicht vollständig waren, und ein kleines Puppentheater, welches, so gut es sich thun ließ, aufgebaut war. Da wurde Komödie gespielt und alle Damen saßen in der ersten Reihe und fächelten sich mit ihren Tulpen, und hinter ihnen standen alle Buben und zeigten, daß sie Kopf hatten, sowohl oben wie unten, wie die Spielkarten es haben. Die Komödie handelte von zwei Personen, die einander nicht bekommen sollten, und die Hirtin weinte darüber, denn es war gerade wie ihre eigene Geschichte.

``Das kann ich nicht aushalten!'' sagte sie. ``Ich muß aus dem Schubkasten hinaus!'' Als sie aber auf dem Fußboden anlangten und nach dem Tische hinaufblickten, da war der alte Chinese erwacht und schüttelte mit dem ganzen Körper; unten war er ja ein Klumpen.

``Nun kommt der alte Chinese!'' schrie die kleine Hirtin und fiel auf ihre Kniee nieder, so betrübt war sie.

``Es fällt mir etwas ein,'' sagte der Schornsteinfeger. ``Wollen wir in das große Gefäß, das in der Ecke steht, hinabkriechen? Da können wir auf Rosen und Lavendel liegen und ihm Salz in die Augen werfen, wenn er kommt.''

``Das kann nichts nützen!'' sagte sie. ``Überdies weiß ich, daß der alte Chinese und das Gefäß mit einander verlobt gewesen sind, und es bleibt immer etwas Wohlwollen zurück, wenn man in solchen Verhältnissen gestanden hat. Nein, es bleibt uns nichts übrig, als in die weite Welt hinauszugehen.''

``Hast Du wirklich Mut, mit mir in die weite Welt hinauszugehen?'' fragte der Schornsteinfeger. ``Hast Du auch bedacht, wie groß die ist und daß wir nicht mehr an diesen Ort zurückkommen können?''

``Ja,'' sagte sie.

Der Schornsteinfeger sah sie fest an, und dann sagte er: ``Mein Weg geht durch den Schornstein; hast Du wirklich Mut, mit mir durch den Ofen, sowohl durch den Kasten, als durch die Röhre zu kriechen? Dann kommen wir hinaus in den Schornstein und da verstehe ich mich zu tummeln. Wir steigen so hoch, daß sie uns nicht erreichen können, und ganz oben geht ein Loch in die weite Welt hinaus.''

Und er führte sie zu der Ofenthür hin.

``Da sieht es schwarz aus!'' sagte sie, aber sie ging doch mit ihm sowohl durch den Kasten, als durch die Röhre, wo pechfinstere Nacht herrschte.

``Nun sind wir im Schornstein!'' sagte er. ``Und sieh, sieh, dort oben scheint der herrlichste Stern.''

Es war ein Stern am Himmel, der zu ihnen herabschien, gerade als wollte er ihnen den Weg zeigen. Und sie kletterten und krochen; ein greulicher Weg war es, sehr hoch, aber er hob und hielt sie und zeigte die besten Stellen, wo sie ihre kleinen Porzellanfüße hinsetzen konnten; so erreichten sie den Schornsteinrand und auf den setzten sie sich, denn sie waren tüchtig ermüdet und das konnten sie auch wohl sein.

Der Himmel mit all' seinen Sternen war oben über ihnen, und alle Dächer der Stadt tief unten; sie sahen weit umher, weit hinaus in die Welt; die arme Hirtin hatte es sich nie so gedacht, sie legte sich mit ihrem kleinen Haupte gegen ihren Schornsteinfeger und dann weinte sie, daß das Gold von ihrem Leibgürtel absprang.

``Das ist allzuviel!'' sagte sie. ``Das kann ich nicht ertragen, die Welt ist allzu groß! Wäre ich doch wieder auf dem Tische unter dem Spiegel; ich werde nie froh, ehe ich wieder dort bin! Nun bin ich Dir in die weite Welt hinaus gefolgt, nun kannst Du mich auch wieder zurückbegleiten, wenn Du etwas von mir hältst!''

Der Schornsteinfeger sprach vernünftig mit ihr von dem alten Chinesen und vom Ziegenbocksbein-Ober-und Unterkriegsbefehlshaber, aber sie schluchzte gewaltig und küßte ihren kleinen Schornsteinfeger, daß er nicht anders konnte, als sich ihr fügen, obgleich es thöricht war.

So kletterten sie wieder mit vielen Beschwerden den Schornstein hinunter und krochen durch den Kasten und die Röhre. Das war gar nichts Schönes. Und dann standen sie in dem dunklen Ofen; da horchten sie hinter der Thür, um zu erfahren, wie es in der Stube stehe. Da war es ganz still; sie sahen hinein --- ach, da lag der alte Chinese mitten auf dem Fußboden; er war vom Tische hinuntergefallen, als er hinter ihnen her wollte, und lag in drei Stücke zerschlagen; der ganze Rücken war in einem Stücke abgegangen und der Kopf war in eine Ecke gerollt; der Ziegenbocksbein-Ober- und Unterkriegsbefehlshaber stand, wo er immer gestanden hatte, und dachte nach.

``Das ist gräßlich!'' sagte die kleine Hirtin. ``Der alte Großvater in Stücke zerschlagen, und wir sind schuld daran! Das werde ich nicht überleben!'' Und dann rang sie ihre kleinen Hände.

``Er kann noch genietet werden!'' sagte der Schornsteinfeger. ``Er kann sehr gut genietet werden! Sei nur nicht heftig; wenn sie ihn im Rücken kitten und ihm eine gute Niete im Nacken geben, so wird er so gut wie neu sein und kann uns noch manches Unangenehme sagen.''

``Glaubst Du?'' sagte sie. Und dann krochen sie wieder auf den Tisch hinauf, wo sie früher gestanden hatten.

``Sieh, so weit kamen wir,'' sagte der Schornsteinfeger. ``Da hätten wir uns alle die Mühe ersparen können.''

``Hätten wir nur den alten Großvater wieder genietet!'' sagte die Hirtin. ``Wird das sehr teuer sein?''

Und genietet wurde er; die Familie ließ ihn im Rücken kitten, er bekam eine gute Niete am Halse und er war so gut wie neu, aber nicken konnte er nicht mehr.

``Sie sind wohl hochmütig geworden, seitdem Sie in Stücke geschlagen sind?'' sagte der Ziegenbocksbein-Ober- und Unterkriegsbefehlshaber. ``Mich dünkt, daß Sie nicht Ursache haben, so wichtig zu thun. Soll ich sie haben oder soll ich sie nicht haben?''

Der Schornsteinfeger und die kleine Hirtin sahen den alten Chinesen rührend an, sie fürchteten sehr, er möchte nicken; aber er konnte nicht, und das war ihm unbehaglich, einem Fremden zu erzählen, daß er beständig eine Niete im Nacken habe. Und so blieben die Porzellanleute zusammen, und sie segneten des Großvaters Niete und liebten sich, bis sie in Stücke gingen.

Der Rosenelf

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\AMsection{Der Rosenelf}

Mitten in einem Garten wuchs ein Rosenstock, der war ganz voller Rosen, und in einer derselben, der schönsten von allen, wohnte ein Elf; er war so winzig klein, daß kein menschliches Auge ihn erblicken konnte; hinter jedem Blatte in der Rose hatte er eine Schlafkammer; er war so wohlgebildet und schön, wie nur ein Kind sein konnte und hatte Flügel von den Schultern bis gerade hinunter zu den Füßen. O, welcher Duft war in seinen Zimmern, und wie klar und schön waren die Wände! Es waren ja die blaßroten Rosenblätter.

Den ganzen Tag erfreute er sich im warmen Sonnenschein, flog von Blume zu Blume, tanzte auf den Flügeln des fliegenden Schmetterlings und maß, wie viele Schritte er zu gehen hatte, um über alle Landstraßen und Steige zu gelangen, welche auf einem einzigen Lindenblatte sind. Das war, was wir die Adern im Blatte nennen, die er für Landstraßen und Steige nahm, ja das waren große Wege für ihn! Ehe er damit fertig wurde, ging die Sonne unter, er hatte auch spät damit angefangen.

Es wurde kalt, der Tau fiel und der Wind wehte; nun war es das beste, nach Hause zu kommen, er tummelte sich, so sehr er konnte, aber die Rose hatte sich geschlossen, er konnte nicht hineingelangen --- keine einzige Rose stand geöffnet. Der arme kleine Elf erschrak sehr. Er war früher nie nachts weggewesen, hatte immer süß hinter den warmen Rosenblättern geschlummert. O, das wird sicher sein Tod werden!

Am andern Ende des Gartens, wußte er, befand sich eine Laube mit schönem Jelängerjelieber, die Blumen sahen wie große, bemalte Hörner aus; in eine derselben wollte er hinabsteigen und bis morgen schlafen.

Er flog dahin. Was sah er da! Es waren zwei Menschen in der Laube, ein junger, hübscher Mann und ein schönes Mädchen; sie saßen neben einander und wünschten, daß sie sich nicht zu trennen brauchten; sie waren einander so gut, weit mehr noch, als das beste Kind seiner Mutter und seinem Vater sein kann.

``Doch müssen wir uns trennen!'' sagte der junge Mann. ``Dein Bruder mag uns nicht leiden, deshalb sendet er mich mit einem Auftrage so weit über Berge und Seen fort! Lebe wohl, meine süße Braut, denn das bist Du mir doch!''

Dann küßten sie sich, und das junge Mädchen weinte und gab ihm eine Rose. Aber bevor sie ihm dieselbe reichte, drückte sie einen Kuß darauf, so fest und so innig, daß die Blume sich öffnete. Da flog der kleine Elf in diese hinein und lehnte sein Haupt gegen die feinen, duftenden Wände; hier konnte er gut hören, daß Lebewohl gesagt wurde. Und er fühlte, daß die Rose ihren Platz an des jungen Mannes Brust erhielt. O, wie schlug doch das Herz darinnen! Der kleine Elf konnte gar nicht einschlafen, so pochte es.

Doch nicht lange lag die Rose auf der Brust. Der Mann nahm sie hervor, und während er einsam in dem dunkeln Walde ging, küßte er die Blume, so oft und stark, daß der kleine Elf fast erdrückt wurde; er konnte durch das Blatt fühlen, wie die Lippen des Mannes brannten, und die Rose selbst hatte sich, wie bei der stärksten Mittagssonne, geöffnet.

Da kam ein anderer Mann, finster und böse; es war des hübschen Mädchens schlechter Bruder. Ein scharfes und großes Messer zog er hervor, und während jener die Rose küßte, stach der schlechte Mann ihn tot, schnitt seinen Kopf ab und begrub ihn mit dem Körper in der weichen Erde unter dem Lindenbaume.

``Nun ist er vergessen und fort,'' dachte der schlechte Bruder; ``er kommt nie mehr zurück. Eine lange Reise sollte er machen, über Berge und Seen, da kann man leicht das Leben verlieren, und das hat er verloren. Er kommt nicht mehr zurück, und mich darf meine Schwester nicht nach ihm fragen.''

Dann scharrte er mit dem Fuße verdorrte Blätter über die lockere Erde und ging wieder in der dunkeln Nacht nach Hause. Aber er ging nicht allein, wie er glaubte; der kleine Elf begleitete ihn, er saß in einem vertrockneten, aufgerollten Lindenblatte, welches dem bösen Manne, als er grub, in die Haare gefallen war. Der Hut war nun darauf gesetzt, es war dunkel darin, und der Elf zitterte vor Schreck und Zorn über die schlechte That.

In der Morgenstunde kam der böse Mann nach Hause; er nahm seinen Hut ab und ging in der Schwester Schlafstube hinein. Da lag das schöne, blühende Mädchen und träumte von ihm, dem sie so gut war und von dem sie nun glaubte, daß er über Berge und durch Wälder gehe; der böse Bruder neigte sich über sie und lachte häßlich, wie nur ein Teufel lachen kann, da fiel das trockene Blatt aus seinem Haare auf die Bettdecke nieder, aber er bemerkte es nicht und ging hinaus, um in der Morgenstunde selbst ein wenig zu schlafen. Aber der Elf schlüpfte aus dem verdorrten Blatte, setzte sich an das Ohr des schlafenden Mädchens und erzählte ihr, wie in einem Traum, den schrecklichen Mord, beschrieb ihr den Ort, wo der Bruder ihn erschlagen und seine Leiche verscharrt hatte, erzählte von dem blühenden Lindenbaume dicht dabei und sagte: ``Damit Du nicht glaubst, daß es nur ein Traum sei, was ich Dir erzählt habe, so wirst Du auf Deinem Bette ein verdorrtes Blatt finden!'' Und das fand sie, als sie erwachte.

O, welche bittere Thränen weinte sie und durfte doch niemand ihren Schmerz anvertrauen! Das Fenster stand den ganzen Tag offen, der kleine Elf konnte leicht zu den Rosen und all' den übrigen Blumen nach dem Garten hinaus gelangen, aber er wagte es nicht, die Betrübte zu verlassen. Im Fenster stand ein Strauch mit Monatsrosen, in eine der Blumen setzte er sich und betrachtete das arme Mädchen. Ihr Bruder kam oft in die Kammer hinein, und war heiter trotz seiner Schlechtigkeit, aber sie durfte kein Wort über ihren Herzenskummer sagen.

Sobald es dunkel wurde, schlich sie sich aus dem Hause, ging im Walde nach der Stelle, wo der Lindenbaum stand, nahm die Blätter von der Erde, grub in dieselbe hinein und fand ihn sogleich, der erschlagen worden war. O, wie weinte sie, und bat den lieben Gott, daß er sie auch bald sterben lasse! ---

Gern hätte sie die Leiche mit sich nach Hause genommen, aber das konnte sie nicht, da nahm sie das bleiche Haupt mit den geschlossenen Augen, küßte den kalten Mund und schüttelte die Erde aus seinem schönen Haar. ``Das will ich behalten!'' sagte sie und als sie Erde und Blätter auf den toten Körper gelegt hatte, nahm sie den Kopf und einen kleinen Zweig von dem Jasminstrauch, der im Wald blühte, wo er begraben war, mit sich nach Hause.

Sobald sie in ihrer Stube war, holte sie sich den größten Blumentopf, der zu finden war, in diesen legte sie des Toten Kopf, schüttete Erde darauf und pflanzte dann den Jasminzweig in den Topf.

``Lebewohl! Lebewohl!'' flüsterte der kleine Elf, er konnte es nicht länger ertragen, all' diesen Schmerz zu sehen, und flog deshalb hinaus zu seiner Rose im Garten; aber die war abgeblüht, da hingen nur einige bleiche Blätter an der grünen Hagebutte.

``Ach, wie bald ist es doch mit all' dem Schönen und Guten vorbei!'' seufzte der Elf. Zuletzt fand er eine Rose wieder, die wurde sein Haus, hinter ihren feinen und duftenden Blättern konnte er wohnen.

Jeden Morgen flog er nach dem Fenster des armen Mädchens, und da stand sie immer bei dem Blumentopf und weinte. Die bitteren Thränen fielen auf den Jasminzweig, und mit jedem Tage, wie sie bleicher und bleicher und bleicher wurde, stand der Zweig frischer und grüner da, ein Schößling trieb nach dem andern hervor, kleine, weiße Knospen blühten auf, und sie küßte sie, aber der böse Bruder schalt und fragte, ob sie närrisch geworden sei? Er konnte es nicht begreifen, weshalb sie immer über den Blumentopf weine. Er wußte ja nicht, welche Augen da geschlossen und welche roten Lippen da zu Erde geworden waren; sie neigte ihr Haupt gegen den Blumentopf, und der kleine Elf von der Rose fand sie so schlummern; da setzte er sich in ihr Ohr, erzählte von dem Abend in der Laube, vom Duft der Rose, und der Elfen Liebe; sie träumte süß, und während sie träumte, entschwand das Leben, sie war eines stillen Todes verblichen, sie war bei ihm, den sie liebte, im Himmel.

Und die Jasminblumen öffneten ihre großen, weißen Glocken, sie dufteten eigentümlich süß, anders konnten sie nicht über die Tote weinen.

Aber der böse Bruder betrachtete den schön blühenden Strauch, nahm ihn als ein Erbgut zu sich, und setzte ihn in seine Schlafstube, dicht beim Bette, denn er war herrlich anzuschauen und der Duft war süß und lieblich. Der kleine Rosenelf folgte mit, flog von Blume zu Blume, in jeder wohnte ja eine kleine Seele, und der erzählte er von dem ermordeten jungen Mann, dessen Haupt nun Erde unter der Erde war, erzählte von dem bösen Bruder und der armen Schwester.

``Wir wissen es,'' sagte eine jede Seele in den Blumen, ``wir wissen es! Sind wir nicht aus des Erschlagenen Augen und Lippen entsprossen? Wir wissen es; wir wissen es!'' Und dann nickten sie sonderbar mit dem Kopfe.

Der Rosenelf konnte es gar nicht begreifen, wie sie so ruhig sein konnten, und flog hinaus zu den Bienen, die Honig sammelten, erzählte ihnen die Geschichte von dem bösen Bruder, und die Bienen sagten es ihrer Königin, welche befahl, daß sie alle am nächsten Morgen den Mörder umbringen sollten.

Aber in der Nacht vorher, es war die erste Nacht, welche auf den Tod der Schwester folgte, als der Bruder in seinem Bette dicht neben dem duftenden Jasminstrauch schlief, öffnete sich ein jeder Blumenkelch, unsichtbar, aber mit giftigen Spießen, stiegen die Blumenseelen hervor und setzten sich zuerst in seine Ohren und erzählten ihm böse Träume, flogen darauf über seine Lippen und stachen seine Zunge mit den giftigen Spießen. ``Nun haben wir den Toten gerächt!'' sagten sie und flogen zurück in des Jasmins weiße Glocken.

Als es Morgen wurde, und das Fenster der Schlafstube geöffnet wurde, fuhr der Rosenelf mit der Bienenkönigin und dem ganzen Bienenschwarm herein, um ihn zu töten.

Aber er war schon tot; es standen Leute rings um das Bett, die sagten: ``Der Jasminduft hat ihn getötet!''

Da verstand der Rosenelf der Blumen Rache, und er erzählte es der Königin der Bienen, und sie summte mit ihrem ganzen Schwarm um den Blumentopf; die Bienen waren nicht zu verjagen; da nahm ein Mann den Blumentopf fort und eine der Bienen stach seine Hand, sodaß er den Topf fallen ließ und er zerbrach.

Da sahen sie den bleichen Totenschädel, und sie wußten, daß der Tote im Bette ein Mörder war.

Die Bienenkönigin summte in der Luft und sang von der Rache der Blumen und von dem Rosenelf, und daß hinter dem geringsten Blatte einer wohnt, der das Böse erzählen und rächen kann!

Die Glocke

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\AMsection{Die Glocke}

Des Abends in den schmalen Straßen der großen Stadt, wenn die Sonne unterging und die Wolken oben wie Gold zwischen den Schornsteinen glänzten, hörte häufig bald der eine, bald der andere einen sonderbaren Laut, wie den Klang einer Kirchenglocke, aber man hörte es nur einen Augenblick, denn da war ein starkes Rasseln von Wagen und störendes Rufen. ``Nun läutet die Abendglocke!'' sagte man, ``nun geht die Sonne unter!''

Die, welche außerhalb der Stadt waren, wo die Häuser weiter von einander entfernt standen, mit Gärten und kleinen Feldern dazwischen, die sahen den Abendhimmel noch prächtiger und hörten den Klang der Glocke weit stärker, es war, als käme der Ton von einer Kirche tief aus dem stillen, duftenden Walde, und die Leute blickten dorthin und wurden ganz andächtig.

Nun verstrich längere Zeit. Der eine sagte zum andern: ``Ob wohl eine Kirche draußen im Walde ist? Die Glocke hat doch einen eigentümlich herrlichen Klang, wollen wir nicht hinaus und sie näher betrachten?'' Die reichen Leute fuhren und die Armen gingen, aber der Weg wurde ihnen erstaunlich lang, und als sie zu einer Menge Weidenbäume kamen, die am Rande des Waldes wuchsen, da lagerten sie sich und blickten zu den langen Zweigen hinauf und glaubten, daß sie nun recht im Grünen seien. Der Bäcker kam hinaus und schlug sein Zelt auf, und dann kam noch einer, er hing eine Glocke gerade über seinem Zelte auf und zwar eine Glocke, die geteert war, um den Regen aushalten zu können, aber der Klöppel fehlte. Wenn dann die Leute wieder nach Hause gingen, sagten sie, daß es wunderschön gewesen sei. Drei Personen versicherten, daß sie in den Wald hineingegangen seien bis dahin, wo er ende, und sie hatten immer den sonderbaren Glockenklang gehört, aber es war ihnen dort gerade, als wenn er aus der Stadt komme. Der eine schrieb ein ganzes Lied davon und sagte, daß die Glocke wie die Stimme einer Mutter zu einem lieben, klugen Kinde klinge, keine Melodie sei herrlicher, als der Klang der Glocke.

Der Kaiser des Landes wurde auch aufmerksam darauf und versprach, daß der, welcher ausfindig machen könne, woher der Schall komme, den Titel eines ``Weltglöckners'' haben solle, und das selbst, wenn es auch keine Glocke sei.

Nun gingen viele deswegen nach dem Walde, aber da war nur einer, der mit einer Art Erklärung zurückkehrte. Keiner war tief genug eingedrungen, und er ebenso wenig, aber er sagte doch, daß der Glockenton von einer sehr alten Eule in einem hohlen Baum herkomme, das sei eine Weisheitseule, die ihren Kopf fortwährend gegen den Baum schlage; aber ob der Ton von ihrem Kopfe oder dem hohlen Stamme komme, das könne er noch nicht mit Bestimmtheit sagen, und dann wurde er als Weltglöckner angestellt, und schrieb jedes Jahr eine kleine Abhandlung über die Eule; man war darum eben so klug als vorher.

Nun war es gerade ein Einsegnungstag; der Prediger hatte schön und innig gesprochen, die Kinder waren sehr bewegt gewesen, es war ein wichtiger Tag für sie, sie wurden aus Kindern mit einemmal zu erwachsenen Menschen, die Kinderseele sollte nun gleichsam in eine verständigere Person hinüberfliegen. Es war der herrlichste Sonnenschein, die Kinder gingen aus der Stadt hinaus, und vom Walde erklang die große unbekannte Glocke ganz besonders stark. Sie bekamen sogleich Lust, dahin zu gelangen, und zwar bis auf drei; ein Mädchen wollte nach Hause gehen und ihr Ballkleid anziehen, denn es war gerade das Kleid und der Ball, welchen sie verdankte, das sie dieses Mal eingesegnet worden war, denn sonst wäre sie nicht mitgekommen; der zweite war ein armer Knabe, welcher Rock und Stiefeln vom Sohne des Wirtes geliehen hatte, und die mußte er zur bestimmten Zeit zurückliefern; der dritte sagte, daß er nie an einen fremden Ort gehe, wenn seine Eltern nicht dabei seien, daß er immer ein artiges Kind gewesen, und das wolle er auch bleiben, und darüber soll man sich nicht lustig machen! --- Aber das thaten die andern dennoch.

Drei von ihnen gingen also nicht mit, die andern trabten davon. Die Sonne schien und die Vögel sangen, und die Kinder sangen mit und hielten einander bei den Händen. Aber bald ermüdeten zwei der Kleinsten, kehrten um und gingen wieder zur Stadt; zwei kleine Mädchen setzten sich und banden Kränze, sie kamen auch nicht mit, und als die andern die Weidenbäume erreichten, wo der Bäcker war, da sagten sie: ``Sieh, nun sind wir draußen, die Glocke existiert ja doch eigentlich nicht, sie ist nur etwas, was man sich einbildet!''

Da ertönte plötzlich tief im Walde die Glocke so schön und feierlich, daß vier oder fünf sich entschlossen, doch weiter in den Wald hineinzugehen. Der war dicht belaubt, es war außerordentlich beschwerlich vorzudringen, Waldlilien und Anemonen wuchsen fast allzuhoch, blühende Winden und Brombeerranken hingen in langen Guirlanden von Baum zu Baum, wo die Nachtigallen sangen und die Sonnenstrahlen spielten. O, das war herrlich, aber für die Mädchen war es kein gangbarer Weg, sie würden sich die Kleider zerrissen haben. Da lagen große Felsstücke mit Moos von allen Farben bewachsen, das frische Quellwasser quoll hervor und wunderbar tönte es gleich wie ``Kluck, kluck!''

``Das ist wohl die Glocke!'' sagte eines der Kinder, und legte sich nieder und horchte. ``Das muß man ordentlich hören!'' da blieb es und ließ die andern gehen.

Sie kamen zu einem Hause von Baumrinde und Zweigen; ein großer Baum mit wilden Äpfeln lehnte sich darüber hin, als wolle er seinen Segen über das Dach ausschütten, welches blühende Rosen trug; die langen Zweige lagen gerade um den Giebel hin und an diesem hing eine kleine Glocke. Sollte es diese sein, die man gehört hatte? Ja, darin stimmten alle überein, bis auf einen, der sagte, daß die Glocke zu klein und fein sei, als daß sie in solcher Entfernung gehört werden könne, wie sie sie gehört hatten, und daß es ganz andere Töne seien, die ein Menschenherz rühren. Der, welcher so sprach, war ein Königssohn, und da sagten die andern, er wolle immer klüger sein.

Dann ließen sie ihn allein gehen, und wie er ging, wurde seine Brust mehr und mehr von der Einsamkeit des Waldes erfüllt; aber noch hörte er die kleine Glocke, über die sich die andern erfreuten und mitunter, wenn der Wind die Töne vom Bäcker herübertrug, konnte er auch hören, wie dort gesungen wurde. Aber die tiefen Glockenschläge tönten doch stärker, bald war es, als spielte eine Orgel dazu, der Schall kam von der linken Seite, auf der das Herz sitzt.

Nun rasselte es im Busche, und da stand ein Knabe vor dem Königssohn, ein Knabe in Holzschuhen und mit einer so kurzen Jacke, daß man sehen konnte, wie lange Handgelenke er hatte. Sie kannten einander, der Knabe war eben derjenige von den Knaben, der nicht hatte mitkommen können, weil er nach Hause mußte, um Rock und Stiefel an des Wirtes Sohn abzuliefern. Das hatte er gethan und war nun in Holzschuhen und den ärmlichen Kleidern allein davon gegangen, denn die Glocke klang so stark und tief; er mußte hinaus.

``Da können wir ja zusammen gehen!'' sagte der Königssohn. Aber der arme Knabe mit den Holzschuhen war ganz verschämt, er zupfte an den kurzen Ärmeln der Jacke und sagte, er fürchte, er könne nicht so rasch mitkommen, überdies meinte er, daß die Glocke zur Rechten gesucht werden müsse, denn dieser Platz habe ja alles Große und Herrliche.

``Ja, dann begegnen wir uns gar nicht!'' sagte der Königssohn, und nickte dem armen Knaben zu, der in den tiefsten, dichtesten Teil des Waldes hineinging, wo die Dornen seine ärmlichen Kleider entzwei, und Antlitz, Hände und Füße blutig rissen. Der Königssohn erhielt auch einige tüchtige Risse, aber die Sonne beschien doch seinen Weg, und er ist es, dem wir nun folgen, denn es war ein flinker Bursche.

``Die Glocke muß und will ich finden,'' sagte er, ``wenn ich auch bis zum Weltende gehen muß!''

Die häßlichen Affen saßen oben in den Bäumen und grinsten mit allen ihren Zähnen. ``Wollen wir ihn prügeln?'' sagten sie, ``wollen wir ihn dreschen? Er ist ein Königssohn!''

Aber er ging unverdrossen tiefer und tiefer in den Wald, wo die wunderbarsten Blumen wuchsen; da standen weiße Steinlilien mit blutroten Staubfäden, himmelblaue Tulpen, die im Winde funkelten, und Äpfelbäume, deren Äpfel ganz und gar wie große, glänzende Seifenblasen aussahen; wie mußten die Bäume im Sonnenlichte strahlen! Ringsum, um die schönsten, grünen Wiesen, wo Hirsch und Hindin im Grase spielten, wuchsen prächtige Eichen und Buchen, und war von einem der Bäume die Rinde gesprungen, so wuchsen Gras und lange Ranken in den Spalten; da waren auch große Waldstrecken mit stillen Landseen, worin weiße Schwäne schwammen und mit den Flügeln schlugen. Der Königssohn stand oft still und horchte, oft glaubte er, daß von einem dieser tiefen Seen die Glocke zu ihm herauf klinge, aber dann merkte er wohl, daß es nicht daher komme, sondern daß die Glocke noch tiefer im Walde ertöne.

Nun ging die Sonne unter, die Luft erglänzte rot wie Feuer, es wurde still im Walde, und er sank auf seine Kniee, sang seinen Abendpsalm und sagte: ``Nie finde ich, was ich suche; nun geht die Sonne unter, nun kommt die Nacht, die finstere Nacht! Doch einmal kann ich die Sonne vielleicht noch sehen, bevor sie ganz hinter der Erde versinkt. Ich will dort auf die Klippen hinaufsteigen, ihre Höhe erreicht die der höchsten Bäume!''

Und er ergriff nun Ranken und Wurzeln und kletterte an den nassen Steinen empor, wo die Wasserschlangen sich wanden, wo die Kröten ihn gleichsam anbellten; aber hinauf kam er, bevor die Sonne, von dieser Höhe gesehen, ganz untergegangen war. O, welche Pracht! Das Meer, das große, herrliche Meer, welches seine langen Wogen gegen die Küste wälzte, streckte sich vor ihm aus, und die Sonne stand wie ein großer, glänzender Altar da draußen, wo Meer und Himmel sich begegnen. Alles schmolz in glühenden Farben zusammen, der Wald sang und das Meer sang, und sein Herz sang mit, die ganze Natur war eine große Kirche, worin Bäume und schwebende Wolken die Pfeiler, Blumen und Gras die gewebte Samtdecke, und der Himmel selbst die große Kuppel bildeten. Dort oben erloschen die roten Farben, indem die Sonne verschwand, aber Millionen Sterne wurden angezündet, da glänzten Millionen Diamantlampen, und der Königssohn breitete seine Arme gegen den Himmel, gegen den Wald und gegen das Meer aus, und da kam plötzlich, von dem rechten Seitenwege, der arme Knabe mit den kurzen Ärmeln und den Holzschuhen; er war ebenso zeitig angelangt, er war auf seinem Wege dahingekommen, und sie liefen einander entgegen und hielten sich bei den Händen in der großen Kirche der Natur und der Poesie, und über ihnen ertönte die unsichtbare, heilige Glocke, selige Geister umschwebten diese zu einem jubelnden Hallelujah!

Die Geschichte von einer Mutter

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\AMsection{Die Geschichte von einer Mutter}

Da saß eine Mutter bei ihrem kleinen Kinde, sie war sehr betrübt und besorgt, daß es sterben möchte. Es war ganz bleich, die kleinen Augen hatten sich geschlossen, es atmete leise und zuweilen mit einem tiefen Zuge, als ob es seufze; und die Mutter sah noch trauriger auf das kleine Wesen.

Es klopfte an die Thür und da kam ein armer, alter Mann, der wie in eine Pferdedecke gehüllt war, denn die wärmt, und ihn fror. Es war ja ein kalter Winter, draußen lag alles voll Eis und Schnee, und der Wind blies, daß es einem ins Gesicht schnitt.

Da der alte Mann vor Kälte bebte und das Kind einen Augenblick schlief, so ging die Mutter hin und stellte Bier in einem kleinen Topf in den Ofen, daß es warm für ihn werden möchte. Und der alte Mann saß und wiegte, und die Mutter setzte sich auf den Stuhl dicht neben ihn, betrachtete ihr krankes Kind, das tief Atem holte, und hob die kleine Hand empor.

``Glaubst Du nicht auch, daß ich ihn behalten werde?'' sagte sie. ``Der liebe Gott wird ihn mir nicht nehmen!''

Und der alte Mann, es war der Tod selbst, der nickte sonderbar, das konnte ebenso gut ja als nein bedeuten. Die Mutter schlug die Augen nieder und die Thränen rollten ihr über die Wangen. Ihr Haupt wurde schwer, in drei Nächten und Tagen hatte sie ihre Augen nicht geschlossen und nun schlief sie, aber nur einen Augenblick, dann fuhr sie empor und zitterte vor Kälte. ``Was ist das?'' sagte sie und blickte nach allen Seiten; aber der alte Mann war fort, und ihr kleines Kind war fort, er hatte es mitgenommen, und dort in der Ecke schnurrte die alte Uhr, das große Bleigewicht schnurrte und fiel gerade bis auf den Fußboden, bum! und da stand auch die Uhr still.

Aber die arme Mutter lief aus dem Hause und rief nach ihrem Kinde.

Draußen, mitten im Schnee, saß eine Frau, in langen, schwarzen Kleidern, die sagte: ``Der Tod ist in Deinem Zimmer gewesen, ich sah ihn mit Deinem kleinen Kinde davon eilen, er geht schneller als der Wind, er bringt nie wieder, was er nahm!''

``Sage mir nur, welchen Weg er eingeschlagen hat!'' sagte die Mutter, ``zeige mir den Weg an und ich werde ihn finden!''

``Den kenne ich,'' sagte die Frau in schwarzen Kleidern, ``aber ehe ich ihn Dir sage, mußt Du mir erst alle die Lieder vorsingen, die Du Deinem Kinde vorgesungen hast! Ich liebe sie, ich habe sie früher gehört, ich bin die Nacht, ich sah Deine Thränen, während Du sangst.''

``Ich will sie alle, alle singen!'' sagte die Mutter, ``aber halte mich nicht auf, damit ich ihn erreichen, damit ich mein Kind finden kann!''

Aber die Nacht saß stumm und still, da rang die Mutter die Hände, sang und weinte, und es waren viele Lieder, aber noch mehr Thränen; und dann sagte die Nacht: ``Gehe rechts in den dunklen Tannenwald, dahin sah ich den Tod den Weg mit Deinem kleinen Kinde nehmen.''

Tief in dem Walde kreuzten sich die Wege und sie wußte nicht mehr, wohin sie gehen sollte. Da stand ein Dornbusch, es waren weder Blätter noch Blumen an demselben, es war ja auch in der kalten Winterzeit, und es lag Schnee und Eis auf seinen Zweigen.

``Hast Du nicht den Tod mit meinem kleinen Kinde vorbeigehen sehen?''

``Ja!'' sagte der Dornbusch, ``aber ich sage Dir nicht, welchen Weg er genommen, wenn Du mich nicht erst an Deinem Herzen erwärmen willst; ich erfriere, ich werde ganz und gar zu Eis!''

Und sie drückte den Dornbusch an ihre Brust, recht fest, damit er recht erwärmt werden könnte, und die Dornen gingen in ihr Fleisch hinein und ihr Blut floß in großen Tropfen, aber der Dornbusch trieb frische, grüne Blätter, und bekam Blumen in der kalten Winternacht, so warm war es an dem Herzen der betrübten Mutter, und der Dornbusch bezeichnete ihr den Weg, den sie einschlagen sollte.

Da kam sie an einen großen See, wo sie weder ein Schiff noch ein Boot fand. Der See war noch nicht fest genug gefroren, um sie tragen zu können, und auch nicht offen und flach genug, sodaß sie ihn hätte durchwaten können, und über denselben mußte sie hinüber, wenn sie ihr Kind finden wollte. Da legte sie sich nieder, um den See auszutrinken, aber das ist für einen Menschen unmöglich; die betrübte Mutter dachte jedoch, daß vielleicht ein Wunder geschehen werde. ---

``Nein, das geht nicht!'' sagte der See, ``laß uns lieber sehen, ob wir uns einigen können. Ich liebe es, Perlen zu sammeln, und Deine Augen sind die beiden klarsten, die ich je erblickt habe, willst Du sie in mich ausweinen, so will ich Dich nach dem großen Treibhause hinüber tragen, wo der Tod wohnt und Blumen und Bäume pflegt, jeder von diesen ist ein Menschenleben!''

``O, was gebe ich nicht, um zu meinem Kinde zu kommen!'' sagte die betrübte Mutter, und sie weinte noch mehr, und ihre Augen sanken auf den Grund des Sees und wurden zwei köstliche Perlen. Aber der See erhob sie, als ob sie in einer Schaukel säße und sie flog in einer Schwingung an das jenseitige Ufer, wo ein meilenbreites Haus stand. Man wußte nicht recht, ob es ein Berg mit Wald und Höhlen, oder ob es gezimmert war, aber die arme Mutter konnte es nicht sehen, sie hatte ja ihre Augen ausgeweint.

``Wo werde ich den Tod finden, der mit meinem kleinen Kinde davongegangen ist?'' fragte sie.

``Hier ist er noch nicht angekommen,'' sagte die alte Grabfrau, welche auf das große Treibhaus des Todes acht haben mußte. ``Wie hast Du Dich hierher finden können und wer hat Dir geholfen?''

``Der liebe Gott hat mir geholfen!'' sagte sie, ``er ist barmherzig und das wirst Du auch sein! Wo kann ich mein kleines Kind finden?''

``Ja, ich kenne es nicht,'' sagte die Frau, ``und Du kannst ja nicht sehen! --- Viele Blumen und Bäume sind über Nacht verdorrt, der Tod wird bald kommen und sie umpflanzen! Du weißt wohl, daß jeder Mensch seinen Lebensbaum oder seine Blume hat, je nachdem ein jeder beschaffen ist; sie sehen wie andere Gewächse aus, aber sie haben Herzschlag; des Kindes Herz kann auch schlagen! Halte Dich daran, vielleicht erkennst Du den Herzschlag Deines Kindes, aber was giebst Du mir, wenn ich Dir sage, was Du noch mehr zu thun hast?''

``Ich habe nichts zu geben,'' sagte die betrübte Mutter, ``aber ich will für Dich bis ans Ende der Welt gehen!''

``Ja, dort habe ich nichts zu schaffen,'' sagte die Frau, ``aber Du kannst mir Dein langes, schwarzes Haar geben, Du weißt wohl selbst, daß es schön ist, und mir gefällt es! Du kannst mein weißes dafür bekommen, das ist doch immer etwas!''

``Verlangst Du weiter nichts,'' sagte sie, ``das gebe ich Dir mit Freuden!'' Und sie gab der Alten ihr schönes Haar und erhielt deren schneeweißes dafür.

Dann gingen sie in das große Treibhaus des Todes, wo Blumen und Bäume wunderbar durcheinander wuchsen. Da standen feine Hyacinthen unter Glasglocken und da standen große, baumstarke Pfingstrosen; da wuchsen Wasserpflanzen, einige recht frisch, andere kränklich, Wasserschlangen legten sich auf dieselben und schwarze Krebse klemmten sich am Stengel fest. Da standen schöne Palmenbäume, Eichen und Platanen, da stand Petersilie und blühender Thymian, jeder Baum und jede Blume hatte ihren Namen, sie waren jeder ein Menschenleben, der Mensch lebte noch, der eine in China, der andere in Grönland, ringsumher auf der Erde. Da waren große Bäume in kleinen Töpfen, sodaß sie ganz verkrüppelt dastanden und nahe daran waren, den Topf zu sprengen. An manchen Stellen stand auch eine kleine schwächliche Blume in fetter Erde, mit Moos ringsumher bedeckt und gepflegt. Aber die betrübte Mutter beugte sich über alle die kleinsten Pflanzen und hörte, wie in ihnen das Menschenherz schlug, und unter Millionen erkannte sie das Herz ihres Kindes wieder.

``Das ist es!'' rief sie und streckte die Hand über eine kleine blaue Crocus aus, welche ganz krank nach der einen Seite hinüberhing.

``Berühre die Blume nicht!'' sagte die alte Frau, ``aber stelle Dich hierher, und wenn dann der Tod kommt --- ich erwarte ihn jeden Augenblick --- dann laß ihn die Pflanze nicht ausreißen, und drohe ihm, daß Du dasselbe mit den andern Pflanzen thun würdest, dann wird ihm bange werden! Er ist dem lieben Gott dafür verantwortlich, ohne dessen Erlaubnis keine ausgerissen werden darf.''

Auf einmal sauste es eiskalt durch den Saal und die blinde Mutter konnte fühlen, daß es der Tod war, der da kam.

``Wie hast Du den Weg hierher finden können?'' fragte er. ``Wie konntest Du schneller hierher gelangen, als ich?''

``Ich bin eine Mutter!'' sagte sie.

Und der Tod streckte seine lange Hand nach der kleinen, feinen Blume aus, aber sie hielt ihre Hände fest um dieselbe, fest und dennoch besorgt, daß sie eines der Blätter berühren möchte. Da blies der Tod auf ihre Hände und sie fühlte, daß dies kälter war, als der kalte Wind, und ihre Hände sanken matt herab.

``Du vermagst doch nichts gegen mich!'' sagte der Tod. ---

``Aber das vermag der liebe Gott!'' sagte sie.

``Ich thue nur, was er will!'' sagte der Tod. ``Ich bin sein Gärtner! Ich nehme alle seine Blumen und Bäume und verpflanze sie in den Garten des Paradieses, in das unbekannte Land, aber wie sie dort wachsen und wie es dort ist, das darf ich Dir nicht sagen!''

``Gieb mir mein Kind zurück!'' sagte die Mutter und weinte und bat. Mit einemmal griff sie mit jeder Hand um zwei hübsche Blumen neben sich und rief dem Tode zu: ``Ich reiße alle Deine Blumen ab, denn ich bin in Verzweifelung!''

``Rühre sie nicht an!'' sagte der Tod, ``Du sagst, Du seiest unglücklich und nun willst Du eine andere Mutter eben so unglücklich machen!''

``Eine andere Mutter!'' sagte die arme Frau und ließ sogleich beide Blumen los.

``Da hast Du Deine Augen!'' sagte der Tod, ``ich habe sie aus dem See aufgefischt, sie leuchteten so stark, ich wußte nicht, daß es die Deinigen waren; nimm sie wieder, sie sind jetzt klarer als zuvor, sieh dann in den tiefen Brunnen hier nebenbei hinab, ich werde die Namen der beiden Blumen nennen, die Du ausreißen wolltest und Du wirst ihre ganze Zukunft, ihr ganzes Menschenleben erblicken, sieh, was Du zerstören und zu Grunde richten wolltest.''

Sie sah in den Brunnen hinab und es war eine Glückseligkeit zu sehen, wie der eine ein Segen für die Welt ward, zu sehen, wie viel Glück und Freude sich ringsum entfaltete. Und sie erblickte das Leben der andern, und es war Trauer und Not, Jammer und Elend.

``Beides ist Gottes Wille!'' sagte der Tod.

``Welche ist die Blume des Unglücks und welche die des Segens?'' fragte sie.

``Das sage ich Dir nicht!'' sagte der Tod, ``aber das sollst Du von mir erfahren, daß die eine Blume die Deines eigenen Kindes war, es war das Schicksal Deines Kindes, die Zukunft Deines eigenen Kindes!''

Da schrie die Mutter erschrocken auf: ``Welche von ihnen war mein Kind? Sage mir das, erlöse das Unschuldige! Befreie mein Kind von all' dem Elend, trage es lieber fort! Trage es in Gottes Reich! Vergiß meine Zähren, vergiß meine Bitten und alles, was ich gesagt und gethan habe!''

``Ich verstehe Dich nicht!'' sagte der Tod. ``Willst Du Dein Kind zurückhaben, oder soll ich mit ihm da hineingehen, wo Du nicht weißt, wie es ist?'' ---

Da rang die Mutter ihre Hände, fiel auf ihre Kniee und betete zum lieben Gott: ``Erhöre mich nicht, wenn ich gegen Deinen Willen, welcher der beste ist, bitte! Erhöre mich nicht! Erhöre mich nicht!''

Und sie neigte ihr Haupt auf ihre Brust herab.

Der Tod aber ging mit ihrem Kinde in das unbekannte Land.

Der fliegende Koffer

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\AMsection{Der fliegende Koffer}

Es war einmal ein Kaufmann, der war so reich, daß er die ganze Straße und fast noch eine kleine Gasse mit Silbergeld pflastern konnte; aber das that er nicht, er wußte sein Geld anders anzuwenden, und gab er einen Groschen aus, so bekam er einen Thaler wieder, ein so kluger Kaufmann war er --- bis er starb.

Der Sohn bekam nun all' dieses Geld und er lebte lustig, ging jeden Tag einem anderen Vergnügen nach, machte Papierdrachen von Thalerscheinen, und warf in das Wasser mit Goldstücken, anstatt mit einem Steine. So konnte das Geld wohl zu Ende gehen; zuletzt besaß er nicht mehr als vier Groschen und hatte keine anderen Kleider als ein paar Schuhe und einen alten Schlafrock. Nun kümmerten sich seine Freunde nicht mehr um ihn, da sie ja nicht zusammen auf die Straße gehen konnten; aber einer von ihnen, der gutmütig war, sandte ihm einen alten Koffer mit der Bemerkung: ``Packe ein!'' Ja, das war nun ganz gut, aber er hatte nichts einzupacken, darum setzte er sich selbst in den Koffer.

Das war ein merkwürdiger Koffer. Sobald man an das Schloß drückte, konnte der Koffer fliegen. Das that nun der Mann und sogleich flog er mit dem Koffer durch den Schornstein hoch über die Wolken hinauf, weiter und weiter fort; so oft aber der Boden ein wenig krachte, war er sehr in Angst, daß der Koffer in Stücke gehe, denn alsdann hätte er einen ganz tüchtigen Luftsprung gemacht; Gott bewahre uns! So kam er nach dem Lande der Türken. Den Koffer verbarg er im Walde unter verdorrten Blättern und ging dann in die Stadt hinein; das konnte er auch recht gut, denn bei den Türken gingen ja alle so wie er in Schlafrock und Pantoffeln. Da begegnete er einer Amme mit einem kleinen Kinde. ``Höre Du, Türkenamme,'' fragte er, ``was ist das für ein großes Schloß hier dicht bei der Stadt, wo die Fenster so hoch sitzen?''

``Da wohnt die Tochter des Königs!'' erwiderte diese. ``Es ist prophezeit, daß sie über einen Geliebten sehr unglücklich werden würde, und deshalb darf niemand zu ihr kommen, wenn nicht der König und die Königin mit dabei sind!''

``Ich danke!'' sagte der Kaufmannssohn, ging hinaus in den Wald, setzte sich in seinen Koffer, flog auf das Dach und kroch durch das Fenster zur Prinzessin.

Sie lag auf dem Sopha und schlief; sie war so schön, daß der Kaufmannssohn sie küssen mußte; sie erwachte und erschrak gewaltig, aber er sagte, er sei der Türkengott, der durch die Luft zu ihr heruntergekommen sei, und das gefiel ihr.

So saßen sie bei einander, und er erzählte ihr Geschichten von ihren Augen; das waren die herrlichsten, dunklen Seen, und da schwammen die Gedanken gleich Meerweibchen; und er erzählte von ihrer Stirn, die war ein Schneeberg mit den prächtigsten Sälen und Bildern; und er erzählte vom Storch, der die lieblichen, kleinen Kinder bringt.

Ja, das waren schöne Geschichten! Dann freite er um die Prinzessin und sie sagte sogleich ja!

``Aber Sie müssen am Sonnabend herkommen,'' sagte sie, ``da sind der König und die Königin bei mir zum Thee! Sie werden sehr stolz darauf sein, daß ich den Türkengott bekomme, aber sehen Sie zu, daß Sie ein recht hübsches Märchen wissen, denn das lieben meine Eltern ganz außerordentlich; meine Mutter will es erbaulich und vornehm und mein Vater belustigend haben, sodaß man lachen kann!''

``Ja, ich bringe keine andere Brautgabe als ein Märchen!'' sagte er, und so schieden sie, aber die Prinzessin gab ihm einen Säbel, der war mit Goldstücken besetzt, und die konnte er gerade gebrauchen.

Nun flog er fort, kaufte sich einen neuen Schlafrock und saß dann draußen im Walde und dichtete ein Märchen; das sollte bis zu Sonnabend fertig sein, und das ist nicht leicht.

Es wurde fertig, und da war es Sonnabend.

Der König, die Königin und der ganze Hof warteten mit dem Thee bei der Prinzessin. Er wurde freundlich empfangen.

``Wollen Sie uns nun ein Märchen erzählen,'' sagte die Königin, ``eins, das tiefsinnig und belehrend ist?''

``Aber worüber man doch lachen kann!'' sagte der König.

``Jawohl!'' erwiderte er und erzählte; da muß man nun gut aufpassen.

``Es war einmal ein Bund Schwefelhölzer, die waren außerordentlich stolz auf ihre hohe Herkunft; ihr Stammbaum, das heißt, die große Fichte, wovon sie jedes ein kleines Hölzchen waren, war ein großer, alter Baum im Walde gewesen. Die Schwefelhölzer lagen nun in der Mitte zwischen einem alten Feuerzeuge und einem alten, eisernen Topfe, und diesem erzählten sie von ihrer Jugend. `Ja, als wir auf dem grünen Zweige waren,' sagten sie, `da waren wir wirklich auf einem grünen Zweig! Jeden Morgen und Abend gab es Diamantthee, das war der Thau, den ganzen Tag hatten wir Sonnenschein, wenn die Sonne schien, und alle die kleinen Vögel mußten uns Geschichten erzählen. Wir konnten wohl merken, daß wir auch reich waren, denn die Laubbäume waren nur im Sommer bekleidet, aber unsere Familie hatte Mittel zu grünen Kleidern sowohl im Sommer, als im Winter. Doch da kam der Holzhauer, und unsere Familie wurde zersplittert; der Stammherr erhielt Platz als Hauptmast auf einem prächtigen Schiffe, welches die Welt umsegeln konnte, wenn es wollte, die anderen Zweige kamen nach anderen Orten, und wir haben nun das Amt, der niedrigen Menge das Licht anzuzünden; deshalb sind wir vornehmen Leute hier in die Küche gekommen.'

`Mein Schicksal gestaltete sich auf eine andere Weise!' sagte der Eisentopf, an dessen Seite die Schwefelhölzer lagen. `Vom Anfang an, seit ich in die Welt kam, bin ich vielmal gescheuert und gekocht worden; ich sorge für das Dauerhafte und bin der Erste hier im Hause. Meine einzige Freude ist, nach Tische rein und sauber an meinem Platze zu liegen und ein vernünftiges Gespräch mit den Kameraden zu führen; doch wenn ich den Wassereimer ausnehme, der hin und wieder einmal nach dem Hof hinunter kommt, so leben wir immer innerhalb der Thüren. Unser einziger Neuigkeitsbote ist der Marktkorb, aber der spricht zu unruhig über die Regierung und das Volk; ja, neulich war da ein alter Topf, der vor Schreck darüber niederfiel und sich in Stücke schlug; der ist gut gesinnt, sage ich Euch!' --- `Nun sprichst Du zu viel!' fiel das Feuerzeug ein, und der Stahl schlug gegen den Feuerstein, daß es sprühte. `Wollen wir uns nicht einen lustigen Abend machen?'

`Ja, laßt uns davon sprechen, wer der Vornehmste ist!' sagten die Schwefelhölzer.

`Nein, ich liebe es nicht, von mir selbst zu reden,' wendete der Thontopf ein. `Laßt uns eine Abendunterhaltung veranstalten. Ich werde anfangen, ich werde etwas erzählen, was ein jeder erlebt hat; da kann man sich leicht darein finden, und es ist sehr erfreulich! An der Ostsee bei den dänischen Buchen --- '

`Das ist ein hübscher Anfang!' sagten die Teller. `Das wird sicher eine Geschichte, die uns gefällt!'

`Ja, da verlebte ich meine Jugend bei einer stillen Familie; die Möbel wurden geputzt, die Fußböden gescheuert, und alle vierzehn Tage wurden neue Vorhänge aufgehängt!'

`Wie gut Sie erzählen!' sagte der Haarbesen. `Man kann gleich hören, daß ein Frauenzimmer erzählt; es geht etwas Reines hindurch!'

`Ja, das fühlt man!' sagte der Wassereimer und machte vor Freude einen kleinen Sprung, sodaß es auf dem Fußboden klatschte.

Der Topf fuhr zu erzählen fort, und das Ende war ebenso gut als der Anfang.

Alle Teller klapperten vor Freude und der Haarbesen zog grüne Petersilie aus dem Sandloche und bekränzte den Topf, denn er wußte, daß es die andern ärgern werde. `Bekränze ich ihn heute,' dachte er, `so bekränzt er mich morgen.'

`Nun will ich tanzen!' sagte die Feuerzange und tanzte. Ja, Gott bewahre uns, wie konnte sie das eine Bein in die Höhe strecken! Der alte Stuhlbezug dort im Winkel platzte, als er es sah. `Werde ich nun auch bekränzt?' fragte die Feuerzange, und das wurde sie.

`Das ist das gemeine Volk!' dachten die Schwefelhölzer.

Nun sollte die Theemaschine singen, aber sie sagte, sie sei erkältet, sie könne nicht, wenn sie nicht koche; doch das war bloße Vornehmthuerei; sie wollte nicht singen, wenn sie nicht drinnen bei der Herrschaft auf dem Tische stand.

Im Fenster saß eine alte Feder, womit das Mädchen zu schreiben pflegte; es war nichts Bemerkenswertes an ihr, außer daß sie gar zu tief in die Tinte getaucht worden, aber darauf war sie nun stolz. `Will die Theemaschine nicht singen,' sagte sie, `so kann sie es unterlassen; draußen hängt eine Nachtigall im Käfig, die kann singen; die hat zwar nichts gelernt, aber das wollen wir diesen Abend dahingestellt sein lassen!'

`Ich finde es höchst unpassend,' sagte der Theekessel --- er war Küchensänger und Halbbruder der Theemaschine --- `daß ein fremder Vogel gehört werden soll! Ist das Vaterlandsliebe? Der Marktkorb mag darüber richten!'

`Ich ärgere mich nur,' sagte der Marktkorb, `ich ärgere mich so, wie es sich kein Mensch denken kann! Ist das eine passende Art, den Abend hinzubringen? Würde es nicht vernünftiger sein, Ordnung herzustellen? Ein jeder müßte auf seinen Platz kommen, und ich würde das ganze Spiel leiten. Das sollte etwas anderes werden!'

`Laßt uns Lärm machen!' sagten alle. Da ging die Thür auf. Es war das Dienstmädchen, und da standen sie still. Keiner bewegte sich; aber da war nicht ein Topf, der nicht gewußt hätte, was er zu thun vermöge und wie vornehm er sei. `Ja, wenn ich gewollt hätte,' dachte jeder, `so hätte es ein recht lustiger Abend werden sollen!'

Das Dienstmädchen nahm die Schwefelhölzer und zündete sich Feuer damit an. Wie sie sprühten und in Flammen gerieten!

`Nun kann doch ein jeder sehen,' dachten sie, `daß wir die Ersten sind. Welchen Glanz wir haben, welches Licht!' Damit waren sie ausgebrannt.''

``Das war ein herrliches Märchen!'' sagte die Königin. ``Ich fühle mich ganz in die Küche versetzt zu den Schwefelhölzern, ja, nun sollst Du unsere Tochter haben.''

``Jawohl!'' sagte der König, ``Du sollst unsere Tochter am Montage haben!'' Denn nun sagten sie Du zu ihm, da er zur Familie gehören sollte.

Die Hochzeit war nun bestimmt, und am Abend vorher wurde die ganze Stadt beleuchtet, Zwieback und Brezeln wurden ausgeteilt, die Straßenbuben riefen Hurrah und pfiffen auf den Fingern, es war außerordentlich prachtvoll.

``Ja, ich muß wohl auch etwas thun!'' dachte der Kaufmannssohn, und kaufte Raketen, Knallerbsen und alles Feuerwerk, was man erdenken konnte, legte es in seinen Koffer und flog damit in die Luft.

Das war kein kleiner Lärm!

Alle Türken hüpften dabei in die Höhe, daß ihnen die Pantoffeln um die Ohren flogen; solche Lufterscheinung hatten sie noch nie gesehen. Nun konnten sie begreifen, daß es der Türkengott selbst war, der die Prinzessin haben sollte.

Sobald der Kaufmannssohn wieder mit seinem Koffer herunter in den Wald kam, dachte er: ``ich will doch in die Stadt hineingehen, um zu erfahren, wie es sich ausgenommen hat;'' es war ganz natürlich, daß er Lust dazu hatte.

Was doch die Leute erzählten! Ein jeder, den er danach fragte, hatte es auf seine Weise gesehen, aber schön hatten es alle gefunden.

``Ich sah den Türkengott selbst,'' sagte der eine, ``er hatte Augen wie glänzende Sterne und einen Bart wie schäumendes Wasser!''

``Er flog in einem Feuermantel,'' sagte ein anderer. ``Die lieblichsten Engelskinder blickten aus den Falten hervor!''

Ja, das waren herrliche Sachen, die er hörte, und am folgenden Tage sollte er Hochzeit haben.

Nun ging er nach dem Walde zurück, um sich in seinen Koffer zu setzen --- aber wo war der? Der Koffer war verbrannt. Ein Funken des Feuerwerks war zurückgeblieben, der hatte Feuer gefangen, und der Koffer lag in Asche. Nun konnte der Kaufmannssohn nicht mehr fliegen, nicht mehr zu seiner Braut gelangen.

Sie stand den ganzen Tag auf dem Dache und wartete; sie wartet noch, aber er durchwandert die Welt und erzählt Märchen, doch sind sie nicht mehr so lustig wie das, welches er von den Schwefelhölzern erzählte.

Die roten Schuhe

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\AMsection{Die roten Schuhe}

Da war ein kleines Mädchen, fein und niedlich, aber im Sommer mußte sie immer mit bloßen Füßen gehen, denn sie war arm, und im Winter mit großen Holzschuhen, sodaß der kleine Fuß ganz rot wurde, und das sah zum Erbarmen aus.

Mitten im Dorfe wohnte die alte Mutter Schuhmacher, sie saß und nähte, so gut sie konnte, von alten, roten Tuchstreifen ein Paar kleine Schuhe. Sie waren ganz plump, aber es war gut gemeint, die sollte das kleine Mädchen haben. Das kleine Mädchen hieß Marie.

Gerade an dem Tage, als ihre Mutter begraben wurde, erhielt sie die roten Schuhe und hatte sie zum ersten Male angezogen. Freilich war es nicht, um damit zu trauern, aber sie hatte keine andern, daher ging sie mit diesen hinter dem ärmlichen Sarge her.

Da kam auf einmal ein großer Wagen, und darin saß eine alte Dame; sie betrachtete das kleine Mädchen und fühlte Mitleid mit ihr, und dann sagte sie zum Prediger: ``Hört, gebt mir das kleine Mädchen, dann werde ich mich ihrer annehmen!''

Marie glaubte, das geschehe alles nur der roten Schuhe wegen, aber die alte Dame meinte, die seien greulich, und sie wurden verbrannt. Marie selbst aber wurde rein und ordentlich angezogen; sie mußte lesen und nähen lernen, und die Leute sagten, sie sei niedlich, aber der Spiegel sagte: ``Du bist weit mehr als niedlich, Du bist schön!''

Da reiste die Königin einst durch das Land und hatte ihre kleine Tochter bei sich, das war eine Prinzessin, und die Leute strömten nach dem Schlosse hin, und da war Marie denn auch, und die kleine Prinzessin stand in feinen, weißen Kleidern am Fenster und ließ sich anstaunen, sie hatte weder Schleppe noch Goldkrone, aber herrliche, rote Saffianschuhe, die freilich weit schöner waren, als die, welche die Mutter Schuhmacher der kleinen Marie genäht hatte. Nichts in der Welt kann doch mit roten Schuhen verglichen werden!

Nun war Marie so alt, daß sie eingesegnet werden sollte, sie bekam neue Kleider, und neue Schuhe sollte sie auch haben. Der Schuhmacher in der Stadt nahm Maß zu ihrem kleinen Fuß, das geschah zu Hause in seinem eigenen Zimmer, und da standen große Glasschränke mit niedlichen Schuhen und glänzenden Stiefeln. Das sah allerliebst aus, aber die alte Dame konnte nicht gut sehen und da hatte sie kein Vergnügen daran. Mitten unter den Schuhen standen ein Paar rote, ganz wie die, welche die Prinzessin getragen hatte; wie schön waren die! Der Schuhmacher sagte auch, daß sie für ein Grafenkind gemacht seien, sie hätten aber nicht gepaßt.

``Das ist wohl Glanzleder?'' fragte die alte Dame. ``Sie glänzen so!''

``Ja, sie glänzen!'' sagte Marie, und sie paßten und wurden gekauft, aber die alte Dame wußte nichts davon, daß sie rot waren, denn sie hätte Marie nie erlaubt, in roten Schuhen zur Einsegnung zu gehen, aber das that sie nun.

Alle Menschen betrachteten ihre Füße, und als sie zur Chorthür über die Kirchenschwelle hinschritt, kam es ihr vor, als wenn selbst die alten Bilder auf den Begräbnissen, die Prediger und Predigerfrauen mit steifen Kragen und langen, schwarzen Kleidern, die Augen auf ihre roten Schuhe hefteten, und nur an diese dachte sie, als der Prediger seine Hand auf ihr Haupt legte und von der heiligen Taufe, vom Bunde mit Gott, und daß sie nun eine erwachsene Christin sein solle, sprach. Die Orgel spielte feierlich, die hübschen Kinderstimmen sangen und der alte Lehrer sang, aber Marie dachte nur an die roten Schuhe.

Am Nachmittage erfuhr die alte Dame von den Leuten, daß die Schuhe rot gewesen, und sie sagte, daß es häßlich sei und sich das nicht schicke, daß Marie später, wenn sie zur Kirche gehe, immer mit schwarzen Schuhen gehen solle, selbst wenn sie alt seien.

Am nächsten Sonntage war Abendmahl, und Marie betrachtete die schwarzen Schuhe, sie besah die roten --- und besah sie wieder und zog die roten an.

Es war ein herrlicher Sonnenschein; Marie und die alte Dame gingen den Fußsteig durch das Korn entlang, da stäubte es ein wenig.

An der Kirchthür stand ein alter Soldat mit einem Krückstocke und mit einem wunderbar langen Barte, der war mehr rot als weiß, und er neigte sich bis zur Erde und fragte die alte Dame, ob er ihre Schuhe abwischen dürfe. Marie streckte auch ihren kleinen Fuß aus. ``Sieh, was für schöne Tanzschuhe!'' sagte der Soldat, ``sitzt fest, wenn Ihr tanzt!'' und dann schlug er mit der Hand gegen die Sohlen.

Die alte Dame gab dem Soldaten ein Almosen und dann ging sie mit Marie in die Kirche.

Alle Menschen drinnen sahen nach Mariens roten Schuhen, und alle Bilder sahen danach, und als Marie vor dem Altar kniete und den goldenen Kelch an ihren Mund setzte, dachte sie nur an die roten Schuhe, und es war ihr, als ob sie im Kelch herum schwimmen; und sie vergaß ihren Psalm zu singen, sie vergaß ihr ``Vater unser'' zu beten.

Nun gingen alle Leute aus der Kirche, und die alte Dame stieg in ihren Wagen. Marie erhob den Fuß, um nachzusteigen, da sagte der alte Soldat: ``Sieh, was für schöne Tanzschuhe!'' und Marie konnte nicht umhin, sie mußte einige Tanztritte machen, und als sie anfing, fuhren die Beine fort zu tanzen, es war gerade, als hätten die Schuhe Macht über sie erhalten. Sie tanzte um die Kirchenecke, sie konnte es nicht lassen, der Kutscher mußte hinterher laufen und sie greifen, und er hob sie in den Wagen, aber die Füße fuhren fort zu tanzen, sodaß sie die gute, alte Dame gewaltig trat. Endlich zog sie die Schuhe aus und die Beine erhielten Ruhe.

Daheim wurden die Schuhe in einen Schrank gestellt, aber Marie konnte nicht unterlassen, sie zu betrachten.

Nun lag die Dame krank darnieder, es hieß, sie werde nicht wieder gesund. Gepflegt und gewartet mußte sie werden und niemand war dazu mehr verpflichtet als Marie. Aber in der Stadt war ein großer Ball. Marie war eingeladen; --- sie betrachtete die alte Dame, die doch nicht genesen konnte, sie besah die roten Schuhe, und sie meinte, es sei keine Sünde dabei. --- Sie zog die roten Schuhe an, das konnte sie ja auch wohl; aber dann ging sie zum Ball und fing an zu tanzen.

Als sie aber zur Rechten wollte, tanzten die Schuhe zur Linken, und als sie die Diele hinauf wollte, tanzten die Schuhe dieselbe hinunter, die Treppe hinab, durch die Straße aus dem Stadtthor hinaus. Sie tanzte und mußte tanzen, gerade hinaus in den finstern Wald.

Da leuchtete es zwischen den Bäumen und sie glaubte, es sei der Mond, denn es war ein Gesicht, aber es war der alte Soldat mit dem roten Bart, er saß und nickte und sagte: ``Sieh, was für schöne Tanzschuhe!''

Da erschrak sie und wollte die roten Schuhe abwerfen, aber die hingen fest, und sie schleuderte ihre Strümpfe ab, aber die Schuhe waren an den Füßen festgewachsen. Sie tanzte und mußte über Feld und Wiese, im Regen und Sonnenschein, bei Nacht und bei Tage tanzen, aber nachts war es am greulichsten.

Sie tanzte auf den offenen Kirchhof hinauf, aber die Toten dort tanzten nicht, die hatten etwas viel Besseres zu thun, als zu tanzen. Sie wollte sich auf des Armen Grab setzen, wo das bittere Farrenkraut wächst, aber für sie war weder Ruhe noch Rast, und als sie gegen die offene Kirchthür hintanzte, sah sie dort einen Engel in weißen Kleidern, mit Schwingen, die ihm von den Schultern bis zur Erde reichten, sein Antlitz war streng und ernst, und in der Hand hielt er ein Schwert, breit und glänzend.

``Tanzen sollst Du!'' sagte er, ``tanzen auf Deinen roten Schuhen, bis Du bleich und kalt wirst, bis Deine Haut zu einem Gerippe zusammenschrumpft! Tanzen sollst Du von Thür zu Thür, und wo stolze, hochmütige Kinder wohnen, sollst Du anklopfen, sodaß sie Dich hören und fürchten! Tanzen sollst Du, tanzen --- --- !'' --- --- !''

``Gnade!'' rief Marie. Aber sie hörte nicht, was der Engel erwiderte, denn die Schuhe trugen sie durch die Thür auf das Feld, über Weg und Steg, und immer mußte sie tanzen.

Eines Morgens tanzte sie an einer Thür vorbei, die sie gut kannte. Drinnen tönte Psalmengesang, ein Sarg wurde herausgetragen, der mit Blumen geschmückt war. Da wußte sie, daß die alte Dame gestorben war, und nun fühlte sie, daß sie von allen verlassen und von Gottes Engel verdammt sei.

Sie tanzte, und sie mußte tanzen, tanzen in der finstern Nacht. Die Schuhe trugen sie über Dorn und Sumpf davon, sie riß sich blutig; sie tanzte über die Haide dahin nach einem kleinen, einsamen Hause. Hier wußte sie, daß der Scharfrichter wohne und sie klopfte mit den Fingern an die Scheiben und sagte:

``Komm heraus! --- komm heraus! --- ich kann nicht hinein kommen, denn ich muß tanzen!''

Und der Scharfrichter sagte: ``Du weißt wohl nicht, wer ich bin? Ich schlage den Menschen die Köpfe ab und ich merke, daß meine Axt klingt!''

``Schlage mir nicht den Kopf ab,'' sagte Marie, ``denn dann kann ich meine Sünde nicht bereuen, aber schlage meine Füße mit den roten Schuhen ab!''

Sie bekannte ihre Sünde, und der Scharfrichter hieb ihr die Füße mit den roten Schuhen ab, aber die Schuhe tanzten mit den kleinen Füßen über das Feld dahin in den tiefen Wald hinein.

Er schnitzte ihr Holzfüße und Krücken, lehrte sie einen Psalm, den die Sünder immer singen, und sie küßte die Hand, die das Beil geführt hatte und ging über die Haide fort.

``Nun habe ich genug für die roten Schuhe gelitten,'' sagte sie, ``nun will ich in die Kirche gehen, damit sie mich sehen können!'' Und sie ging rasch gegen die Kirchthür; als sie aber dahinkam, tanzten die roten Schuhe vor ihr her und sie erschrak und wendete um.

Die ganze Woche hindurch war sie betrübt und weinte viel bittere Thränen, aber als Sonntag wurde, sagte sie: ``Nun habe ich genug gelitten und gestritten; ich glaube wohl, daß ich ebenso gut bin als manche von denen, die da in der Kirche sitzen und sich brüsten!'' Und dann ging sie mutig hin; aber sie kam nicht weiter, als bis zur Kirchhofthür, da sah sie die roten Schuhe vor sich hertanzen, und sie erschrak, wendete um und bereute recht von Herzen ihre Sünde.

Sie ging zur Pfarrwohnung und bat, daß man sie dort in Dienst nehmen möge, fleißig wolle sie sein, und alles thun, was sie könnte, auf den Lohn sehe sie nicht, nur daß sie unter Dach komme und bei guten Menschen sei. Die Predigerfrau hatte Mitleid mit ihr und nahm sie in ihren Dienst. Marie war fleißig und nachdenkend. Stille saß sie und horchte auf, wenn der Prediger des Abends aus der Bibel laut vorlas. Alle Kinder hielten viel von ihr, wenn sie aber von Putz und Pracht und von Schönheit sprachen, schüttelte sie mit dem Kopfe.

Am nächsten Sonntage gingen alle zur Kirche, und sie fragten sie, ob sie mitgehen wolle, aber sie blickte betrübt, mit Thränen in den Augen, auf ihre Krücken, und dann gingen die andern hin, Gottes Wort zu hören, sie aber ging allein in ihre kleine Kammer, die nicht größer war, als daß das Bett und ein Stuhl darin stehen konnten. Hier setzte sie sich mit ihrem Gesangbuch hin, und als sie mit frommem Sinn darin las, trug der Wind die Orgeltöne von der Kirche zu ihr herüber, und sie erhob ihr Antlitz mit Thränen und sagte: ``O Gott, hilf mir!''

Da schien die Sonne ganz hell, und gerade vor ihr stand Gottes Engel in den weißen Kleidern, den sie in jener Nacht in der Kirchthür erblickt hatte, aber er hielt nicht mehr das scharfe Schwert, sondern einen herrlichen grünen Zweig, der voller Rosen saß. Er berührte damit die Decke, und sie erhob sich hoch, und wo er sie berührt hatte, glänzte ein goldener Stern, und er berührte die Wände, die sich erweiterten, und sie erblickte die Orgel, welche spielte, sie sah die alten Bilder mit Predigern und Predigerfrauen, die Gemeinde saß in den geputzten Stühlen und sang aus ihren Gesangbüchern. --- Denn die Kirche war selbst zu dem armen Mädchen in die enge Stube gekommen, oder auch war sie dahingekommen. Sie saß im Stuhl bei den übrigen Leuten des Predigers, und als sie den Psalm geendet hatten und aufblickten, nickten sie und sagten: ``Das war recht, daß Du kamst, Marie!''

``Das war Gnade!'' sagte sie.

Und die Orgel klang und die Kinderstimmen im Chor tönten sanft und lieblich! Der klare Sonnenschein strömte warm durch das Fenster in den Kirchstuhl, wo Marie saß, hinein, ihr Herz wurde so voller Sonnenschein, Frieden und Freude, daß es brach. --- Ihre Seele flog auf Sonnenschein zu Gott, und dort war niemand, der nach den roten Schuhen fragte.

Elfenhügel

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\AMsection{Elfenhügel}

Einige große Eidechsen liefen schnellfüßig in den Spalten eines alten Baumes umher; sie konnten einander gut verstehen, denn sie sprachen die Eidechsensprache.

``Wie das in dem alten Elfenhügel poltert und brummt!'' sagte die eine Eidechse ``Ich habe vor dem Lärm schon in zwei Nächten meine Augen nicht schließen können; ich könnte ebenso gut liegen und Zahnweh haben, denn dann schlafe ich auch nicht!''

``Da ist etwas los!'' sagte die andere Eidechse. ``Sie lassen den Hügel, bis des Morgens der Hahn kräht, auf vier roten Pfählen stehen, es wird ordentlich ausgelüftet und die Elfenmädchen haben neue Tänze gelernt. Da ist etwas los!''

``Ja, ich habe mit einem Regenwurm meiner Bekanntschaft gesprochen,'' sagte die dritte Eidechse, ``der gerade aus dem Hügel kam, wo er Tag und Nacht in der Erde gewühlt hatte. Der hatte vieles gehört, sehen kann er ja nicht, das elende Tier, aber vorfühlen und nachhören, das versteht er. Sie erwarten Fremde im Elfenhügel, vornehme Fremde, aber wen, das wollte der Regenwurm nicht sagen, oder er wußte es nicht. Alle Irrlichter sind bestellt, um einen Fackelzug zu halten, wie man das nennt, und Silber und Gold, wovon genug im Hügel ist, wird poliert und im Mondschein ausgestellt!''

``Wer mögen wohl die Fremden sein?'' sagten alle Eidechsen. ``Was mag da wohl los sein? Hört, wie es summt! hört, wie es brummt!''

Zu derselben Zeit teilte sich der Elfenhügel und ein altes Elfenmädchen kam herausgetrippelt. Sie war des alten Elfenkönigs Haushälterin, war mit der Familie weitläufig verwandt und trug ein Bernsteinherz vor der Stirn. Ihre Beine bewegten sich so hurtig: tripp, tripp! Potz tausend, wie konnte sie trippeln, und das gerade hinunter in das Moor zum Nachtraben.

``Sie werden zum Elfenhügel eingeladen, und zwar diese Nacht!'' sagte sie. ``Aber wollen Sie uns nicht erst einen großen Dienst erweisen und die übrigen Einladungen übernehmen! Sie müssen auch etwas thun, da sie selbst kein Haus machen. Wir bekommen einige vornehme Fremde, Zauberer, die etwas zu bedeuten haben, und deshalb will der alte Elfenkönig sich zeigen!''

``Wer soll eingeladen werden?'' fragte der Nachtrabe.

``Ja, zu dem großen Balle kann alle Welt kommen, selbst Menschen, wenn sie nur im Schlafe sprechen, oder etwas dergleichen thun können, was in unsere Art fällt. Aber zu dem ersten Feste soll strenge Auswahl herrschen, wir wollen nur die Allervornehmsten haben. Ich habe mich mit dem Elfenkönig gestritten, denn ich meinte, wir könnten nicht einmal Gespenster zulassen. Der Wassernix und seine Töchter müssen zuerst eingeladen werden, es mag ihnen wohl nicht lieb sein, aufs Trockene zu kommen, aber sie sollen schon einen nassen Stein zum Sitzen oder noch etwas besseres haben, und dann, denke ich, werden sie es für dieses Mal wohl nicht abschlagen. Alle alten Dämonen erster Klasse mit Schweifen, den Alraun und die Kobolde müssen wir haben, und dann denke ich, können wir das Grabschwein, das Totenpferd und den Kirchenzwerg nicht weglassen; sie gehören freilich mit zur Geistlichkeit, die nicht zu unsern Leuten gezählt wird, aber das ist nur ihr Amt, sie sind uns doch nahe verwandt und machen uns fleißig Besuche.''

``Brav!'' sagte der Nachtrabe und flog davon, um einzuladen.

Die Elfenmädchen tanzten schon auf dem Elfenhügel, und sie tanzten mit Shawls, die aus Nebel und Mondschein gewebt waren, und das sieht recht niedlich für die aus, die dergleichen lieben. Mitten in dem Elfenhügel war der große Saal herrlich aufgeputzt, der Fußboden war mit Mondschein gewaschen und die Wände waren mit Hexenfett abgerieben, sodaß sie gleich Tulpenblättern von dem Lichte glänzten. In der Küche waren vollauf Frösche am Spieße, Schneckenhäute mit Kinderfingern darin und Salate von Pilzsamen und feuchten Mäuseschnauzen mit Schierling, Bier von der Sumpffrau Gebräu, glänzender Salpeterwein aus Grabkellern. Alles höchst anständig; verrostete Nägel und Kirchenfensterglas gehörte zum Naschwerk.

Der alte Elfenkönig ließ seine Goldkrone mit gestoßenem Griffel polieren, das war Tuffsteingriffel, und es ist für den Elfenkönig sehr schwer, Tuffsteingriffel zu erhalten. Im Schlafgemach wurden Gardinen aufgehangen und mit Schneckenhörnern befestigt. Ja, das war ein rechtes Summen und Brummen.

``Nun muß hier mit Roßhaaren und Schweineborsten geräuchert werden, dann glaube ich auch das meinige gethan zu haben!'' sagte das alte Elfenmädchen.

``Süßer Vater,'' schmeichelte die kleinste der Töchter, ``bekomme ich nun zu wissen, wer die vornehmsten Fremden sind?''

``Nun denn,'' sagte er, ``dann muß ich es wohl sagen! Zwei meiner Töchter müssen sich zum Heiraten bereit halten; zwei werden sicher verheiratet. Der greise Kobold oben von Norwegen, er, der im alten Dovrefelsen wohnt und vier Klippenschlösser von Feldsteinen und ein Goldwerk, welches besser ist, als man glaubt, besitzt, kommt mit seinen beiden Söhnen herunter, die sich eine Frau aussuchen sollen. Der greise Kobold ist ein recht alter, ehrlicher, nordischer Greis, lustig und schlicht. Ich kenne ihn aus alten Tagen, wo wir Brüderschaft mit einander tranken, und er hier unten war, seine Frau zu holen. Nun ist sie tot, sie war eine Tochter des Felsenkönigs von Möen. Er nahm seine Frau auf die Kreide, wie man zu sagen pflegt. O, wie ich mich nach dem nordischen, greisen Kobold sehne! Die Knaben, sagt man, sollen etwas unartige, naseweise Jungen sein, aber man kann ihnen ja auch unrecht thun, und sie werden wohl gut, wenn sie älter werden. Laßt mich nun sehen, daß Ihr ihnen Sitte beibringt!''

``Und wann kommen sie?'' fragte die eine Tochter.

``Das kommt auf Wind und Wetter an!'' sagte der Elfenkönig. ``Sie reisen sparsam! Sie kommen mit Schiffsgelegenheit herunter. Ich wollte, sie sollten über Schweden gehen, aber der Alte neigte sich nicht nach jener Seite. Er schreitet nicht mit der Zeit fort, und das kann ich nicht leiden!''

Da kamen zwei Irrlichter angehüpft, das eine schneller als das andere, und deshalb kam das eine zuerst.

``Sie kommen! sie kommen!'' riefen beide.

``Gebt mir meine Krone, und laßt mich im Mondscheine stehen!'' sagte der Elfenkönig.

Die Töchter hoben die Shawls auf und verneigten sich bis zur Erde.

Da stand der greise Kobold von Dovre mit der Krone von gehärteten Eis- und polierten Tannenzapfen; übrigens hatte er einen Bärenpelz und große Stiefel an, die Söhne hingegen gingen mit bloßem Halse und in Hosen ohne Tragbänder, denn es waren Kraftmänner.

``Ist das eine Anhöhe?'' fragte der kleinste der Söhne und zeigte auf den Elfenhügel. ``Das nennen wir oben in Norwegen ein Loch!''

``Jungens!'' sagte der Alte. ``Loch geht einwärts, Höhe geht aufwärts! Habt Ihr keine Angen im Kopfe?''

Das einzige, was sie hier unten Wunder nahm, sagten sie, sei, daß sie ohne weiteres die Sprache verstehen können.

``Man möchte glauben,'' sagte der Alte, ``Ihr seied nicht recht ausgebacken.''

Dann gingen sie in den Elfenhügel hinein, wo die wahrhaft feine Gesellschaft versammelt war, und das in einer Hast, daß man glauben sollte, sie seien zusammengeweht, und für einen jeden war es niedlich und nett eingerichtet. Die Wassernixen saßen in großen Wasserkufen zu Tische, sie sagten, es sei gerade, als ob sie zu Hause seien. Alle beachteten die Tischsitte, außer den beiden kleinen nordischen Kobolden; die legten die Beine auf den Tisch, aber sie glaubten nun einmal, daß ihnen alles gut stehe!

``Die Füße vom Napfe!'' sagte der alte Kobold, da gehorchten sie, aber doch nicht sogleich. Ihre Tischdame kitzelten sie mit Tannenzapfen, die sie in der Tasche mit sich führten, und dann zogen sie ihre Stiefel aus, um bequem zu sitzen, und gaben ihr die Stiefel zu halten. Aber der Vater, der alte Dovrekobold, der war freilich ganz anders. Er erzählte schön von den stolzen nordischen Felsen und von den Wasserfällen, die weißschäumend mit einem Gepolter wie Donnerschlag und Orgelklang niederstürzen; er erzählte vom Lachse, der gegen die stürzenden Wasser emporspringt, wenn die Nixe auf der Goldharfe spielt. Er erzählte von den glänzenden Winternächten, wenn die Schlittenschellen tönen und die Burschen mit brennenden Fackeln über das blanke Eis hinlaufen, welches so durchsichtig ist, daß sie die erschreckten Fische unter ihren Füßen schwimmen sehen. Ja, er konnte erzählen, sodaß man sah und hörte, was er beschrieb. Es war, als wenn Sägemühlen gingen, als wenn Knechte und Mägde Lieder sängen und tanzten. Heisa! mit einemmale gab der greise Kobold dem alten Elfenmädchen einen Gevatterschmatz. Das war ein ordentlicher Kuß, und doch waren sie nicht verwandt.

Nun mußten die Elfenmädchen tanzen, sowohl einfach, wie auch mit Stampfen, und das stand ihnen gut an; dann kam der Kunsttanz. Der Tausend, wie sie das Bein ausstrecken konnten, man wußte nicht, was Ende und Anfang war, was Arme und Beine waren, das ging alles durcheinander wie Sägespäne, und dann schnurrten sie herum, daß es dem Totenpferd unwohl wurde und es vom Tisch gehen mußte.

``Prrrr!'' sagte der greise Kobold, ``das ist ein Wirtschaften mit den Beinen! Aber was können sie mehr als Tanzen, die Beine ausstrecken und den Wirbelwind machen?''

``Das sollst Du bald erfahren!'' sagte der Elfenkönig, und dann rief er die jüngste von seinen Töchtern vor; sie war so behende und klar wie Mondschein, sie war die feinste von allen Schwestern; sie nahm einen weißen Span in den Mund, und dann war sie ganz fort, das war ihre Kunst.

Aber der greise Kobold sagte, diese Kunst möchte er bei seiner Frau nicht leiden und er glaubte auch nicht, daß seine Knaben etwas davon halten.

Die andere konnte sich selbst zur Seite gehen, als wäre sie ihr eigener Schatten und den haben die Elfen nicht.

Die dritte Tochter war ganz anderer Art. Sie hatte in der Sumpffrau Brauhaus gelernt und sie war es, die verstand, Elfenknorren mit Johanniswürmchen zu spicken.

``Sie wird eine gute Hausfrau abgeben!'' sagte der greise Kobold und dann stieß er mit den Augen an, denn er wollte nicht so viel trinken.

Nun kam die vierte Elfe; sie hatte eine große Harfe zum Spielen, und als sie auf der ersten Saite schlug, erhoben alle das linke Bein, denn die Kobolde sind linksbeinig, und als sie die andere Saite anschlug, mußten alle thun, was sie wollte.

``Das ist ein gefährliches Frauenzimmer!'' sagte der greise Kobold, aber beide Söhne gingen zum Hügel hinaus, denn nun langweilte es sie.

``Was kann die nächste Tochter?'' fragte der greise Kobold.

``Ich habe gelernt, das Nordische zu lieben,'' sagte sie, ``und nie werde ich mich verheiraten, wenn ich nicht nach Norwegen kommen kann!''

Aber die kleinste Schwester flüsterte dem Greise zu: ``Das ist nur, weil sie aus einem nordischen Liede gehört hat, daß, wenn die Erde untergeht, doch die nordischen Klippen gleich Bausteinen stehen bleiben werden, deswegen will sie da hinauf, denn sie fürchtet das Untergehen sehr.''

``Ho, ho!'' sagte der greise Kobold, ``war es so gemeint? Aber was kann die siebente und letzte?''

``Die sechste kommt erst vor der siebenten!'' sagte der Elfenkönig, denn er konnte rechnen, aber die sechste wollte nicht recht hervorkommen.

``Ich kann nur den Leuten die Wahrheit sagen!'' sagte sie. ``Um mich kümmert sich niemand, und ich habe genug damit zu thun, mein Leichenzeug zu nähen!''

Nun kam die siebente und letzte, und was konnte sie? Ja, sie konnte Märchen erzählen so viel sie wollte.

``Hier sind alle meine fünf Finger!'' sagte der greise Kobold, ``erzähle mir ein Märchen von jedem!''

Die Elfe faßte ihn um das Handgelenk, und er lachte, daß es in ihm kluckte, und als sie zum Goldfinger kam, der einen Goldring um hatte, als ob er wisse, daß Verlobung sein sollte, sagte der greise Kobold: ``Halte fest, was Du hast, die Hand ist Dein, Dich will ich selbst zur Frau haben!''

Die Elfe sagte, daß die Märchen vom Goldfinger und vom kleinen Peter Spielmann noch fehlten.

``Diese wollen wir im Winter hören!'' sagte der greise Kobold. ``Von der Tanne wollen wir hören und von der Birke und von den Geistergeschenken und von dem klingenden Frost! Du sollst schon erzählen, denn das versteht noch keiner so recht dort oben. --- Und dann wollen wir in der Steinstube, wo der Kienspan brennt, sitzen und Met aus den goldenen Hörnern der alten nordischen Könige trinken. Der Nick hat mir ein Paar geschenkt, und wenn wir dann sitzen, so kommt die Nixe zum Besuch; sie singt Dir alle Lieder der Hirtenmädchen im Gebirge. Das wird munter werden! Der Lachs wird im Wassersturz springen und gegen die Steinwände schlagen, aber er kommt doch nicht herein! --- Ja, es ist gut sein in dem lieben alten Norwegen! Aber wo sind die Jungen?''

Ja, wo waren die? Sie liefen auf dem Felde herum und bliesen die Irrlichter aus, die so gutmüthig kamen, um den Fackelzug zu bringen.

``Was ist das für ein Herumstreichen!'' sagte der greise Kobold. ``Ich habe mir eine Mutter für Euch genommen, nun könnt Ihr eine Tante nehmen!''

Aber die Jungen sagten, daß sie am liebsten eine Rede halten und Brüderschaft trinken wollten, zum Heiraten haben sie keine Lust. --- Und nun hielten sie Reden, tranken Brüderschaft und machten die Nagelprobe, um zu zeigen, daß sie ausgetrunken hatten. Darauf zogen sie die Röcke aus und legten sich auf den Tisch, um zu schlafen, denn sie hatten kein Bett. Aber der greise Kobold tanzte mit seiner jungen Braut in der Stube herum und wechselte Stiefel mit ihr, denn das ist feiner als Ringe wechseln.

``Nun kräht der Hahn!'' sagte die alte Elfe, welche das Hauswesen besorgte. ``Nun müssen wir die Fensterladen schließen, damit die Sonne uns nicht verbrennt!''

Dann schloß sich der Hügel.

Aber draußen liefen die Eidechsen in dem geborstenen Baume auf und nieder und die eine sagte zur andern:

``O, wie mir der nordische greise Kobold gefiel!''

``Mir gefallen die Knaben besser!'' sagte der Regenwurm, aber es konnte ja nicht sehen, das elende Tier.

Die alte Straßenlaterne

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\AMsection{Die alte Straßenlaterne}

Hast Du die Geschichte von der alten Straßenlaterne gehört? Sie ist gar nicht sehr belustigend, doch einmal kann man sie wohl hören. Es war eine gute, alte Straßenlaterne, die viele, viele Jahre gedient hatte, aber jetzt entfernt werden sollte. Es war der letzte Abend, an welchem sie auf dem Pfahle saß und in der Straße leuchtete, und es war ihr zu Mute, wie einer alten Tänzerin, welche den letzten Abend tanzt und weiß, daß sie morgen vergessen in der Bodenkammer sitzt. Die Laterne hatte Furcht vor dem morgenden Tage, denn sie wußte, daß sie dann zum erstenmal auf das Rathaus kommen und von dem ``hochlöblichen Rat'' beurteilt werden sollte, ob sie noch tauglich oder unbrauchbar sei. Da sollte bestimmt werden, ob sie nach einer der Brücken herausgeschickt werden könne, um dort zu leuchten, oder auf das Land in eine Fabrik; vielleicht sollte sie geradezu in eine Eisengießerei kommen und umgeschmolzen werden. Dann konnte freilich alles aus ihr werden, aber es peinigte sie, daß sie nicht wußte, ob sie dann die Erinnerung davon behalten würde, daß sie eine Straßenlaterne gewesen war. --- Wie es nun auch werden mochte, so werde sie doch vom Wächter und seiner Frau getrennt werden, die sie ganz wie ihre Familie betrachtete. Sie wurde zur Laterne, als er Wächter wurde. Damals war die Frau sehr vornehm, nur wenn sie des Abends an der Laterne vorüberging, blickte sie diese an, am Tage aber nie. Dagegen in den letzten Jahren, als sie alle drei, der Wächter, seine Frau und die Laterne, alt geworden waren, hatte die Frau sie auch gepflegt, die Lampe abgeputzt und Öl eingegossen. Es war ein ehrliches Ehepaar, sie hatten die Lampe um keinen Tropfen betrogen. Es war der letzte Abend auf der Straße und morgen sollte sie auf das Rathaus, das waren zwei finstere Gedanken für die Laterne, und so kann man wohl denken, wie sie brannte. Aber es kamen ihr noch andere Gedanken; sie hatte vieles gesehen, vieles beleuchtet, vielleicht ebensoviel als der ``hochlöbliche Rat'', aber das sagte sie nicht, denn sie war eine alte, ehrliche Laterne, sie wollte Niemand erzürnen, am wenigsten ihre Obrigkeit. Es fiel ihr vieles ein, und mitunter flackerte die Flamme in derselben auf, es war, als ob ein Gefühl ihr sagte: ``Ja, man wird sich auch meiner erinnern!'' --- ``So war da der hübsche, junge Mann, --- ja, das ist viele Jahre her; er kam mit einem Briefe, der war auf rosenrotem Papier, fein und mit goldenem Schnitt, er war niedlich geschrieben, es war eine Damenhand.'' --- ``Er las ihn zweimal und küßte denselben und blickte mit seinen beiden Augen zu mir empor und sagte: `Ich bin der glücklichste Mensch!' '' --- ``Nur er und ich wußten, was im ersten Brief von der Geliebten stand.'' --- ``Ich entsinne mich auch zweier anderer Augen; es ist merkwürdig, wie man mit den Gedanken springen kann!'' --- ``Hier in der Straße fand ein prächtiges Begräbnis statt, die junge, hübsche Frau lag im Sarge auf dem mit Samt überzogenen Leichenwagen. Da prangten so viele Blumen und Kränze, da leuchteten so viele Fackeln, daß ich dabei ganz verschwand.'' --- ``Der ganze Bürgersteig war mit Menschen angefüllt, sie folgten alle dem Leichenzug, als aber die Fackeln verschwunden waren und ich mich umsah, stand hier noch einer am Pfahl und weinte, ich vergesse nie die beiden Augen voll Trauer, die gegen mich aufblickten!'' --- Viele Gedanken durchkreuzten so die alte Straßenlaterne, welche an diesem Abend zum letztenmal leuchtete. Die Schildwache, welche abgelöst wird, kennt doch ihren Nachfolger und kann ihm ein paar Worte sagen, aber die Laterne kannte den ihrigen nicht, und doch hätte sie ihm einen oder den andern Wink, über Regen und Schnee, dann wie weit der Mondschein auf dem Bürgersteig gehe und von welcher Seite der Wind blies, geben können.

Auf dem Rinnsteinbrette standen drei, die sich der Laterne vorgestellt hatten, indem sie glaubten, daß diese es sei, welche das Amt zu vergeben habe. Der eine davon war ein Heringskopf, denn ein solcher leuchtet im Dunkeln, und daher meinte er, es würde eine große Ölersparnis sein, wenn er auf den Laternenpfahl käme. Der zweite war ein Stück faulen Holzes, welches auch leuchtete, und überdies war es das letzte Stück von einem Baume, welcher einst die Zierde des Waldes gewesen war. Der dritte war ein Johanniswurm. Woher derselbe gekommen, begriff die Laterne nicht, aber der Wurm war da und leuchtete auch; aber das faule Holz und der Heringskopf beschworen, daß derselbe nur zu gewissen Zeiten leuchte, und daß er deshalb nie berücksichtigt werden könne.

Die alte Laterne sagte, daß keiner von ihnen genug leuchte, um Straßenlaterne zu sein, aber das glaubte nun keiner von ihnen, und als sie hörten, daß die Laterne selbst die Anstellung nicht zu vergeben habe, so sagten sie, daß das höchst erfreulich sei, denn sie sei schon gar zu hinfällig, um noch wählen zu können.

Gleichzeitig kam der Wind von der Straßenecke, er sauste durch den Schornstein der alten Laterne. ``Was höre ich!'' sagte er zu ihr, ``Du willst morgen fort? Ist dieses der letzte Abend, an welchem ich Dich hier treffe? Ja, dann mache ich Dir ein Geschenk; nun erfrische ich Deinen Verstandeskasten, sodaß Du klar und deutlich Dich nicht allein dessen entsinnen kannst, was Du gehört und gesehen hast, sondern wenn etwas in Deiner Gegenwart erzählt oder gelesen wird, so sollst Du so hellsehend sein, daß Du dasselbe auch siehst!'' ---

``Das ist viel!'' sagte die alte Straßenlaterne, ``meinen besten Dank! Wenn ich nur nicht umgegossen werde!''

``Das geschieht noch nicht!'' sagte der Wind, ``und nun erfrische ich Dir Dein Gedächtnis. Kannst Du mehr derartige Geschenke erhalten, so wirst Du ein recht frohes Alter haben!''

``Wenn ich nur nicht umgeschmolzen werde!'' sagte die Laterne, ``oder kannst Du mir dann auch das Gedächtnis sichern?''

``Alte Laterne, sei vernünftig!'' sagte der Wind, und dann wehete er. --- Gleichzeitig kam der Mond hervor. ``Was geben Sie?'' fragte der Wind.

``Ich gebe gar nichts!'' sagte dieser, ``ich bin ja im Abnehmen und die Laternen haben mir nie, sondern ich habe den Laternen geleuchtet.'' Darauf ging der Mond wieder hinter die Wolken, denn er mochte sich nicht quälen lassen. Da fiel ein Wassertropfen, wie von einer Dachtraufe, gerade auf den Schornstein, aber der Tropfen sagte, er komme aus den grauen Wolken und sei auch ein Geschenk, vielleicht das allerbeste. ``Ich durchdringe Dich so, daß Du die Fähigkeit erhältst, in einer Nacht, wenn Du es wünschest, Dich in Rost zu verwandeln, sodaß Du ganz zusammenfällst und zu Staub wirst.'' Aber der Laterne schien das ein schlechtes Geschenk zu sein und der Wind meinte es auch. ``Giebt es nichts Besseres, giebt es nichts Besseres?'' blies er, so laut er konnte; da fiel eine glänzende Sternschnuppe, sie leuchtete in einem langen Streifen.

``Was war das?'' rief der Heringskopf. ``Fiel da nicht ein Stern gerade herab? Ich glaube, er fuhr in die Laterne! --- Nun, wird das Amt auch von so Hochstehenden gesucht, dann können wir uns zur Ruhe begeben!'' Und das that er und die andern mit. Aber die alte Laterne leuchtete auf einmal wunderbar stark. ``Das war ein herrliches Geschenk!'' sagte sie. ``Die klaren Sterne, über die ich mich immer so sehr gefreut habe, und welche so herrlich scheinen, wie ich eigentlich nie habe leuchten können, obgleich es mein ganzes Streben und Trachten war, haben mich arme Laterne beachtet und mir einen mit einem Geschenk herabgeschickt, welches in der Fähigkeit besteht, daß alles, dessen ich mich entsinne und recht deutlich erblicke, auch von denjenigen gesehen werden kann, die ich liebe; und das ist erst das wahre Vergnügen, denn wenn man dasselbe nicht mit andern teilen kann, so ist es nur eine halbe Freude!''

``Das ist recht ehrenwert gedacht!'' sagte der Wind, ``aber Du weißt noch nicht, daß dazu Wachslichter gehören. Wenn nicht ein Wachslicht in Dir angezündet wird, kann keiner der andern etwas bei Dir erblicken. Das haben die Sterne nicht gedacht, sie glauben, daß alles, was leuchtet, wenigstens ein Wachslicht in sich hat. Aber jetzt bin ich müde,'' sagte der Wind, ``nun will ich mich legen!'' Und dann legte er sich.

Am folgenden Tage --- --- ja, den folgenden Tag können wir überspringen --- am folgenden Abend lag die Laterne im Lehnstuhl, und wo? --- bei dem alten Wächter. Vom ``hochlöblichen Rat'' hatte er sich für seine langen, treuen Dienste erbeten, die alte Laterne behalten zu dürfen. Sie lachten über ihn und dann gaben sie ihm dieselbe, und nun lag die Laterne im Lehnstuhl dicht bei dem warmen Ofen, und es war, als ob sie dadurch größer geworden wäre, sie füllte fast den ganzen Stuhl aus. Die alten Leute saßen schon beim Abendbrot, und warfen der alten Laterne, welcher sie gern einen Platz am Tische eingeräumt hätten, freundliche Blicke zu. Sie wohnten zwar in einem Keller, zwei Ellen tief unter der Erde, man mußte über eine gepflasterte Flur, um zur Stube zu gelangen, aber warm war es darin, denn sie hatten Tuchleisten um die Thür genagelt. Rein und niedlich sah es hier aus, Vorhänge um die Bettstellen und über den kleinen Fenstern, wo da oben auf dem Fensterbrette zwei sonderbare Blumentöpfe standen. Der Matrose Christian hatte sie von Ost- und Westindien mit nach Hause gebracht; es waren zwei Elefanten von Thon, denen der Rücken fehlte, aber an dessen Stelle wuchsen aus der Erde, die hineingelegt war, in dem einen der schönste Schnittlauch, das war der Küchengarten der alten Leute, und in dem andern ein großer, blühender Geranium, das war ihr Blumengarten. An der Wand hing ein großes, buntes Bild ``die Fürstenversammlung zu Wien'', da besaßen sie alle Kaiser und Könige auf einmal! --- Eine Schwarzwälder Uhr mit den schweren Bleigewichten ``tik, tak!'' und immer zu schnell; aber das sei besser, als wenn sie zu langsam ginge, meinten die alten Leute. Sie verzehrten ihr Abendbrot, und die alte Straßenlaterne lag, wie gesagt, im Lehnstuhl dicht bei dem warmen Ofen. Der Laterne kam es vor, als wäre die ganze Welt umgekehrt. --- Als aber der Wächter sie anblickte und davon sprach, was sie beide mit einander erlebt hatten, im Regen und Schneegestöber, in den hellen, kurzen Sommernächten und wenn der Schnee trieb, sodaß es ihm wohl that, wieder in den Keller zu gelangen, da war für die alte Laterne alles wieder in Ordnung, denn wovon er sprach, das erblickte sie, als ob es noch da wäre, ja der Wind hatte sie inwendig wahrlich gut erleuchtet. ---

Sie waren fleißig und flink, die alten Leute, keine Stunde waren sie unthätig. Am Sonntag Nachmittag kam das eine oder andere Buch zum Vorschein, gewöhnlich eine Reisebeschreibung, und der alte Mann las laut von Afrika, von den großen Wäldern und Elefanten, die da wild umherliefen, und die alte Frau horchte hoch auf und blickte dann verstohlen nach den Thonelefanten hin, welche Blumentöpfe waren! --- ``Ich kann es mir beinahe denken!'' sagte sie. Die Laterne wünschte dann sehnlichst, daß ein Wachslicht da wäre, damit es angezündet werde und in ihr brenne, dann sollte die Frau alles genau so sehen, wie die Laterne es erblickte, die hohen Bäume, die dicht in einander verschlungenen Zweige, die schwarzen Menschen zu Pferde und ganze Scharen von Elefanten, die mit ihren breiten Füßen Rohr und Büsche zermalmten.

``Was helfen mir alle meine Fähigkeiten, wenn kein Wachslicht da ist!'' seufzte die Laterne, ``sie haben nur Öl und Talglichte, und das ist nicht genug!''

Eines Tages kam ein ganzes Bund Wachslichtstückchen in den Keller, die größten Stücke wurden gebrannt und die kleineren brauchte die alte Frau, um ihren Zwirn damit zu wichsen, wenn sie nähte. Wachslicht war nun da, aber es fiel den beiden Alten nicht ein, davon ein kleines Stück in die Laterne zu setzen.

``Hier stehe ich mit meinen seltenen Fähigkeiten!'' sagte die Laterne; ``ich habe alles in mir, aber ich kann es nicht mit ihnen teilen. Sie wissen nicht, daß ich die weißen Wände in die schönsten Tapeten, in reiche Wälder, in alles, was sie sich wünschen wollen, verwandeln kann! --- Sie wissen es nicht!''

Die Laterne stand übrigens gescheuert und sauber in einem Winkel, wo sie jederzeit in die Augen fiel; die Leuten sagten zwar, daß es nur ein altes Gerümpel sei, aber daran kehrten sich die Alten nicht, sie liebten die Laterne.

Eines Tages, es war des alten Wächters Geburtstag, kam die alte Frau zur Laterne hin, lächelte und sagte: ``Ich will die Stube heute für ihn glänzend beleuchten!'' Und die Laterne knarrte im Schornsteine, denn sie dachte: ``Jetzt wird ihnen ein Licht aufgehen!'' Aber da kam Öl und kein Wachslicht, sie brannte den ganzen Abend, wußte aber nun, daß die Gabe, welche die Sterne ihr gegeben, die beste Gabe von allen, für dieses Leben ein toter Schatz bleiben werde. Da träumte sie --- und wenn man solche Fähigkeiten hat, kann man wohl träumen --- daß sie selbst zum Eisengießer gekommen und umgeschmolzen werden sollte, sie war eben so in Furcht, als da sie auf das Rathaus kommen und von dem ``hochlöblichen Rat'' beurteilt werden sollte; aber obgleich sie die Fähigkeit besaß, in Rost und Staub zu zerfallen, sobald sie es sich wünschte, so that sie das doch nicht, und dann kam sie in den Schmelzofen und wurde zum schönsten, eisernen Leuchter, in welchen man ein Wachslicht stellt; er hatte die Form eines Engels, welcher einen Blumenstrauß trug, und mitten in den Strauß wurde das Wachslicht gestellt und der Leuchter erhielt seinen Platz auf einem grünen Schreibtisch; das Zimmer war behaglich, da standen viele Bücher, da hingen herrliche Bilder, es war die Wohnung eines Dichters, und alles, was er sagte und schrieb, zeigte sich ringsherum. Das Zimmer wurde zu tiefen, dunklen Wäldern, zu sonnenbeleuchteten Wiesen, wo der Storch umherstolzierte, und zum Schiffsverdeck hoch auf dem wogenden Meere! ---

``Welche Fähigkeiten besitze ich!'' sagte die alte Laterne, indem sie erwachte. ``Fast möchte ich mich darnach sehnen, umgeschmolzen zu werden! --- Doch nein, das darf nicht geschehen, solange die alten Leute leben! Sie lieben mich meiner Person wegen! Ich bin ihnen ja an Kindes Statt, sie haben mich gescheuert und haben mir Öl gegeben; und ich habe es eben so gut wie das Bild, das doch so etwas Vornehmes ist!''

Von dieser Zeit an hatte sie mehr innere Ruhe, und das verdiente die ehrliche, alte Straßenlaterne.

Das Feuerzeug

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\AMsection{Das Feuerzeug}

Es kam ein Soldat auf der Landstraße dahermarschiert: Eins, zwei! Eins, zwei! Er hatte seinen Tornister auf dem Rücken und einen Säbel an der Seite, denn er war im Krieg gewesen und wollte nun nach Hause.

Da begegnete er einer alten Hexe auf der Landstraße; sie war widerlich, ihre Unterlippe hing ihr gerade bis auf die Brust hinunter. Sie sagte: ``Guten Abend, Soldat! Was hast Du doch für einen schönen Säbel und großen Tornister! Du bist ein wahrer Soldat! Nun sollst Du so viel Geld haben, als Du besitzen magst!''

``Ich danke Dir, Du alte Hexe!'' sagte der Soldat.

``Siehst Du den großen Baum da?'' sagte die Hexe und zeigte auf einen Baum, der ihnen zur Seite stand. ``Er ist inwendig ganz hohl; da mußt Du den Gipfel erklettern, dann erblickst Du ein Loch, durch welches Du Dich hinabgleiten lassen und tief in den Baum gelangen kannst. Ich werde Dir einen Strick um den Leib binden, damit ich Dich wieder heraufziehen kann, wenn Du mich rufst!''

``Was soll ich denn da unten im Baume?'' fragte der Soldat.

``Geld holen!'' sagte die Hexe. ``Wisse, wenn Du auf den Boden des Baumes hinunterkommst, so bist Du in einer großen Halle; da ist es ganz hell, denn da brennen über hundert Lampen. Dann erblickst Du drei Thüren! Du kannst sie öffnen, der Schlüssel steckt daran. Gehst Du in die erste Kammer hinein, so erblickst Du mitten auf dem Fußboden eine große Kiste, auf derselben sitzt ein Hund; er hat ein paar Augen so groß wie ein paar Theetassen, doch darum brauchst Du Dich nicht zu kümmern! Ich gebe Dir meine blaue Schürze, die kannst Du auf dem Fußboden ausbreiten, geh' dann rasch hin und nimm den Hund, setze ihn auf meine Schürze, öffne die Kiste und nimm so viel Geld, als Du willst; es ist lauter Kupfer. Willst Du lieber Silber haben, so mußt Du in das nächste Zimmer hineingehen; aber da sitzt ein Hund, der hat ein paar Augen so groß wie Mühlräder; doch das soll Dich nicht kümmern. Setze ihn auf meine Schürze und nimm von dem Gelde! Willst Du hingegen Gold haben, so kannst Du es auch bekommen, und zwar so viel, als Du tragen willst, wenn Du in die dritte Kammer hineingehst. Aber der Hund, welcher auf dem Geldkasten sitzt, hat zwei Augen, jedes so groß als ein Turm. Glaube mir, das ist ein ordentlicher Hund; aber daran sollst Du Dich nicht kehren. Setze ihn auf meine Schürze, so thut er Dir nichts, und nimm aus der Kiste so viel Gold, als Du willst!''

``Das ist nicht übel!'' sagte der Soldat. ``Aber was soll ich Dir geben, Du alte Hexe, denn etwas willst Du doch auch wohl haben?''

``Nein,'' sagte die Hexe, ``nicht einen einzigen Groschen will ich haben! Für mich sollst Du nur ein altes Feuerzeug nehmen, welches meine Großmutter vergaß, als sie das letzte Mal da unten war!''

``Nun, so binde mir den Strick um den Leib!'' sagte der Soldat.

``Hier ist er,'' sagte die Hexe, ``und hier ist meine blaue Schürze.''

Dann kletterte der Soldat auf den Baum hinauf, ließ sich in das Loch hinuntergleiten und stand nun, wie die Hexe gesagt hatte, unten in der großen Halle, wo die vielen Lampen brannten.

Nun öffnete er die erste Thüre. Uh! da saß der Hund mit den Augen, so groß, wie Theetassen, und glotzte ihn an.

``Du bist ein netter Kerl!'' sagte der Soldat, setzte ihn auf die Schürze der Hexe und nahm so viel Kupfergeld, als seine Tasche fassen konnte, schloß dann die Kiste, setzte den Hund wieder darauf und ging in das andere Zimmer hinein. Wahrhaftig, da saß der Hund mit den Augen so groß wie Mühlräder.

``Du solltest mich lieber nicht so ansehen,'' sagte der Soldat, ``Du könntest Augenschmerzen bekommen!'' Und dann setzte er den Hund auf die Schürze der Hexe. Aber als er das viele Silbergeld in der Kiste erblickte, warf er all' das Kupfergeld, was er hatte, fort und füllte die Taschen und den Tornister nur mit Silber. Nun ging er in die dritte Kammer. Das war häßlich! Der Hund darin hatte wirklich zwei Augen so groß wie ein Turm, und die drehten sich im Kopfe gerade wie Mühlräder.

``Guten Abend!'' sagte der Soldat und berührte die Mütze, denn einen solchen Hund hatte er früher nie gesehen; aber als er ihn etwas genauer betrachtet hatte, dachte er: ``Nun ist es genug!'' hob ihn auf den Fußboden herunter und machte die Kiste auf. Was war da für eine Menge Gold! Er konnte dafür die ganze Stadt und die Zuckerferkel der Kuchenfrauen, alle Zinnsoldaten, Peitschen und Schaukelpferde in der ganzen Welt kaufen! Ja, das war einmal Gold! Nun warf der Soldat alles Silbergeld, womit er seine Taschen und seinen Tornister gefüllt hatte, fort und nahm dafür Gold, ja, alle Taschen, der Tornister, die Mütze und die Stiefel wurden gefüllt, sodaß er kaum gehen konnte; nun hatte er Geld! Den Hund setzte er auf die Kiste, schlug die Thüre zu und rief dann durch den Baum hinauf:

``Zieh mich jetzt in die Höhe, Du alte Hexe!''

``Hast Du auch das Feuerzeug?'' fragte die Hexe.

``Wahrhaftig,'' sagte der Soldat, ``das habe ich vergessen.'' Und er ging und holte es. Die Hexe zog ihn herauf, und da stand er wieder auf der Landstraße, die Taschen, Stiefel, Tornister und Mütze voll Gold.

``Was willst Du mit dem Feuerzeug?'' fragte der Soldat.

``Das geht Dich nichts an!'' sagte die Hexe. ``Nun hast Du ja Geld bekommen! Gieb mir nur das Feuerzeug!''

``Ach was!'' sagte der Soldat. ``Willst Du mir gleich sagen, was Du damit willst, oder ich ziehe meinen Säbel und schlage Dir den Kopf ab!''

``Nein!'' sagte die Hexe.

Da schlug der Soldat ihr den Kopf ab. Da lag sie! Aber er band all' sein Geld in ihre Schürze, nahm es wie ein Bündel auf seinen Rücken, steckte das Feuerzeug ein und ging gerade nach der Stadt.

Das war eine prächtige Stadt und in den prachtvollsten Wirtshäusern kehrte er ein, verlangte die allerbesten Zimmer und seine Lieblingsspeisen, denn nun war er ja reich, da er so viel Geld hatte.

Dem Diener, welcher seine Stiefel putzen sollte, kam es freilich vor, als seien es recht jämmerliche, alte Stiefel, die ein so reicher Herr besaß, aber er hatte sich noch keine neuen gekauft; am nächsten Tage bekam er anständige Stiefel und schöne Kleider. Nun war aus dem Soldaten ein vornehmer Herr geworden, und man erzählte ihm von all' den Herrlichkeiten, die in der Stadt waren, und von dem Könige, und was für eine niedliche Prinzessin seine Tochter sei.

``Wo kann man sie zu sehen bekommen?'' fragte der Soldat.

``Sie ist gar nicht zu Gesicht zu bekommen!'' antwortete man. ``Sie wohnt in einem großen kupfernen Schlosse, von vielen Mauern und Türmen umgeben. Niemand außer dem König darf bei ihr aus- und eingehen, denn es ist prophezeit, daß sie an einen ganz gemeinen Soldaten verheiratet wird, und das kann der König nicht zugeben.''

``Ich möchte sie wohl sehen!'' dachte der Soldat, aber dazu konnte er ja durchaus keine Erlaubnis erhalten.

Nun lebte er recht lustig, besuchte das Theater, fuhr in des Königs Garten und gab den Armen viel Geld, und das war hübsch von ihm; er wußte noch von früheren Zeiten her, wie schlimm es ist, nicht einen Groschen zu besitzen! Er war nun reich, hatte schöne Kleider und bekam viele Freunde, die alle sagten, er sei ein vortrefflicher Mensch, ein wahrer Edelmann, und das hatte der Soldat gern! Aber da er jeden Tag Geld ausgab und nie etwas einnahm, so blieben ihm zuletzt nicht mehr als zwei Groschen übrig und er mußte die schönen Zimmer verlassen, wo er gewohnt hatte und oben in einer ganz kleinen Kammer wohnen, dicht unter dem Dache, seine Stiefel selbst bürsten und sie mit einer Stopfnadel zusammennähen, und keiner seiner Freunde kam zu ihm, denn es waren viele Treppen hinaufzusteigen.

Es war ein ganz dunkler Abend, er konnte sich nicht einmal ein Licht kaufen, aber da fiel es ihm ein, daß ein kleines Stückchen in dem Feuerzeuge liege, welches er aus dem hohlen Baume, in welchem die Hexe ihm hinunter geholfen, genommen hatte. Er holte das Feuerzeug und das Lichtstückchen vor; aber gerade indem er Feuer schlug und die Funken aus dem Flintenstein flogen, sprang die Thür auf und der Hund, welcher Augen so groß wie ein paar Theetassen hatte und den er unten unter dem Baume gesehen hatte, stand vor ihm und sagte: ``Was befiehlt mein Herr?''

``Was ist das?'' sagte der Soldat. ``Das ist ja ein lustiges Feuerzeug, wenn ich so bekommen kann, was ich haben will! Schaffe mir etwas Geld,'' sagte er zum Hunde, und schnell war er fort und wieder da, und hielt einen großen Beutel voll Geld in seinem Maule.

Nun wußte der Soldat, was für ein prächtiges Feuerzeug das war! Schlug er einmal, so kam der Hund, der auf der Kiste mit Kupfergeld saß, schlug er zweimal, so kam der, welcher das Silbergeld hatte, und schlug er dreimal, so kam der, welcher das Gold hatte. Nun zog der Soldat wieder in die schönen Zimmer hinunter, erschien wieder in schönen Kleidern, und da erkannten ihn sogleich alle seine Freunde und hielten sehr viel von ihm.

Da dachte er einst: ``Es ist doch etwas recht Sonderbares, daß man die Prinzessin nicht zu sehen bekommen kann. Sie soll sehr schön sein; aber was kann das helfen, wenn sie immer in dem großen Kupferschlosse mit den vielen Türmen sitzen soll! Kann ich sie denn gar nicht zu sehen bekommen? Wo ist mein Feuerzeug?'' Er schlug Feuer und da kam der Hund mit den Augen so groß wie Theetassen.

``Es ist freilich mitten in der Nacht,'' sagte der Soldat, ``aber ich möchte herzlich gern die Prinzessin nur einen Augenblick sehen!''

Der Hund war gleich aus der Thür, und ehe der Soldat daran dachte, sah er ihn schon mit der Prinzessin wieder. Sie saß und schlief auf dem Rücken des Hundes und war so lieblich, daß jedermann sehen konnte, daß es eine wirkliche Prinzessin war; der Soldat konnte es durchaus nicht unterlassen, sie zu küssen, denn er war ganz und gar Soldat.

Darauf lief der Hund mit der Prinzessin zurück; doch als es Morgen wurde und der König und die Königin kamen, sagte die Prinzessin, sie habe in der vorigen Nacht einen ganz sonderbaren Traum von einem Hunde und einem Soldaten gehabt. Sie sei auf dem Hunde geritten und der Soldat habe sie geküßt.

``Das wäre wahrlich eine schöne Geschichte!'' sagte die Königin.

Nun sollte in der nächsten Nacht eine der alten Hofdamen am Bette der Prinzessin wachen, um zu sehen, ob es ein Traum sei oder was sonst.

Der Soldat hatte eine außerordentliche Sehnsucht, die Prinzessin wiederzusehen, und so kam denn der Hund in der Nacht, nahm sie und lief, was er konnte; aber die alte Hofdame lief ebenso schnell hinterher. Als sie nun sah, daß jene in einem großen Hause verschwanden, dachte sie: ``Nun weiß ich, wo es ist,'' und machte mit einem Stück Kreide ein großes Kreuz an die Thür. Dann ging sie nach Hause und legte sich nieder, und der Hund kam auch mit der Prinzessin wieder. Aber als er sah, daß ein Kreuz an der Thür, wo der Soldat wohnte, gemacht war, nahm er auch ein Stück Kreide und machte Kreuze an alle Thüren in der ganzen Stadt. Das war klug gethan, denn nun konnte ja die Hofdame die richtige Thüre nicht finden, da Kreuze an allen waren.

Früh morgens kamen der König und die Königin, die alte Hofdame und alle Offiziere, um zu sehen, wo die Prinzessin gewesen war.

``Da ist es!'' sagte der König, als er die erste Thür mit einem Kreuze erblickte.

``Nein, dort ist es, mein lieber Mann!'' sagte die Königin, als sie die zweite Thür mit einem Kreuze darauf gewahr wurde.

``Aber da ist eins und dort ist eins!'' sagten alle; wohin sie blickten, waren Kreuze an den Thüren. Da begriffen sie denn wohl, daß ihnen das Suchen nichts helfen würde.

Aber die Königin war eine äußerst kluge Frau, die mehr konnte, als in einer Kutsche fahren. Sie nahm ihre große, goldene Schere, schnitt ein großes Stück Seidenzeug in Stücke und nähete einen kleinen, niedlichen Beutel; den füllte sie mit feiner Buchweizengrütze, band ihn der Prinzessin auf den Rücken, und als das gethan war, schnitt sie ein kleines Loch in den Beutel, sodaß die Grütze den ganzen Weg bestreuen konnte, den die Prinzessin nahm.

In der Nacht kam nun der Hund wieder, nahm die Prinzessin auf den Rücken, und lief mit ihr zu dem Soldaten hin, der sie lieb hatte und gern ein Prinz hätte sein mögen, um sie zur Frau bekommen zu können.

Der Hund merkte nicht, wie die Grütze gerade vom Schlosse bis zum Fenster des Soldaten, wo er die Mauer mit der Prinzessin hinauflief, sich ausstreute. Am Morgen sahen der König und die Königin nun wohl, wo ihre Tochter gewesen war, und da nahmen sie den Soldaten und setzten ihn ins Gefängnis.

Da saß er. Hu, wie dunkel und häßlich war es da! Und dazu sagte man ihm: ``Morgen wirst Du gehängt werden.'' Das zu hören, war eben nicht ergötzlich, und sein Feuerzeug hatte er zu Hause im Gasthofe gelassen. Am Morgen konnte er durch das Eisengitter vor dem kleinen Fenster sehen, wie sich das Volk beeilte, aus der Stadt zu kommen, um ihn hängen zu sehen. Er hörte die Trommeln und sah die Soldaten marschieren. Alle Menschen liefen hinaus; unter ihnen war auch ein Schuhmacherjunge mit Schurzfell und Pantoffeln; er lief so im Galopp, daß einer seiner Pantoffeln abflog gerade gegen die Mauer, wo der Soldat saß und durch das Eisengitter hinaussah.

``Ei, Du Schuhmacherjunge! Du brauchst nicht solche Eile zu haben,'' sagte der Soldat zu ihm; ``es wird nichts daraus, bevor ich komme! Willst Du aber hinlaufen, wo ich gewohnt habe, und mir mein Feuerzeug holen, so sollst Du vier Groschen haben! Aber Du mußt schnell machen!'' Der Schuhmacherjunge wollte gern die vier Groschen haben und lief fort nach dem Feuerzeuge, brachte es dem Soldaten und --- ja, nun werden wir hören!

Außerhalb der Stadt war ein großer Galgen gemauert, ringsherum standen die Soldaten und viele tausend Menschen. Der König und die Königin saßen oben auf einem prächtigen Thron, den Richtern und dem ganzen Rat gegenüber.

Der Soldat stand schon oben auf der Leiter; aber als sie ihm den Strick um den Hals legen wollten, sagte er, daß man ja immer einem armen Sünder, bevor er seine Strafe erdulde, die Erfüllung eines unschuldigen Wunsches gewähre. Er möchte eine Pfeife Tabak rauchen, es sei ja die letzte Pfeife, die er in dieser Welt bekomme.

Das wollte der König ihm denn auch nicht abschlagen, und so nahm der Soldat sein Feuerzeug und schlug Feuer, ein-, zwei-, dreimal! Da standen alle drei Hunde, der mit den Augen so groß wie Theetassen, der mit den Augen wie Mühlräder und der, welcher Augen so groß wie ein Thurm hatte.

``Helft mir, daß ich nicht gehängt werde,'' sagte der Soldat, und da fielen die Hunde über die Richter und den ganzen Rat her, nahmen den einen bei den Beinen und den andern bei der Nase und warfen sie viele Ellen hoch in die Luft, daß sie beim Niederfallen sich in Stücke zerschlugen.

``Ich will nicht,'' sagte der König, aber der größte Hund nahm sowohl ihn wie die Königin und warf sie den andern nach; da erschraken die Soldaten und alles Volk rief: ``Guter Soldat, Du sollst unser König sein und die schöne Prinzessin haben!''

Dann setzten sie den Soldaten in des Königs Kutsche und alle drei Hunde tanzten vorauf und riefen Hurrah! und die Knaben pfiffen auf den Fingern und die Soldaten präsentierten das Gewehr. Die Prinzessin kam aus dem kupfernen Schlosse und wurde Königin, und das gefiel ihr wohl! Die Hochzeit währte acht Tage lang, und die Hunde saßen mit bei Tische und machten große Augen.

Sie taugte nichts

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\AMsection{Sie taugte nichts}

Der Stadtvogt stand am offenen Fenster. Er hatte ein Oberhemd an und eine Brustnadel in der Hemdkrause stecken und war außerordentlich gut rasiert, das hatte er eigenhändig getan und sich dabei nur einen kleinen Schnitt zugezogen, doch über diesen hatte er ein Stückchen Zeitungspapier geklebt.

``Hörst Du, Kleiner'' rief er.

Der Kleine war aber niemand Anderes als der Sohn der Waschfrau, der eben vorbeiging und ehrerbietig seine Mütze zog. Der Schirm war geknickt und auch sonst war sie nach und nach so eingerichtet worden, daß man sie in die Tasche stecken konnte. In seinen ärmlichen aber sauberen und durchaus ordentlich geflickten Kleidern und den schweren Holzschuhen stand der Knabe ehrerbietig da, als ob er vor dem Könige selber stehe.

``Du bist ein guter Junge'' sagte der Stadtvogt, ``Du bist ein höflicher Junge Deine Mutter spült wohl Wäsche unten am Fluß. Dahin sollst Du wohl auch mit dem, was Du in der Tasche hast. Das ist eine schlimme Sache mit Deiner Mutter. Wieviel hast Du da?''

``Ein halb Nößel,'' sagte der Knabe mit erschreckter, halbleiser Stimme.

``Und heute morgen bekam sie ebensoviel,'' fuhr der Mann fort.

``Nein, gestern war es'' antwortete der Knabe.

``Zwei halbe geben ein ganzes. --- Sie taugt nichts. Es ist traurig mit dieser Volksklasse. --- Sag Deiner Mutter, sie sollte sich schämen. Und werde nicht auch zum Trunkenbold, aber das wirst Du ja doch. --- Armes Kind. --- Geh nun.''

Und der Knabe ging; die Mütze behielt er in der Hand und der Wind blies durch sein blondes Haar, sodaß es sich in langen Strähnen aufrichtete. Er ging um die Straßenecke in das Gäßchen zum Flusse hinab, wo die Mutter draußen im Wasser neben der Waschbank stand und mit dem Wäscheklöpfel auf das schwere Leinen schlug. Es war starke Strömung im Flusse, denn die Schleusen der Wassermühle waren geöffnet. Die Laken wurden vom Strome fortgetrieben und rissen fast die Waschbank mit sich; die Waschfrau mußte sich kräftig dagegenstemmen.

``Ich bin nahe daran, fortzuschwimmen.'' sagte sie, ``es ist gut, daß Du kommst, denn eine Hülfe tut den Kräften schon not! Es ist kalt hier draußen im Wasser; sechs Stunden habe ich schon hier gestanden. Hast Du etwas für mich?''

Der Knabe zog die Flasche hervor und die Mutter setzte sie an den Mund und trank einen Schluck.

``Ach, das tut gut. Wie das wärmt. Das ist ebenso gut wie warmes Essen, und es ist nicht so teuer. Trink, mein Junge. Du siehst so blaß aus, Du frierst in den dünnen Kleidern; es ist ja auch Herbst. Hu, Das Wasser ist kalt. Wenn ich nur nicht krank werde. Aber das tue ich nicht. Gib mir noch einen Tropfen und trinke auch, aber nur einen kleinen Tropfen, Du darfst Dich nicht daran gewöhnen, mein liebes armes Kind.''

Sie ging um die Brücke, auf der der Knabe stand, und trat aufs Land. Das Wasser triefte aus der Schilfmatte, die sie um den Leib gebunden trug und es triefte auch aus ihrem Hemde.

``Ich quäle und placke mich ab, daß mir das Blut fast unter den Nägeln hervorspritzt, aber das tut nichts, wenn ich Dich nur ehrlich durch die Welt bringe, mein Kind.''

Im gleichen Augenblick kam eine etwas ältere Frau, ärmlich an Kleidung und Gestalt. Sie hinkte auf dem einen Bein und trug über dem einen Auge eine mächtige falsche Locke, das sollte von der Locke verdeckt werden, aber das Gebrechen fiel dadurch nur noch mehr in die Augen. Es war eine Freundin der Waschfrau, ``Humpelmaren mit der Locke'' nannten die Nachbarn sie.

``Du Ärmste, wie Du Dich quälen und placken und in dem kalten Wasser stehen mußt. Du hast doch wahrhaftig ein bißchen Warmes nötig, und doch mißgönnt man Dir noch den Tropfen, den Du bekommst!''

Und nun war bald des Stadtvogts ganze Rede zu dem Knaben der Waschfrau zu Ohren gebracht; denn Maren hatte das Ganze mitangehört und es hatte sie geärgert, daß er zu dem Kinde so von seiner eigenen Mutter und von dem Tropfen, den sie zu sich nahm, sprach, wehrend er gleichzeitig große Essen abhielt, bei denen der Wein flaschenweise floß. ``Feine Weine und starke Weine werden da getrunken, auch ein bißchen über den Durst bei vielen. Aber das nennt man beileibe nicht trinken! Sie taugen etwas, aber Du taugst nichts!''

``Hat er so zu Dir gesprochen, Kind'' sagte die Waschfrau und ihre Lippen bewegten sich zitternd. ``Du hast eine Mutter, die nichts taugt. Vielleicht hat er recht, aber dem Kinde hätte er das nicht sagen dürfen. Doch von diesem Hause kommt viel über mich.''

``Ihr habt ja dort im Hause gedient, als des Stadtvogts Eltern noch lebten und dort wohnten; das ist viele Jahre her. Seit der Zeit sind viele Scheffel Salz gegessen worden, da kann man schon Durst bekommen!'' und Maren lachte. ``Heute ist großes Mittagessen beim Stadtvogt, es sollte abgesagt werden, aber es wurde zu spät, und das Essen war schon fertig. Ich habe es von dem Hausknechte. Vor einer Stunde ungefähr ist ein Brief gekommen, daß der jüngere Bruder in Kopenhagen gestorben ist.''

``Gestorben'' schrie die Waschfrau auf und wurde totenbleich.

``Aber ja doch'' sagte die Frau. ``Geht es Euch so nahe? Nun ja, Ihr habt ihn ja gekannt von der Zeit an, wo Ihr im Hause dientet.''

``Ist er tot! Er war der beste Mensch auf Erden. Unser Herrgott bekommt nicht viele, wie er war.'' Und Tränen liefen über ihre Wangen. ``O, mein Gott. Es dreht sich alles vor mir im Kreise. Das kommt, weil ich die Flasche ausgetrunken habe; ich habe es nicht vertragen können. Ich fühle mich so krank'' und sie lehnte sich gegen einen Bretterzaun.

``Aber Mutter, Ihr seid ja ganz krank'' sagte die Frau. ``Seht nur, daß es vorübergeht! Nein, Ihr seid wirklich krank. Es wird das beste sein, daß ich Euch nachhause bringe!''

``Aber die Wäsche hier.''

``Da laßt mich nur machen. Faßt mich unter den Arm. Der Junge kann hier bleiben und solange aufpassen. Nachher komme ich und wasche den Rest. Es ist ja nicht mehr viel übrig.''

Und die Waschfrau schwankte auf ihren Füßen.

``Ich habe zu lange in dem kalten Wasser gestanden. Seit heute morgen habe ich weder etwas Warmes noch etwas Kaltes in den Magen bekommen! Ich fühle, wie das Fieber in meinem Körper sitzt. O, Herr Jesus, hilf mir nachhause. Mein armes Kind'' und sie brach in Tränen aus.

Der Knabe weinte und saß bald allein am Flusse neben der nassen Wäsche. Die beiden Frauen gingen nur langsam, die Waschfrau schwankend, das Gäßchen entlang, sie bogen um die Ecke am Hause des Stadtvogts vorbei, und gerade vor diesem sank sie auf das Pflaster. Die Leute liefen zusammen.

Humpelmaren lief in das Haus um Hülfe. Der Stadtvogt mit seinen Gästen sah aus dem Fenster.

``Das ist die Waschfrau'' sagte er. ``Sie hat wohl eins über den Durst getrunken; sie taugt nichts. Es ist schade um ihren hübschen Jungen. Für das Kind habe ich etwas übrig. Aber die Mutter taugt nichts.''

Dann wurde sie wieder zur Besinnung gebracht und in ihr ärmliches Heim geführt, wo man sie auf das Bett legte. Die brave Maren machte ihr eine Tasse warmes Bier mit Butter und Zucker zurecht, eine Medizin, die sie immer für die beste hielt. Und dann ging sie zum Flusse hinunter und spülte schlecht aber mit viel guter Meinung die Wäsche, sie zog das nasse Zeug eigentlich nur ans Land und nahm es mit sich.

Am Abend saß sie in der ärmlichen Stube bei der Waschfrau. Ein paar gebratene Kartoffeln und ein prächtig fettes Stück Schinken hatte sie von der Köchin des Stadtvogts für die Kranke bekommen, daran taten sich der Knabe und Maren gütlich; die Kranke freute sich am Geruche, der so nährend wäre, wie sie sagte.

Und der Knabe kam ins Bett, in das gleiche Bett, in dem die Mutter lag, aber er hatte seinen Platz quer zu ihren Füßen und zog einen alten Fußteppich über sich, der aus roten und blauen Streifen zusammengenäht war.

Der Waschfrau ging es ein wenig besser; das warme Bier hatte sie gestärkt und der Duft des feinen Essens ihr wohlgetan.

``Dank, Du gute Seele'' sagte sie zu Maren. ``Wenn der Junge schläft, will ich Dir auch alles sagen. Ich glaube, er tut es schon. Wie süß und lieb er doch aussieht mit den geschlossenen Augen. Er weiß nicht, wie schlecht es seiner Mutter geht. Der liebe Gott möge ihm ein anderes Schicksal bescheren! --- Als ich bei Gerichtsrats, den Eltern des Stadtvogts diente, traf es sich, daß der Jüngste von den Söhnen, der damals Student war, heimkam; damals war ich jung, wild und warmblütig, aber anständig, das kann ich auch vor Gott getrost behaupten!'' sagte die Waschfrau. --- ``Der Student war so lustig und fröhlich, ein prachtvoller Mensch. Jeder Blutstropfen in ihm war rechtschaffen und gut. Einen besseren Menschen gab es auf der ganzen Welt nicht. Er war der Sohn des Hauses und ich nur das Dienstmädchen, aber wir wurden uns einig in Zucht und Ehren. Ein Kuß ist doch keine Sünde, wenn man einander richtig lieb hat. Und dann sagte er es seiner Mutter, die für ihn der Herrgott hier auf Erden war. Und sie war auch so klug, so liebevoll und so gut. --- Dann reiste er fort und setzte mir seinen goldenen Ring auf den Finger. Als er fort war, rief mich meine Dienstherrin in ihr Zimmer. Ernst und doch so mild stand sie da und sprach mit mir, wie der liebe Gott auch hätte sprechen können. Sie erklärte mir den Abstand in Geist und Bildung zwischen ihm und mir. Jetzt sieht er noch, wie hübsch Du aussiehst, aber die Schönheit vergeht! Du bist nicht in dem Stande erzogen wie er, Ihr seid in den Reichen des Geistes nicht gleich, und darin liegt das Unglück. Ich achte den Armen, sagte sie, bei Gott erhält er vielleicht einen höheren Platz als mancher Reiche, aber auf Erden darf man nicht in der verkehrten Spur fahren, wenn man vorwärts will, sonst schlägt der Wagen um, und Ihr beiden würdet umschlagen! Ich weiß, daß ein braver Mann, ein Handwerker, um Dich gefreit hat, es ist der Handschuhmacher Erik. Er ist Witwer, er hat keine Kinder und steht sich gut; denke darüber nach.'' Jedes Wort, was sie sagte, schnitt mir wie ein Messer ins Herz, aber die Frau hatte recht. Und das drückte mich und lastete auf mir. Ich küßte ihr die Hand und weinte meine bittersten Tränen und noch mehr, als ich dann in meiner Kammer war und mich übers Bett warf. Es war eine schwere Nacht, die dieser Stunde folgte; der liebe Gott weiß es, wie ich gelitten und gestritten habe. Dann ging ich am Sonntag zum Abendmahl, um innere Klarheit zu finden. Da geschah es wie in einer Fügung, daß ich gerade den Handschuhmacher Erik traf, als ich aus der Kirche kam. Da war es mit meinen Zweifeln vorbei, wir paßten zu einander in Stellung und Verhältnissen, ja, er war sogar ein wohlhabender Mann, und so ging ich gerade auf ihn zu, nahm seine Hand und sagte: ``Sind Deine Gedanken immer noch bei mir?'' --- ``Ja, ewig und immer werden sie das sein'', sagte er. --- ``Willst Du ein Mädchen haben, das Dich achtet und ehrt, wenn es Dich auch nicht liebt? Aber auch das kann wohl noch kommen.'' --- ``Das wird kommen'', sagte er, und dann gaben wir einander die Hand. Ich ging heim zu meiner Dienstherrin. Den Goldring, den der Sohn mir gegeben hatte, trug ich auf meiner bloßen Brust, am Tage konnte ich ihn nicht auf meinen Finger setzen, aber jeden Abend, wenn ich mich ins Bett legte, setzte ich ihn auf. Ich küßte den Ring, daß meine Lippen dabei bluteten. Und dann gab ich ihn meiner Dienstherrin und sagte, daß ich in der nächsten Woche von der Kanzel herab mit dem Handschuhmacher aufgeboten werden würde. Da nahm sie mich in ihre Arme und küßte mich --- sie sagte nicht, daß ich nichts tauge, aber damals war ich vielleicht auch noch besser, obgleich ich noch nicht so viel Widerstand im Leben hatte durchmachen müssen. Zu Lichtmeß fand dann die Hochzeit statt. Das erste Jahr ging es gut, wir hielten einen Gesellen und einen Burschen, und damals dientest Du auch bei uns, Maren.

``Ach, Ihr wart mir eine gute Dienstherrin'' sagte Maren. ``Niemals werde ich vergessen, wie freundlich Ihr und Euer Mann zu mir waret.''

``Das waren die guten Jahre, in denen Du bei uns warst --- Kinder hatten wir da noch nicht. --- Den Studenten sah ich niemals mehr. --- Doch, ich sah ihn, aber er sah mich nicht. Er kam zu seiner Mutter Begräbnis. Ich sah, ihn am Grabe stehen, er war kreideweiß und tiefbetrübt, aber es war um der Mutter willen! Als später der Vater starb, war er in fremden Ländern und kam nicht her, auch später ist er nicht mehr hier gewesen. Niemals hat er sich verheiratet, das weiß ich; er war wohl Rechtsanwalt. --- An mich dachte er nicht mehr und hätte er mich gesehen, so hätte er mich wohl nicht mehr erkannt, so häßlich bin ich geworden. Und das ist ja auch gut so!''

Und sie sprach von den schweren Tagen der Prüfung, wie das Unglück geradezu über sie hergefallen war. Sie besaßen fünfhundert Reichstaler, und da in der Straße ein Haus für zweihundert zu haben war und es sich gelohnt hätte, es niederzureißen und ein neues zu bauen, wurde das Haus gekauft. Der Maurer und der Zimmermann machten einen Überschlag, wonach das weitere noch eintausendzwanzig Mark kosten würde. Kredit hatte der Handschuhmacher, das Geld bekam er in Kopenhagen geliehen, aber der Schiffer, der es bringen sollte, ging unter und das Geld mit.

Damals war es, daß mein lieber Junge, der hier schläft, geboren wurde. --- Der Vater fiel in eine schwere langwierige Krankheit. Dreiviertel Jahr lang mußte ich ihn aus- und anziehen. Es ging immer weiter rückwärts mit uns; wir liehen und liehen, all unser Eigentum ging verloren und der Vater starb. --- Ich habe mich gequält und geplagt, habe gestritten und gestrebt um des Kindes willen, habe Treppen gescheuert und Wäsche gewaschen, grobe und feine. Aber Gott wollte, daß ich es nicht besser haben sollte, aber er wird mich wohl einmal erlösen und für den Knaben sorgen.

Dann schlief sie ein.

Am Morgen fühlte sie sich gekräftigt und, wie sie glaubte, stark genug, wieder an ihre Arbeit zu gehen. Sie war eben in das kalte Wasser gestiegen, als ein Zittern, eine Ohnmacht sie befiel. Krampfhaft griff sie mit der Hand nach vorwärts, machte einen Schritt an das Land und fiel dann um. Der Kopf war auf dem Trockenen, aber die Füße lagen draußen im Fluß. Ihre Holzschuhe, mit denen sie auf dem Grunde gestanden hatte --- in jedem von ihnen war eine Strohlage --- trieben in der Strömung; hier wurde sie von Maren aufgefunden, die mit Kaffee herunterkam.

Vom Stadtvogt war eine Bestellung zuhause, daß sie sogleich zu ihm kommen möge, er habe ihr etwas zu sagen. Das war zu spät. Ein Barbier wurde geholt, um ihr zur Ader zu lassen; aber die Waschfrau war tot.

``Sie hat sich totgetrunken!'' sagte der Stadtvogt.

In dem Briefe, der die Nachricht vom Tode des Bruders brachte, war der Inhalt des Testaments angegeben und darin stand, daß sechshundert Reichstaler der Handschubmacherswitwe vermacht waren, die einmal bei seinen Eltern gedient habe. Nach bestem Gewisses sollte das Geld in kleineren oder größeren Teilen ihr und ihrem Kinde übergeben werden.

``Da hat einmal so ein Techtelmechtel zwischen meinem Bruder und ihr stattgefunden!'' sagte der Stadtvogt. ``Gut: daß sie aus dem Wege ist, nun bekommt der Knabe das Ganze. Ich werde ihn zu braven Leuten geben, daß ein guter Handwerker aus ihm wird.'' --- Und in diese Worte legte der liebe Gott seinen Segen.

Der Stadtvogt rief den Knaben zu sich, versprach, für ihn zu sorgen und sagte zu ihm, wie gut es sei, daß seine Mutter gestorben wäre, sie taugte nichts.

Sie wurde auf den Kirchhof gebracht, auf den Armenfriedhof. Maren pflanzte einen kleinen Rosenstrauch auf das Grab --- und der Knabe stand an ihrer Seite.

``Meine liebe Mutter'' sagte er und seine Tränen strömten: ``Ist es wahr, daß sie nichts taugte?''

``Ja, sie taugte!'' sagte das alte Mädchen und sah zum Himmel auf. ``Ich weiß das seit langen Jahren und seit der letzten Nacht noch mehr. Ich sage Dir, sie taugte. Und unser Herrgott im Himmelreich sagt es auch. Laß die Welt nur ruhig sagen: sie taugt nichts!''

Die Blumen der kleinen Ida

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\AMsection{Die Blumen der kleinen Ida}

``Meine armen Blumen sind ganz verwelkt!'' sagte die kleine Ida. ``Sie waren so schön gestern Abend, und nun hängen alle Blätter vertrocknet da! Warum?'' fragte sie den Studenten, der im Sopha saß, denn sie mochte ihn sehr gern leiden, er wußte die allerschönsten Geschichten und schnitt belustigende Bilder aus: Herzen mit kleinen Damen darin, welche tanzten, Blumen und große Schlösser, woran man Thüren öffnen konnte; es war ein munterer Student! ``Warum sehen die Blumen so jämmerlich aus?'' fragte sie wieder, und zeigte ihm einen Strauß, welcher ganz vertrocknet war.

``Ja, weißt Du, was ihnen fehlt?'' sagte der Student. ``Die Blumen sind diese Nacht auf dem Ball gewesen, deshalb lassen sie heute die Köpfe hängen.''

``Aber die Blumen können ja nicht tanzen!'' sagte die kleine Ida.

``Ja wohl,'' sagte der Student, ``wenn es dunkel wird und wir andern schlafen, dann springen sie lustig umher; fast jede Nacht halten sie Ball.''

``Können keine Kinder mit auf diesen Ball kommen?''

``O ja,'' sagte der Student, ``ganz kleine Gänseblümchen und Maiblümchen.''

``Wo tanzen die schönen Blumen?'' fragte die kleine Ida.

``Bist Du nicht oft vor dem Thore bei dem großen Schlosse gewesen, wo der König im Sommer wohnt und der herrliche Garten mit den vielen Blumen ist? Du hast ja die Schwäne gesehen, welche zu Dir hinschwimmen, wenn Du ihnen Brotkrumen geben willst. Glaube mir, da draußen ist großer Ball.''

``Ich war gestern mit meiner Mutter draußen im Garten,'' sagte Ida, ``aber alle Blätter waren von den Bäumen, und da war durchaus keine Blume mehr! Wo sind sie? Im Sommer sah ich viele!''

``Sie sind drinnen im Schlosse!'' sagte der Student. ``Wisse, sobald der König und alle Hofleute zur Stadt ziehen, dann laufen die Blumen gleich aus dem Garten in das Schloß und sind lustig. Das solltest Du sehen. Die beiden allerschönsten Rosen setzen sich auf den Thron, und dann sind sie König und Königin, alle die roten Hahnenkämme stellen sich zu beiden Seiten auf und stehen und verbeugen sich, das sind die Kammerjunker. Dann kommen die niedlichsten Blumen, und dann ist da großer Ball; die blauen Veilchen stellen kleine Seekadetten vor, sie tanzen mit Hyacinthen und Crocus, welche sie Fräulein nennen. Die Tulpen und die großen Feuerlilien sind alte Damen, die sorgen dafür, daß hübsch getanzt wird und daß es ordentlich zugeht!''

``Aber,'' fragte die kleine Ida, ``ist da niemand, der den Blumen etwas zuleide thut, weil sie in des Königs Schloß tanzen?''

``Es weiß eigentlich niemand davon!'' sagte der Student. ``Zuweilen kommt freilich in der Nacht der alte Schloßverwalter, welcher dort draußen aufpassen soll, mit seinem großen Bund Schlüssel, aber sobald die Blumen die Schlüssel rasseln hören, sind sie ganz still, verstecken sich hinter den langen Vorhängen und stecken den Kopf hervor.'' --- ``Es riecht hier nach Blumen,'' sagt der alte Schloßverwalter, ``aber sehen kann er sie nicht.''

``Das ist lustig!'' sagte die kleine Ida und klatschte in die Hände. ``Aber würde ich die Blumen auch nicht sehen können?''

``Ja,'' sagte der Student, ``denke nur daran, wenn Du wieder hinauskommst, daß Du an das Fenster siehst, so wirst Du sie schon gewahr werden. Das that ich heute, da lag eine lange, gelbe Lilie im Sopha und streckte sich; das war eine Hofdame!''

``Können auch die Blumen aus andern Gärten da hinauskommen? Können sie den weiten Weg machen?''

``Ja gewiß!'' sagte der Student, ``denn wenn sie wollen, so können sie fliegen. Du hast die schönen Schmetterlinge gesehen, die roten, gelben und weißen, die sehen fast aus wie Blumen; das sind sie auch gewesen. Sie sind vom Stengel ab hoch in die Luft geflogen, und haben da mit den Blättern geschlagen, als wenn es kleine Flügel wären, und da flogen sie; und da sie sich gut aufführten, bekamen sie die Erlaubnis, auch bei Tage herumzufliegen, brauchten nicht zu Hause und still auf dem Stiel zu sitzen, und da wurden die Blätter am Ende zu wirklichen Flügeln. Das hast Du ja selbst gesehen. Es kann übrigens sein, daß die Blumen eines Gartens noch nie im Schlosse des Königs gewesen sind, oder nicht wissen, daß es dort Nachts so munter hergeht. Deshalb will ich Dir etwas sagen! Dann wird er recht erstaunen, der Lehrer, welcher hier nebenan wohnt, Du kennst ihn ja wohl? Wenn Du in seinen Garten kommst, mußt Du einer der Blumen erzählen, daß draußen auf dem Schlosse großer Ball ist, dann sagt diese es allen andern wieder, und sie fliegen fort. Kommt dann der Lehrer in den Garten hinaus, so ist nicht eine einzige Blume da, und er kann gar nicht begreifen, wo sie geblieben sind.''

``Aber wie kann es die Blume den andern erzählen? Die Blumen können ja nicht sprechen!''

``Nein, das können sie freilich nicht!'' erwiderte der Student, ``aber dann geben sie sich Zeichen! Hast Du nicht oft gesehen, daß, wenn es ein wenig weht, die Blumen sich beugen und alle die grünen Blätter bewegen? Das ist eben so deutlich, als ob sie sprächen!''

``Kann der Lehrer denn die Zeichen verstehen?'' fragte Ida.

``Ja, sicherlich! Er kam eines Morgens in seinen Garten und sah eine große Brennessel stehen und mit ihren Blättern einer schönen, roten Nelke Zeichen geben. `Du bist niedlich und ich bin Dir gut,' sagte sie, aber dergleichen kann der Lehrer nicht leiden, und schlug sogleich der Brennessel auf die Blätter, denn das sind ihre Finger, aber da brannte er sich, und seit der Zeit wagt er es nicht, eine Brennessel anzurühren.''

``Das ist lustig!'' sagte die kleine Ida und lachte.

``Wie kann man einem Kinde so etwas erzählen!'' sagte der alte Herr, welcher zum Besuch gekommen war und im Sopha saß. Dieser konnte den Studenten gar nicht leiden und brummte immer, wenn er ihn die possierlichen, munteren Bilder ausschneiden sah; bald war es ein Mann, der an einem Galgen hing und ein Herz in der Hand hielt, denn er war ein Herzendieb, bald eine alte Hexe, welche auf einem Besen ritt und ihren Mann auf der Nase hatte; das konnte der alte Herr nicht leiden, und dann sagte er, gerade wie jetzt: ``Wie kann man einem Kinde so etwas erzählen! Das sind dumme Luftschlösser!''

Aber der kleinen Ida schien es doch recht drollig zu sein, was der Student von ihren Blumen erzählte, und sie dachte viel daran. Die Blumen ließen die Köpfe hängen, denn sie waren müde, da sie die ganze Nacht getanzt hatten. Da ging sie mit ihnen zu ihrem anderen Spielzeug, welches auf einem niedlichen, kleinen Tische stand, und das ganze Schubfach war voll schöner Sachen. Im Puppenbette lag ihre Puppe Sophie und schlief, aber die kleine Ida sagte ihr: ``Du mußt aufstehen, Sophie, und Dich damit begnügen, diese Nacht im Schubkasten zu liegen, die armen Blumen sind krank und da müssen sie in Deinem Bette liegen, vielleicht werden sie dann wieder munter!'' Da nahm sie die Puppe heraus, die sehr verdrießlich aussah und nicht ein einziges Wort sagte, denn sie war ärgerlich, weil sie ihr Bett nicht behalten konnte.

Dann legte Ida die Blumen in das Puppenbett, zog die kleine Decke ganz über sie herauf, und sagte, nun sollen sie hübsch still liegen, so wolle sie ihnen Thee kochen, damit sie wieder munter werden und morgen aufstehen könnten, und sie zog die Vorhänge dicht um das kleine Bett zusammen, damit die Sonne ihnen nicht in die Augen schiene.

Den ganzen Abend konnte sie nicht unterlassen, an das zu denken, was ihr der Student erzählt hatte, und als sie nun selbst zu Bette gehen sollte, mußte sie erst hinter die Vorhänge sehen, welche vor den Fenstern herabhingen, wo ihrer Mutter herrliche Blumen standen, sowohl Hyacinthen wie Tulpen und da flüsterte sie ganz leise: ``Ich weiß wohl, Ihr sollt diese Nacht tanzen!'' Aber die Blumen thaten, als ob sie nichts verständen und rührten kein Blatt, allein die kleine Ida wußte doch, was sie wußte.

Als sie zu Bette gegangen war, dachte sie lange daran, wie hübsch es sein müsse, die schönen Blumen draußen im Schlosse des Königs tanzen zu sehen. ``Ob meine Blumen wirklich mit dabei gewesen sein mögen?'' Aber dann schlief sie ein. In der Nacht erwachte sie wieder; sie hatte von den Blumen und dem Studenten, den der alte Herr gescholten und gesagt hatte, er wolle ihr etwas einbilden, geträumt. Es war ganz stille in der Schlafstube, wo Ida lag; die Nachtlampe brannte auf dem Tische und Vater und Mutter schliefen.

``Ob meine Blumen nun wohl in Sophiens Bett liegen?'' sagte sie bei sich selbst, ``gern möchte ich es wissen!'' Sie erhob sich ein wenig und blickte nach der Thür, welche angelehnt stand, drinnen lagen ihre Blumen und all' ihr Spielzeug. Sie horchte, und da kam es ihr vor, als höre sie, daß drinnen in der Stube auf dem Klavier gespielt werde, aber ganz leise und so hübsch, wie sie es nie gehört hatte.

``Nun tanzen sicherlich alle Blumen drinnen!'' sagte sie. ``O, wie gern möchte ich es doch sehen!'' aber sie wagte nicht aufzustehen, denn sonst weckte sie ihren Vater und ihre Mutter.

``Wenn sie doch nur hereinkommen möchten,'' sagte sie; aber die Blumen kamen nicht und die Musik fuhr fort hübsch zu spielen. Da konnte sie es nicht mehr aushalten, denn es war allzuschön, sie kroch aus ihrem kleinen Bette hinaus, ging ganz leise nach der Thür und sah in die Stube hinein. Wie herrlich war das, was sie zu sehen bekam!

Es war gar keine Nachtlampe drinnen, aber doch ganz hell, der Mond schien durch das Fenster mitten auf den Fußboden, es war fast, als ob es Tag wäre. Alle Hyacinthen und Tulpen standen in zwei langen Reihen im Zimmer, es waren keine mehr am Fenster, dort standen die leeren Töpfe; auf dem Fußboden tanzten alle Blumen niedlich rings um einander herum, machten ordentlich Kette und hielten einander bei den langen, grünen Blättern, wenn sie sich herumschwenkten. Aber am Klavier saß eine große, gelbe Lilie, welche die kleine Ida bestimmt im Sommer gesehen, denn sie erinnerte sich deutlich, daß der Student gesagt hatte: ``Wie gleicht sie dem Fräulein Line!'' aber da wurde er von allen ausgelacht. Nun erschien es der kleinen Ida wirklich auch, als ob die lange, gelbe Blume dem Fräulein gleiche, und sie hatte auch dieselben Manieren beim Spielen, bald neigte sie ihr länglich gelbes Antlitz nach der einen Seite, bald nach der andern, und nickte den Takt zur herrlichen Musik. Niemand bemerkte die kleine Ida. Nun sah sie eine große, blaue Crocus mitten auf den Tisch hüpfen, wo das Spielzeug stand, gerade auf das Puppenbett zugehen und die Vorhänge zur Seite ziehen; da lagen die kranken Blumen, aber sie erhoben sich sogleich und nickten den andern zu, daß sie auch mittanzen wollten. Der alte Nußknacker, dem die Unterlippe abgebrochen war, stand auf und verneigte sich vor den hübschen Blumen. Diese sahen durchaus nicht krank aus, sie sprangen hinunter zu den andern und waren recht vergnügt.

Es war gerade, als ob etwas vom Tische herunterfiele, Ida sah dorthin, es war die Fastnachtsrute, welche heruntersprang, es schien auch, als ob sie mit zu den Blumen gehörte. Sie war auch sehr niedlich, und eine kleine Wachspuppe, die auch einen solchen breiten Hut auf dem Kopf hatte, wie ihn der alte Herr trug, saß oben drein. Die Fastnachtsrute hüpfte auf ihren drei roten Stelzfüßen mitten unter die Blumen, und trampelte ganz laut, denn sie tanzte Mazurka, und den Tanz kannten die andern Blumen nicht, weil sie so leicht waren und nicht so stampfen konnten.

Die Wachspuppe auf der Fastnachtsrute wurde auf einmal groß und lang, drehte sich über die Papierblumen herum, und rief ganz laut: ``Wie kann man dem Kinde so etwas einbilden? Das sind dumme Luftschlösser!'' und da glich die Wachspuppe dem alten Herrn mit dem breiten Hut ganz genau, sie sah eben so gelb und verdrießlich aus. Aber die Papierblumen schlugen ihn an die dünnen Beine, und da schrumpfte er wieder zusammen und wurde eine ganz kleine Wachspuppe. Das war recht hüsch anzusehen! Die kleine Ida konnte das Lachen nicht unterdrücken. Die Fastnachtsrute fuhr fort zu tanzen, und der alte Herr mußte mittanzen, es half ihm nichts, er mochte sich nun groß und lang machen oder die kleine, gelbe Wachspuppe mit dem großen, schwarzen Hut bleiben. Da legten die andern Blumen ein gutes Wort für ihn ein, besonders die, welche im Puppenbett gelegen hatten, und dann ließ die Fastnachtsrute es gut sein. Im selben Augenblick klopfte es ganz laut drinnen im Schubkasten, wo Idas Puppe, Sophie, bei viel anderm Spielzeug lag; der Nußknacker lief bis an die Kante des Tisches, legte sich lang auf seinen Bauch und begann den Schubkasten ein wenig herauszuziehen. Da erhob sich Sophie und sah ganz erstaunt rings umher. ``Hier ist wohl Ball!'' sagte sie; ``warum hat mir das niemand gesagt?''

``Willst Du mit mir tanzen?'' sagte der Nußknacker.

``Ja, Du bist mir der Rechte zum Tanzen!'' sagte sie und kehrte ihm den Rücken zu. Dann setzte sie sich auf den Schubkasten und dachte, daß wohl eine der Blumen sie zum Tanzen auffordern werde, aber es kam keine. Dann hustete sie, hm, hm, hm! aber dennoch kam keine. Der Nußknacker tanzte ganz allein und nicht schlecht.

Da nun keine der Blumen Sophien zu erblicken schien, ließ sie sich vom Schubkasten gerade auf den Boden herunter fallen, sodaß es einen großen Lärm gab. Alle Blumen kamen herbeigelaufen und fragten, ob sie sich verletzt habe, und sie waren alle sehr freundlich gegen sie, besonders die Blumen, welche in ihrem Bett gelegen hatten. Aber sie war ganz munter, und Idas Blumen bedankten sich alle für das schöne Bett und nahmen sie mitten in die Stube, wo der Mond schien, tanzten mit ihr, und alle die andern Blumen bildeten einen Kreis um sie herum. Nun war Sophie froh und sagte, sie könnten gern ihr Bett behalten, sie mache sich nichts daraus, im Schubkasten zu liegen.

Aber die Blumen sagten: ``Wir danken Dir herzlich, doch wir können nicht lange leben! Morgen sind wir tot; aber sage der kleinen Ida, sie solle uns draußen im Garten, wo der Kanarienvogel liegt, begraben, dann wachsen wir zum Sommer wieder und werden weit schöner!''

``Nein, Ihr sollt nicht sterben!'' sagte Sophie, und dann küßte sie die Blumen, da ging die Saalthüre auf und eine Menge herrlicher Blumen kam tanzend herein. Ida konnte gar nicht begreifen, woher dieselben gekommen waren, das waren sicher alle Blumen draußen vom Schlosse des Königs. Ganz vorn gingen zwei prächtige Rosen, die hatten kleine Goldkronen auf, das war ein König und eine Königin, dann kamen die niedlichsten Levkojen und Nelken, und sie grüßten nach allen Seiten. Sie hatten Musik mit sich, große Mohnblumen bliesen auf Erbsenschoten, sodaß sie ganz rot im Gesichte waren. Die blauen Traubenhyacinthen und die kleinen, weißen Schneeglöckchen klingelten, gerade als ob sie Schellen hätten. Das war eine merkwürdige Musik. Dann kamen noch viele andere Blumen, und die tanzten allesamt, die blauen Veilchen und die roten Tausendschön, die Gänseblumen und die Maiblumen. Und alle Blumen küßten einander, das war allerliebst anzusehen!

Zuletzt sagten die Blumen einander gute Nacht, dann schlich sich auch die kleine Ida in ihr Bett, wo sie von allem träumte, was sie gesehen hatte.

Als sie am nächsten Morgen aufstand, ging sie geschwind nach dem kleinen Tische hin, um zu sehen, ob die Blumen noch da seien; sie zog die Vorhänge von dem kleinen Bett zur Seite, ja, da lagen sie alle, aber sie waren ganz vertrocknet, weit mehr als gestern. Sophie lag im Schubkasten, wohin sie Ida gelegt hatte, sie sah sehr schläfrig aus.

``Entsinnst Du Dich, was Du mir sagen solltest?'' sagte die kleine Ida, aber Sophie sah ganz dumm aus und sagte nicht ein einziges Wort.

``Du bist gar nicht gut,'' sagte Ida, ``und sie tanzten doch allesamt mit Dir.'' Dann nahm sie eine kleine Papierschachtel, worauf schöne Vögel gezeichnet waren, die machte sie auf und legte die toten Blumen hinein. ``Das soll Euer niedlicher Sarg sein,'' sagte sie, ``und wenn später die Verwandten kommen, so sollen sie mir helfen, Euch draußen im Garten zu begraben, damit Ihr im Sommer wieder wachsen und weit schöner werden könnet!''

Die Verwandten waren zwei muntere Knaben, sie hießen Jonas und Adolf; ihr Vater hatte ihnen zwei neue Gewehre geschenkt, die sie mitgebracht hatten, um sie Ida zu zeigen. Sie erzählte ihnen von den armen Blumen, welche gestorben waren und da begruben sie dieselben. Beide Knaben gingen mit dem Gewehre auf den Schultern voraus, und die kleine Ida folgte mit den toten Blumen in der niedlichen Schachtel. Draußen im Garten wurde ein kleines Grab gegraben, Ida küßte erst die Blumen, setzte sie mit der Schachtel in die Erde und Adolf und Jonas schossen mit dem Gewehre über das Grab, denn sie hatten keine Kanonen.

Das alte Haus

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\AMsection{Das alte Haus}

Da stand in einer Nebenstraße ein altes, altes Haus, welches fast dreihundert Jahre alt war; denn das konnte man an dem Balken lesen, wo die Jahreszahl zugleich mit Tulpen und Hopfenranken ausgeschnitten war. Da standen ganze Verse in der Schreibart der alten Zeit, und über jedem Fenster war im Balkon ein bis zur Fratze verzogenes Gesicht ausgeschnitzt. Das eine Stockwerk reichte weit über das andere hervor, und unter dem Dache war eine bleierne Rinne mit einem Drachenkopf angebracht; das Regenwasser sollte aus dem Rachen herauslaufen, aber es lief aus dem Bauch, denn es war ein Loch in der Rinne.

Alle die anderen Häuser in der Straße waren neu und hübsch, mit großen Fensterscheiben und glatten Wänden; man konnte wohl sehen, daß sie mit dem alten Hause nichts zu thun haben wollten, sie dachten wohl: ``Wie lange soll dieses alte Gerümpel hier noch zum allgemeinen Ärgernis in der Straße stehen! Auch springt der Erker so weit hervor, daß niemand aus unsern Fenstern sehen kann, was auf jener Seite vorgeht! Die Treppe ist so breit, wie zu einem Schlosse und so hoch, wie zu einem Kirchturm. Das eiserne Geländer sieht aus wie die Thür zu einem Erbbegräbnisse, und dann hat es messingene Knöpfe. Es ist recht abgeschmackt!''

Gerade gegenüber in der Straße standen auch neue Häuser, sie dachten wie die andern, aber am Fenster saß hier ein kleiner Knabe mit frischen, roten Wangen, mit hellen, strahlenden Augen; ihm gefiel das alte Haus noch am meisten, und das sowohl im Sonnenschein wie im Mondenschein. Und sah er hinüber nach der Mauer, wo der Kalk abgefallen war, dann konnte er sitzen und die sonderbarsten Bilder herausfinden, gerade wie die Straße früher ausgesehen haben mochte, mit Treppen, Erkern und spitzen Giebeln, er konnte Soldaten mit Hellebarden sehen, und Dachrinnen, die wie Drachen und Lindwürme herumliefen. --- Das war so recht ein Haus zum Anschauen; und da drüben wohnte ein alter Mann, der trug Knieehosen, hatte einen Rock mit großen, messingenen Knöpfen und eine Perücke, der man es ansehen konnte, daß es eine wirkliche Perücke war. Jeden Morgen kam ein alter Aufwärter zu ihm, welcher rein machte und Gänge besorgte, sonst war der alte Mann in den Kniehosen ganz allein in dem alten Hause. Manchmal kam er an das Fenster und sah hinaus, und der kleine Knabe nickte ihm zu, und der alte Mann nickte wieder, so wurden sie mit einander bekannt und waren Freunde, obgleich sie nie mit einander gesprochen hatten, aber das war auch gar nicht nötig.

Der kleine Knabe hörte seine Eltern sagen: ``Der alte Mann da drüben hat es recht gut, aber er lebt erschrecklich einsam!''

Am nächsten Sonntag nahm der kleine Knabe etwas und wickelte es in ein Stück Papier, ging vor die Hausthür und als der, welcher die Gänge besorgte, vorbeikam, sagte er zu ihm: ``Höre, willst Du dem alten Manne da drüben dieses von mir bringen? Ich habe zwei Zinnsoldaten, dies ist der eine, er soll ihn haben; denn ich weiß, er ist schrecklich einsam.''

Der alte Aufwärter sah ganz vergnügt aus, nickte und trug den Zinnsoldaten hinüber in das alte Haus. Darauf wurde angefragt, ob der kleine Knabe nicht Lust habe, selbst hinüber zu kommen, und einen Besuch abzustatten, und dazu erhielt er von seinen Eltern die Erlaubnis, und so kam er in das alte Haus.

Die Messingknöpfe auf dem Treppengeländer glänzten weit stärker als sonst; man hätte glauben können, daß sie des Besuches wegen poliert worden seien, und es war, als ob die ausgeschnitzten Trompeter --- denn in der Thür waren Trompeter ausgeschnitzt, die in Tulpen standen --- aus allen Kräften bliesen, die Backen sahen weit dicker aus als zuvor. Ja, sie bliesen: ``Tratteratra! Der kleine Knabe kommt! Tratteratra!'' --- und dann ging die Thür auf. Die ganze Flur war mit alten Bildern, Rittern in Harnischen und Frauen in seidenen Kleidern verziert; und die Harnische rasselten und die seidenen Kleider rauschten! --- Dann kam da eine Treppe, die ging ein großes Stück hinauf und ein kleines Stück hinunter, und dann gelangte man auf einen Altan, der freilich sehr gebrechlich, mit großen Löchern und langen Spalten versehen war, aber aus allen wuchsen Gras und Blätter, der ganze Altan, der Hof und die Mauern waren mit so vielem Grün bewachsen, daß es wie ein Garten aussah, aber es war nur ein Altan. Hier standen alte Blumentöpfe, die Gesichter und Eselsohren hatten; die Blumen wuchsen aber gerade so wie wilde Pflanzen. In dem einen Topfe wuchsen nach allen Seiten Nelken über, das heißt das Grüne davon, Schößling auf Schößling, die sprachen ganz deutlich: ``Die Luft hat mich gestreichelt, die Sonne hat mich geküßt und mir zum Sonntag eine kleine Blume versprochen, eine kleine Blume zum Sonntag!''

Dann gelangte er in ein Zimmer, wo die Wände einen Überzug von Schweinsleder hatten, und darauf waren goldene Blumen gedruckt.

\AMquote{
        ``Vergoldung vergeht, \\
        Aber Schweinsleder besteht --- ''
}

sagten die Wände.

Da standen Lehnstühle mit hohen Rücken, ganz bunt ausgeschnitzt und mit Armen an beiden Seiten. ``Setzen Sie sich! Nehmen Sie Platz!'' sagten diese. ``Au, wie es in mir knackt! Nun bekomme ich wohl auch die Gicht, wie der alte Schrank! Gicht im Rücken, au!''

Und dann kam der kleine Knabe in das Zimmer, wo der Erker war und wo der alte Mann saß.

``Vielen Dank für den Zinnsoldaten, mein kleiner Freund!'' sagte der alte Mann. ``Und herzlichen Dank dafür, daß Du zu mir herüber kommst.''

``Dank! Dank!'' oder ``Knack! Knack!'' sagte es in allen Möbeln; es waren ihrer so viele, daß sie einander fast im Wege standen, um den kleinen Knaben zu sehen.

Mitten an der Wand hing das Gemälde einer schönen Dame, die jung und fröhlich aussah, aber ganz so gekleidet, wie vor alten Zeiten, mit Puder im Haar und steif stehenden Kleidern; sie sagte weder ``Dank'', noch ``Knack'', sah aber mit ihren milden Augen den kleinen Knaben an, welcher sogleich den alten Mann fragte: ``Woher hast Du sie bekommen?''

``Vom Trödler drüben!'' sagte der alte Mann. ``Dort hängen viele Bilder! Niemand kennt sie oder bekümmert sich darum, denn sie sind alle begraben, aber vor Zeiten habe ich diese gekannt, und nun ist sie seit einem halben Jahrhundert tot!''

Unter dem Gemälde hing unter Glas und Rahmen ein Strauß verwelkter Blumen, die waren gewiß auch vor einem halben Jahrhundert gepflückt, so alt sahen sie aus. Der Perpendikel an der großen Uhr ging hin und her und die Zeiger drehten sich, und alles im Zimmer wurde noch älter, aber das merkten sie nicht.

``Sie sagen zu Hause,'' sagte der kleine Knabe, ``daß Du erschrecklich einsam bist!''

``O,'' sagte er, ``die alten Gedanken, mit dem, was sie mit sich führen können, kommen und besuchen mich, und jetzt kommst Du ja auch! Ich bin ganz zufrieden!''

Dann nahm er von dem Schrank ein Buch mit Bildern, darin waren lange Aufzüge, die sonderbarsten Kutschen, wie man sie heutzutage nicht sieht, Soldaten und Bürger mit wehenden Fahnen, die Schneider hatten eine mit einer Scheere, welche von zwei Löwen gehalten wurde, und die der Schuhmacher war ohne Stiefel, aber mit einem Adler, der zwei Köpfe hatte, denn die Schuhmacher müssen alles so haben, daß sie sagen können: das ist ein Paar. Ja, das war ein Bilderbuch!

Der alte Mann ging in das andere Zimmer, um Eingemachtes, Äpfel und Nüsse zu holen; es war wirklich ganz herrlich in dem alten Hause.

``Ich kann es nicht aushalten!'' sagte der Zinnsoldat, der auf dem Tische stand; ``hier ist es einsam und traurig; nein, wenn man das Familienleben kennen gelernt hat, so kann man sich an diese Einsamkeit hier nicht gewöhnen! Ich kann es nicht aushalten! Der ganze Tag ist schrecklich lang und der Abend noch länger! Hier ist es gar nicht wie drüben bei Dir, wo Dein Vater und Deine Mutter fröhlich sprechen, und wo Du und ihr lieben Kinder alle einen herrlichen Lärm macht. Nein, wie lebt der alte Mann doch so einsam! Glaubst Du wohl, daß er freundliche Blicke oder einen Weihnachtsbaum erhält? Außer einem Begräbnisse bekommt er gar nichts. Ich kann es nicht aushalten!''

``Du mußt es nicht so traurig auffassen!'' sagte der kleine Knabe. ``Mir kommt es hier ganz herrlich vor, und alle die alten Gedanken, mit dem, was sie mit sich führen können, kommen und statten Besuch ab!''

``Ja, die sehe ich aber nicht, und kenne ich auch nicht!'' sagte der Zinnsoldat. ``Ich kann es nicht aushalten!''

``Das mußt Du aber!'' sagte der kleine Knabe.

Der alte Mann kam mit dem fröhlichsten Antlitz, dem schönsten Eingemachten, Äpfeln und Nüssen, und da dachte der kleine Knabe nicht an den Zinnsoldaten.

Glücklich und vergnügt kam der kleine Knabe nach Hause, Tage und Wochen wurde nach dem alten Hause hin- und von dem alten Hause hergenickt, und dann kam der kleine Knabe wieder hinüber.

Die ausgeschnitzten Trompeter bliesen: ``Tratteratra! Da ist der kleine Knabe! Tratteratra!'' Schwert und Rüstung auf den alten Ritterbildern rasselten, und die seidenen Kleider rauschten, das Schweinsleder erzählte, und die alten Stühle hatten die Gicht im Rücken: ``Au!'' Es war gerade so wie das erste Mal, denn da drüben war der eine Tag und die eine Stunde so wie die andere.

``Ich kann es nicht aushalten!'' sagte der Zinnsoldat; ``ich habe Zinn geweint! Hier ist es gar zu traurig! Laß mich lieber in den Krieg gehen und Arme und Beine verlieren! Das ist doch eine Veränderung! Jetzt weiß ich, was das heißt, Besuch von seinen alten Gedanken, mit dem, was sie mit sich führen können, zu haben! Ich habe den Besuch der meinigen gehabt, und glaube mir, das ist auf die Länge der Zeit kein Vergnügen; ich war am Ende nahe daran, von dem Tische herabzuspringen. Ich sah Euch alle da drüben im Hause so deutlich, als ob Ihr hier wäret; es war wieder der Sonntagsmorgen, dessen Du Dich wohl entsinnst! Ihr Kinder standet alle vor dem Tisch und sangt Euer Lied, das Ihr jeden Morgen singt; Ihr standet andächtig mit gefalteten Händen, Vater und Mutter waren ebenso feierlich, und da ging die Thür auf, und die kleine Schwester Maria, die noch nicht zwei Jahre alt ist und immer tanzt, wenn sie Musik oder Gesang hört, welcher Art es auch sein mag, wurde hereingebracht. Sie sollte nun zwar nicht, aber sie fing an zu tanzen, doch konnte sie nicht in den Takt kommen, denn die Töne waren so lang, da stand sie erst auf dem einen Bein und neigte den Kopf ganz vornüber, und dann auf dem andern Bein und bog den Kopf wieder ganz vornüber, aber das wollte nicht passen. Ihr standet alle sehr ernsthaft da, was Euch freilich schwer fiel, aber ich lachte inwendig, und deshalb fiel ich vom Tisch herab und bekam eine Beule, die ich noch trage, denn es war nicht recht von mir, daß ich lachte. Aber das Ganze erfüllt mich jetzt wieder, sowie alles, was ich jetzt erlebt habe, und das sind wohl die alten Gedanken, mit dem, was sie mit sich führen können! --- Sage mir, ob Ihr noch des Sonntags singt? Erzähle mir etwas von der kleinen Maria; und wie ergeht es meinem Kameraden, dem andern Zinnsoldaten? Ja, der ist wahrlich glücklich! --- Ich kann es nicht aushalten!''

``Du bist weggeschenkt!'' sagte der kleine Knabe. ``Du mußt bleiben. Kannst Du das nicht einsehen?''

Der alte Mann kam mit einem Kasten, worin vieles zu bewundern war, Kostbarkeiten und Balsambüchsen und alte Karten, so groß und so vergoldet, wie man sie jetzt nie mehr sieht. Es wurden mehrere Kasten, sowie auch das Klavier geöffnet; dieses hatte eine Landschaft inwendig auf dem Deckel, und es war heiser, als der alte Mann darauf spielte; dann sang er leise ein Lied.

``Ja, das konnte sie singen!'' sagte er, und dann nickte er dem Bilde zu, welches er bei dem Trödler gekauft hatte, und die Augen des alten Mannes glänzten dabei.

``Ich will in den Krieg! Ich will in den Krieg!'' rief der Zinnsoldat so laut, wie er nur konnte, und stürzte sich gerade auf den Fußboden herab.

Ja, wo war er geblieben? Der alte Mann suchte, der kleine Knabe suchte, fort war er und fort blieb er. ``Ich werde ihn wohl finden!'' sagte der Alte, aber er fand ihn nie wieder, der Fußboden war allzu durchlöchert --- der Zinnsoldat war durch eine Spalte gefallen, und lag im offenen Grabe.

Der Tag verstrich und der kleine Knabe kam nach Hause. Die Woche verging, und es vergingen mehrere Wochen. Die Fenster waren fest zugefroren; der kleine Knabe mußte darauf hauchen, um ein Guckloch nach dem andern Hause hinüber zu erhalten, da war der Schnee in alle Schnörkel und Inschriften hineingetrieben, und lag hoch über der Treppe, gerade als ob da niemand zu Hause wäre, es war auch niemand zu Hause, der alte Mann war gestorben.

Am Abend hielt ein Wagen an der Thür und auf demselben trug man ihn in seinem Sarge, er sollte auf dem Lande in seinem Begräbnisplatz ruhen. Da fuhr er nun, aber niemand folgte, alle seine Freunde waren ja tot. Der kleine Knabe warf dem Sarge, als er wegfuhr, Kußfinger nach.

Einige Tage darauf wurden das Haus und die Gerätschaften verkauft, der kleine Knabe sah von seinem Fenster aus, wie man alles forttrug: die alten Ritter und die alten Damen, die Blumentöpfe mit langen Ohren, die alten Stühle und die alten Schränke; einiges kam dahin und anderes dorthin; das Bild, das beim Trödler gefunden war, kam wieder zum Trödler zurück, und da hing es lange, denn niemand kannte die Frau mehr, niemand kümmerte sich um das alte Bild.

Im Frühjahr riß man das alte Haus selbst nieder, denn es war ein Gerümpel, sagten die Leute. Von der Straße aus konnte man gerade in das Zimmer mit dem Schweinslederüberzug hineinsehen, welcher zerfetzt und zerrissen wurde; und das Grüne am Altan hing ganz verwildert um die fallenden Balken. Dann wurde aufgeräumt.

``Das half!'' sagten die Nachbarhäuser.

$$*$$

An die Stelle des alten Hauses wurde ein schönes Haus mit großen Fenstern und weißen, glatten Mauern gebaut, aber vorn, wo eigentlich das alte Haus gestanden hatte, wurde ein kleiner Garten angelegt und gegen des Nachbars Mauern wuchsen wilde Weinranken empor; vor den Garten kam ein großes, eisernes Gitter mit eiserner Thür, es sah ganz stattlich aus, die Leute standen still und guckten da hinein. Die Sperlinge setzten sich dutzendweise auf die Weinranken, und plauderten mit einander, so laut wie sie konnten, aber nicht von dem alten Hause, denn dessen konnten sie sich nicht erinnern. Viele Jahre verstrichen, der kleine Knabe war zu einem großen Manne herangewachsen, und zwar zu einem tüchtigen Manne, dessen sich die Eltern erfreuten. Er hatte sich eben verheiratet und war mit seiner jungen Frau in das neue Haus, welches den Garten hatte, eingezogen, da stand er neben ihr, indem sie eine Feldblume pflanzte, die sie niedlich fand. Sie pflanzte dieselbe mit ihrer kleinen Hand und drückte die Erde mit den Fingern fest. ``Au!'' Was war das? Sie hatte sich gestochen. Da ragte etwas Spitziges aus der weichen Erde hervor.

Das war --- ja, denke! --- es war der Zinnsoldat, derselbe, welcher oben bei dem alten Manne verloren gegangen war, und der zwischen Zimmerholz und Schutt sich herumgetrieben und dann viele Jahre in der Erde gelegen hatte.

Die junge Frau wischte den Zinnsoldaten zuerst mit einem grünen Blatt und dann mit ihrem feinen Taschentuch ab, welches einen herrlichen Duft hatte, und es war dem Zinnsoldaten gerade, als ob er aus einer Ohnmacht erwache.

``Laß mich ihn sehen!'' sagte der junge Mann, lachte und schüttelte dann den Kopf. ``Ja, derselbe kann es nun wohl nicht sein, aber er erinnert mich an eine Geschichte, die ich mit einem Zinnsoldaten hatte, als ich noch ein kleiner Knabe war!'' Dann erzählte er seiner Frau von dem alten Haus und von dem alten Manne und von dem Zinnsoldaten, den er ihm hinüber geschickt, weil er so erschrecklich einsam lebte, und er erzählte alles so natürlich, wie es wirklich gewesen, sodaß der jungen Frau über das alte Haus und den alten Mann die Thränen in die Augen traten.

``Es ist doch möglich, daß es derselbe Zinnsoldat ist!'' sagte sie; ``ich will ihn aufbewahren und alles dessen gedenken, was Du mir erzählt hast; aber des alten Mannes Grab mußt Du mir zeigen!''

``Ja, das kenne ich nicht,'' sagte er, ``und niemand kennt es! Alle seine Freunde waren tot, niemand bekümmerte sich weiter darum, und ich war ja ein kleiner Knabe!''

``Wie muß er doch erschrecklich einsam gewesen sein!'' sagte sie.

``Erschrecklich einsam!'' sagte der Zinnsoldat; ``aber schön ist es, nicht vergessen zu werden!''

``Herrlich!'' rief etwas dicht daneben, aber außer dem Zinnsoldaten sah niemand, daß es ein Fetzen der schweinsledernen Tapete war. Er war ohne alle Vergoldung und sah aus wie feuchte Erde, aber eine Ansicht hatte er und sprach dieselbe aus:

\AMquote{
        Vergoldung vergeht, \\
        Aber Schweinsleder besteht.
}

Doch das glaubte der Zinnsoldat nicht.

Fliedermütterchen

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Extended content
\AMsection{Fliedermütterchen}

Es war einmal ein kleiner Knabe, der hatte sich erkältet; er war ausgegangen und hatte nasse Füße erhalten, niemand konnte begreifen, woher er sie erhalten hatte, denn es war ganz trockenes Wetter. Nun entkleidete ihn seine Mutter, brachte ihn zu Bette und ließ die Theemaschine hereinbringen, um ihm eine gute Tasse Fliederthee zu bereiten, denn der Thee erwärmt. Zu gleicher Zeit kam auch der alte, freundliche Mann zur Thür herein, der ganz oben im Hause wohnte und allein lebte; denn er hatte weder Frau noch Kinder, liebte aber die Kinder und wußte so viel Märchen und Geschichten zu erzählen, daß es eine Lust war.

``Nun trinkst Du Deinen Thee,'' sagte die Mutter, ``vielleicht bekommst Du dann ein Märchen zu hören.''

``Ja, wenn ich nur ein neues wüßte!'' sagte der alte Mann und nickte freundlich. ``Wo hat der Kleine die nassen Füße bekommen?'' fragte er.

``Ja, wie das geschehen ist,'' sagte die Mutter, ``das kann niemand begreifen.''

``Erzählen sie ein Märchen?'' fragte der Knabe.

``Kannst Du mir genau sagen, denn das muß ich zuerst wissen, wie tief der Rinnstein in der kleinen Straße ist, wo Du in die Schule gehst?''

``Gerade bis mitten auf die Schäfte,'' sagte der Knabe, ``aber dann muß ich in das tiefe Loch gehen!''

``Sieh, davon hast Du die nassen Füße!'' sagte der Alte. ``Nun soll ich freilich ein Märchen erzählen, aber ich weiß keines mehr!''

``Sie können ein neues machen!'' sagte der kleine Knabe. ``Die Mutter sagt, daß Sie aus allem, was Sie betrachten, ein Märchen machen können, und von allem, was sie berühren, könne Sie eine Geschichte erzählen!''

``Ja, aber die Märchen und Geschichten taugen nichts! Die ordentlichen kommen von selbst, die klopfen mir gegen die Stirn und sagen: hier bin ich!''

``Klopft es nicht bald?'' fragte der kleine Knabe; die Mutter lachte, that Fliederthee in die Kanne und goß kochendes Wasser darüber.

``Erzählen Sie etwas!''

``Ja, wenn ein Märchen von selbst kommen möchte, aber sie sind vornehm, sie kommen nur, wenn sie Lust haben! --- Warte!'' sagte er auf einmal. ``Da haben wir eines! Gieb acht, nun ist eins in der Theekanne!''

Der kleine Knabe sah nach der Theekanne hin, der Deckel hob sich mehr und mehr, und die Fliederblumen kamen frisch und weiß daraus hervor, sie schossen große, lange Zweige, selbst aus der Leinwand verbreiteten sie sich nach allen Seiten und wurden größer und größer.

Es war der herrlichste Fliederbusch, ein ganzer Baum, er ragte in das Bett hinein und schob die Vorhänge zur Seite. Wie das blühte und duftete, und mitten im Baume saß eine alte, freundliche Frau mit einem sonderbaren Kleide, es war ganz grün, gleich den Blättern des Fliederbaumes, und mit großen, weißen Fliederblumen besetzt. Man konnte nicht so gleich erkennen, ob es Zeug oder lebendiges Grün und Blumen waren.

``Wie heißt die Frau?'' fragte der kleine Knabe.

``Ja, die Römer und Griechen,'' sagte der alte Mann, ``die nannten sie eine Dryade, aber das verstehen wir nicht. Draußen in der Vorstadt haben wir einen besseren Namen für dieselbe, da wird sie `Fliedermütterchen' genannt, und sie ist es, auf die Du acht geben mußt. Horch' nur auf, und betrachte den herrlichen Fliederbaum. Gerade so ein großer, blühender Baum steht da draußen; er wuchs in einem Winkel eines kleinen, ärmlichen Hofes. Unter diesem Baum saßen eines Mittags im schönsten Sonnenschein zwei alte Leute, es wär ein alter, alter Seemann und seine alte, alte Frau; sie waren Urgroßeltern und sollten bald ihre goldene Hochzeit halten, aber sie konnten sich des Hochzeitstages nicht recht entsinnen; die Fliedermutter saß im Baum und sah ebenso vergnügt aus; wie hier. `Ich weiß wohl, wann Eure goldene Hochzeit ist!' sagte sie, aber die beiden Alten hörten es nicht, sie sprachen von vergangenen Zeiten.''

``Ja, entsinnest Du Dich?'' sagte der alte Seemann, ``damals als wir noch klein waren und herumliefen und spielten, es war in demselben Hofe, wo wir nun sitzen, und wir pflanzten kleine Stecken in den Hof und machten einen Garten.''

``Ja,'' sagte die alte Frau, ``dessen erinnere ich mich recht gut, und wir begossen die Stecken, und einer derselben war ein Fliederzweig, der schlug Wurzeln, schoß grüne Zweige und ist ein großer, stattlicher Baum geworden, unter dem wir alten Leute nun sitzen.''

``Ja, richtig,'' sagte er; ``und dort in der Ecke stand ein Wasserkübel, dort schwamm mein Fahrzeug, ich hatte es selbst ausgeschnitten, wie das segeln konnte! Aber ich mußte freilich bald anders wohin segeln.''

``Ja, aber zuerst gingen wir in die Schule und lernten etwas,'' sagte sie, ``und dann wurden wir eingesegnet. Wir weinten beide; aber des Nachmittags gingen wir Hand in Hand auf den runden Turm und sahen in die Welt hinaus über Kopenhagen und das Wasser, dann gingen wir hinaus nach Friedrichsburg, wo der König und die Königin in ihrem prächtigen Bote auf den Kanälen herumfuhren.''

``Aber ich mußte bald anderswo herumfahren und viele Jahre lang reisen!''

``Ja, ich weinte oft Deinetwegen!'' sagte sie. ``Ich glaubte, Du seiest tot und lägest dort unten im Wasser. Manche Nacht stand ich auf und sah, ob der Wetterhahn sich drehte, ja, er drehte sich wohl, aber Du kamst nicht! Ich erinnere mich deutlich, wie es eines Tages in Strömen vom Himmel goß, der Kehrichtwagen hielt vor der Thür, wo ich diente, ich ging mit dem Kehrichtfasse hinunter und blieb vor der Thür stehen; --- was war das für ein abscheuliches Wetter! Und als ich dastand, war der Briefträger mir zur Seite und gab mir einen Brief, der war von Dir! Ja, wie der herumgereist war! Ich riß ihn auf und las; ich lachte und weinte, ich war so froh! Da stand, daß Du in den warmen Ländern seiest, wo die Kaffeebohnen wachsen. Was muß das für ein wunderbares, herrliches Land sein! Du erzähltest viel, und ich sah das alles, während der Regen herniedergoß, und ich mit dem Kehrichtfasse dastand. Da war einer, der mich um den Leib nahm --- --- .''

``Ja, aber Du gabst ihm einen tüchtigen Schlag auf das Ohr, daß es klatschte.''

``Ich wußte auch nicht, daß Du es warst. Du warst ebenso geschwind als Dein Brief gekommen, und Du warst so schön --- das bist Du noch. Du hattest ein langes, gelbes, seidenes Tuch in der Tasche und einen neuen Hut auf, Du warst so fein. Gott, was war das für ein abscheuliches Wetter, und wie sah die Straße aus!''

``Dann heirateten wir uns,'' sagte er, ``entsinnst Du Dich? Und dann, als wir den ersten kleinen Knaben und dann Marie und Jakob und Peter und Hans und Christian bekamen!''

``Ja, und wie die alle herangewachsen und ordentliche Menschen geworden sind, die ein jeder gern hat.''

``Und ihre Kinder haben wieder Kleine bekommen,'' sagte der alte Matrose, ``ja das sind Kindeskindeskinder, da ist Kern darin! --- War es nicht gerade um diese Zeit des Jahres, daß wir Hochzeit hielten?''

``Ja, eben heute ist der goldene Hochzeitstag!'' sagte die Fliedermutter und steckte den Kopf gerade zwischen die beiden Alten hinunter, und sie glaubten, es sei die Nachbarin, die da nickte. Sie sahen einander an und hielten sich an den Händen. Bald darauf kamen die Kinder und Kindeskinder, denn sie wußten wohl, daß es der goldene Hochzeitstag sei, sie hatten schon des Morgens gratulirt, aber die Alten hatten es vergessen, während sie sich gut an alles erinnerten, was vor vielen Jahren geschehen war. Der Fliederbaum duftete stark, und die Sonne, die im Untergehen begriffen war, schien den beiden Alten gerade in das Antlitz, sie sahen beide rotwangig aus, und das kleinste der Kindeskinder tanzte um sie herum und rief ganz glücklich, daß diesen Abend große Pracht herrschen werde, sie sollten warme Kartoffeln haben; und die Fliedermutter nickte im Baum und rief mit all' den andern: ``Hurra!''

``Aber das war ja kein Märchen!'' sagte der kleine Knabe, der es erzählen hörte.

``Ja, das mußt Du verstehen,'' sagte der Alte, der erzählte; ``aber laß uns Fliedermütterchen danach fragen!''

``Das war kein Märchen,'' sagte die Fliedermutter, ``aber nun kommt es! Aus der Wirklichkeit wächst eben das sonderbarste Märchen heraus, sonst könnte ja mein schöner Fliederbusch nicht aus der Theekanne hervorgesproßt sein!'' Und dann nahm sie den kleinen Knaben aus dem Bette, legte ihn an ihre Brust, und die Fliederzweige voller Blumen schlugen um sie zusammen, sie saßen wie in der dichtesten Laube, und diese flog mit ihnen durch die Luft, es war unaussprechlich schön!

Fliedermütterchen war auf einmal ein niedliches, junges Mädchen geworden, aber das Kleid war noch von demselben grünen weißgeblümten Zeuge, wie es Fliedermütterchen getragen hatte. Am Busen hatte sie eine wirkliche Fliederblume und im ihr gelbes, gelocktes Haar einen ganzen Kranz von Fliederblumen; ihre Augen waren blau, o, sie war herrlich anzuschauen! Sie und der Knabe küßten sich, und dann waren sie im gleichen Alter und fühlten gleiche Freuden.

Sie gingen nun Hand in Hand aus der Laube, und standen auf einmal im schönen Blumengarten der Heimat; bei dem frischen Grasplatz war des Vaters Stock an einen Pflock angebunden. Für die Kleinen war Leben im Stock; sobald sie sich quer über denselben setzten, verwandelte sich der blanke Knopf zu einem prächtig wiehernden Kopf, die lange, schwarze Mähne flatterte, vier schlanke, starke Beine schossen hervor; das Tier war stark und mutig. Im Galopp fuhren sie um den Grasplatz herum, hussa! --- ``Nun reiten wir viele Meilen weit fort,'' sagte der Knabe; ``wir reiten nach dem Gut, wo wir im vorigen Jahre waren!'' Und sie ritten und ritten um den Rasenplatz herum, und immer rief das kleine Mädchen, die, wie wir wissen, keine andere als die Fliedermutter war: ``Nun sind wir auf dem Lande, siehst Du das Bauernhaus mit dem großen Backofen, der wie ein riesengroßes Ei aus der Mauer nach dem Weg heraus erscheint? Der Fliederbaum breitet seine Zweige darüber hin, und der Hahn geht und kratzt für die Hühner. Sieh, wie er sich brüstet! --- Nun sind wir bei der Kirche, die liegt hoch auf dem Hügel unter den großen Eichbäumen, wovon der eine halb abgestorben ist! --- Nun kommen wir zu der Schmiede, wo das Feuer brennt und die Männer mit den Hämmern schlagen, daß die Funken weit umhersprühen. Fort, fort nach dem prächtigen Gut!'' Und alles, was das kleine Mädchen, die hinten auf dem Stock saß, sagte, das flog auch vorbei, der Knabe sah es, und doch kamen sie nur um den Grasplatz herum. Dann spielten sie im Seitengange und ritzten in der Erde einen kleinen Garten, und sie nahm Fliederblumen aus ihrem Haar, pflanzte sie, und sie wuchsen, so, wie bei den Alten damals, als sie noch klein waren, und wie früher erzählt worden ist. Sie gingen Hand in Hand, wie die alten Leute es als Kinder gemacht hatten, aber nicht auf den runden Turm hinauf, oder nach dem Friedrichsburger Garten, nein, das kleine Mädchen faßte den Knaben um den Leib, und dann flogen sie weit herum im ganzen Lande, und es war Frühjahr, und es wurde Sommer, und es war Erntezeit, und es wurde Winter, und tausende von Bildern spiegelten sich in des Knaben Augen und Herzen ab, und immer sang das kleine Mädchen ihm vor: ``Das wirst Du nie vergessen!''

Auf dem ganzen Fluge duftete der Fliederbaum süß und herrlich. Der Knabe bemerkte wohl die Rosen und die frischen Buchen, aber der Fliederbaum duftete noch stärker, denn seine Blumen hingen an des kleinen Mädchens Herzen, und daran lehnte er oft im Fluge sein Haupt.

``Hier ist es schön im Frühjahr!'' sagte das junge Mädchen, und sie standen in dem frisch ausgeschlagenen Buchenwalde, wo der grüne Klee zu ihren Füßen duftete, und in dem Grünen sahen die blaßroten Anemonen lieblich aus. ``O, wäre es immer Frühjahr in dem duftenden Buchenwalde!''

``Hier ist es herrlich im Sommer!'' sagte sie und sie fuhren an alten Schlössern aus der Ritterzeit vorbei, wo sich die roten Mauern und gezackten Giebel in den Kanälen spiegelten, wo die Schwäne schwammen und in die alten kühlen Alleen hinauf sahen. Auf dem Felde wogte das Korn, gleich einem See, in den Gräben standen rote und gelbe Blumen, und auf den Gehegen wilder Hopfen und blühende Winden. Am Abend stieg der Mond rund und groß empor, die Heuhaufen auf den Wiesen dufteten süß. ``Das vergißt sich nie!''

``Hier ist es herrlich im Herbst!'' sagte das kleine Mädchen, und die Luft war doppelt so hoch und blau, der Wald bekam die schönsten Farben von Rot, Gelb und Grün. Jagdhunde jagten davon, ganze Scharen Vogelwild flogen schreiend über die Hünengräber hin, auf denen Brombeerranken sich um die alten Steine schlangen. Das Meer war schwarzblau mit weißen Seglern bedeckt und in der Tenne saßen alte Frauen, Mädchen und Kinder, und pflückten Hopfen in ein großes Gefäß; die Jungen sangen Lieder, aber die Alten erzählten Märchen von Kobolden und bösen Zauberern. Besser konnte es nirgends sein.

``Hier ist es schön im Winter!'' sagte das kleine Mädchen, und alle Bäume waren mit Reif bedeckt, sodaß sie wie weiße Korallen aussahen, der Schnee knarrte unter den Füßen, als hätte man immer neue Stiefel an, und vom Himmel fiel eine Sternschnuppe nach der andern. Im Zimmer wurde der Weihnachtsbaum angezündet, da gab es Geschenke und gute Laune; auf dem Lande ertönte in der Bauernstube die Violine, um Äpfelschnitte wurde gespielt; selbst das ärmste Kind sagte: ``Es ist doch schön im Winter!''

Ja, es war schön; und das kleine Mädchen zeigte dem Knaben alles, und immer duftete der Fliederbaum und immer wehte die rote Flagge, unter welcher der alte Seemann gesegelt hatte.

Der Knabe wurde zum Jüngling und sollte in die weite Welt hinaus, weit fort nach den warmen Ländern, wo der Kaffee wächst; aber beim Abschied nahm das kleine Mädchen eine Fliederblume von ihrer Brust und gab sie ihm aufzubewahren. Sie wurde sorgfältig in das Gesangbuch gelegt, und im fremden Lande, wenn er das Buch öffnete, geschah es immer an der Stelle, wo die Erinnerungsblume lag, und je mehr er dieselbe betrachtete, desto frischer wurde sie, sodaß er gleichsam einen Duft von den heimatlichen Wäldern einatmete, und deutlich erblickte er das kleine Mädchen, wie sie mit ihren klaren, blauen Augen zwischen den Blumenblättern hervorsah, und dann flüsterte: ``Hier ist es schön im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter!'' und Hunderte von Bildern glitten durch seine Gedanken.

So verstrichen viele Jahre, und er war nun ein alter Mann und saß mit seiner alten Frau unter einem blühenden Fliederbaume. Sie hielten einander an den Händen, wie der Urgroßvater und die Urgroßmutter es draußen gethan hatten, und sie sprachen ebenso wie diese von den alten Zeiten und von der goldenen Hochzeit. Das kleine Mädchen mit den blauen Augen und mit den Fliederblumen im Haar saß oben im Baum, nickte beiden zu und sagte: ``Heute ist der goldene Hochzeitstag!'' Dann nahm sie zwei Blumen aus ihrem Kranze, küßte sie, und sie glänzten zuerst wie Silber, dann wie Gold, und als sie diese auf die Häupter der Alten legte, wurde jede Blume zu einer Goldkrone. Da saßen sie beide, einem König und einer Königin gleich, unter dem duftenden Baume, der ganz und gar wie ein Fliederbaum aussah, und er erzählte seiner alten Frau die Geschichte von dem Fliedermütterchen, so wie sie ihm erzählt worden war, als er noch ein kleiner Knabe gewesen, und sie meinten beide, daß die Geschichte vieles enthalte, was ihrer eigenen gleiche, und das was ähnlich war, gefiel ihnen am besten.

``Ja, so ist es!'' sagte das kleine Mädchen im Baum. ``Einige nennen mich Fliedermütterchen, andere nennen mich Dryade, aber eigentlich heiße ich Erinnerung; ich bin es, die im Baume sitzt, welcher wächst und wächst, ich kann zurückdenken, ich kann erzählen! Laß sehen, ob Du Deine Blume noch hast.''

Und der alte Mann öffnete sein Gesangbuch, da lag die Fliederblume, so frisch, als wäre sie erst kürzlich hineingelegt, und die Erinnerung nickte, und die beiden Alten mit den Goldkronen auf dem Haupte saßen in der roten Abendsonne. Sie schlossen die Augen und --- und --- ja, da war das Märchen aus!

Der kleine Knabe lag in seinem Bette, er wußte nicht, ob er geträumt oder ob er es erzählen gehört habe. Die Theekanne stand auf dem Tisch, aber es wuchs kein Fliederbaum daraus hervor, und der alte Mann, der erzählt hatte, war eben im Begriff, zur Thür hinauszugehen, und das that er auch.

``Wie schön war das!'' sagte der kleine Knabe. ``Mutter, ich bin in den warmen Ländern gewesen!''

``Ja, das glaube ich wohl,'' sagte die Mutter, ``wenn man zwei volle Tassen Fliederthee zu sich nimmt, dann kommt man wohl nach den warmen Ländern!'' --- Und sie deckte ihn zu, damit er sich nicht wieder erkälte. ``Du hast wohl geschlafen, während ich mich mit dem alten Manne darüber stritt, ob es eine Geschichte oder ein Märchen sei!''

``Und wo ist die Fliedermutter?'' fragte der Knabe.

``Sie ist in der Theekanne,'' sagte die Mutter, ``und dort kann sie bleiben!''

Alles am rechten Platz

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\AMsection{Alles am rechten Platz}

Es ist über hundert Jahre her.

Da lag hinter dem Walde an dem großen See ein alter Herrenhof, der war rings von tiefen Gräben umgeben, in denen Kolbenrohr, Schilf und Röhricht wuchsen.

Drüben vom Hohlwege herüber erklangen Jagdhornruf und Pferdegetrappel, und deshalb beeilte sich das kleine Gänsemädchen, die Gänse auf der Brücke zur Seite zu treiben, ehe die Jagdgesellschaft herangaloppiert kam.

Sie kamen so geschwind daher, daß sie hurtig auf einen der großen Steine an der Seite der Brücke springen mußte, um nicht unter die Hufe zu kommen. Ein halbes Kind war sie noch, fein und zierlich, doch mit einem wunderbaren Ausdruck im Antlitz und in den großen, hellen Augen; aber das sah der Gutsherr nicht. Während seines sausenden Galopps drehte er die Peitsche in seiner Hand, und in roher Lust stieß er sie mit dem Schafte vor die Brust, daß sie hintenüber fiel.

``Alles am rechten Platze!'' rief er, ``in den Mist mit Dir.'' Und dann lachte er; denn es sollte ein guter Witz sein, und die anderen lachten mit. Die ganze Gesellschaft schrie und lärmte und die Jagdhunde bellten, es war ganz wie im Liede: ``Reiche Vögel kommen geflogen.''

Gott weiß, wie reich er damals war.

Das arme Gänsemädchen griff um sich, als sie fiel und bekam einen der herabhängenden Weidenzweige zu fassen. An diesem hielt sie sich krampfhaft über dem Schlamm, und sobald die Herrschaft und die Hunde im Tore verschwunden waren, versuchte sie, sich heraufzuarbeiten. Aber der Zweig brach oben am Stamme ab und das Gänsemädchen fiel schwer zurück ins Rohr. Im selben Augenblick griff von oben her eine kräftige Hand nach ihr. Es war ein wandernder Hausierer, der ein Stückchen weiter davon zugesehen hatte und sich nun beeilte, ihr zu Hülfe zu kommen.

``Alles am rechten Platze!'' sagte er höhnend hinter dem Gutsherrn her und zog sie auf das Trockene. Den abgebrochenen Zweig drückte er gegen die Stelle, wo er sich abgespalten hatte, aber ``alles am rechten Platze'' läßt sich nicht immer tun. Deshalb steckte er den Zweig in die weiche Erde. ``Wachse, wenn Du kannst und schneide denen dort oben auf dem Hofe eine gute Flöte.'' Er hätte dem Gutsbesitzer und den seinen wohl einen tüchtigen Spießrutenmarsch gegönnt. Dann ging er in den Herrenhof, aber nicht oben in den Festsaal, dazu war er zu geringe. Er ging zu den Dienstleuten in die Gesindestube und sie beschauten seine Waren und handelten. Aber oben von der Festtafel tönte Gekreisch und Gebrüll, das sollte Gesang vorstellen, sie konnte es nicht besser. Es klang Gelächter und Hundegebell. Es war ein wahres Freß- und Saufgelage. Wein und altes Bier schäumten in Gläsern und Krügen und die Leibhunde fraßen mit. Ein oder das andere von den Tieren wurde von den Junkern geküßt, nachdem sie ihnen erst mit den langen Hängeohren die Schnauzen abgewischt hatten. Der Hausierer wurde mit seinen Waren heraufgerufen, aber nur, damit sie ihre Späße mit ihm treiben konnten. Der Wein war drinnen und der Verstand draußen. Sie gossen Bier für ihn in einen Strumpf, daß er mittrinken könne, aber geschwind! Das war nun ein außerordentlich feiner Einfall und sehr zum Lachen. Ganze Herden Vieh, Bauern und Bauernhöfe wurden auf eine Karte gesetzt und verloren.

``Alles am rechten Fleck!'' sagte der Hausierer, als er wohlbehalten aus dem Sodom und Gomorra, wie er es nannte, entronnen war. ``Die offene Landstraße, das ist der rechte Platz für mich, dort oben war mir nicht wohl zumute.'' Und das kleine Gänsemädchen nickte ihm von der Feldgrenze aus zu.

Und es vergingen Tage und es vergingen Wochen, und es zeigte sich, daß der abgebrochene Weidenzweig, den der Hausierer neben dem Wassergraben in die Erde gesteckt hatte, sich ständig grün hielt, ja er trieb sogar neue Zweige. Das kleine Gänsemädchen sah, daß er Wurzel gefaßt haben mußte und sie freute sich von ganzem Herzen darüber, denn es war ihr, als gehöre der Baum ihr.

Ja, mit dem Baume ging es vorwärts, aber mit allem anderen auf dem Hofe ging es durch Trunk und Spiel mit großen Schritten rückwärts. Das sind zwei Rollen, auf denen nicht gut stehen ist.

Nicht ganz sechs Jahre waren vergangen, da wanderte der Gutsherr mit Sack und Stock, als armer Mann, vom Hofe. Der wurde von einem reichen Hausierer gekauft und es war derselbe, der einst dort zum Spott und Gelächter gemacht worden war, als man ihm Bier in einem Strumpfe darbot. Aber Ehrlichkeit und Fleiß geben guten Fahrwind. Nun war der Hausierer der Herr auf dem Hofe. Und von Stund an kam kein Kartenspiel mehr dorthin. ``Das ist eine schlechte Lektüre,'' sagte er, ``sie entstand damals, als der Teufel das erste Mal die Bibel zu Augen bekam. Er wollte daraus ein Zerrbild schaffen, das ebenso große Anziehungskraft besäße, so erfand er denn das Kartenspiel.''

Der neue Herr nahm sich eine Frau, und wer war sie? Es war das kleine Gänsemädchen, das immer sittsam, fromm und gut gewesen war. In den neuen Kleidern sah sie so fein und schön aus, als sei sie als vornehme Jungfrau geboren. Wie ging das zu? Ja, das würde eine zu lange Geschichte für unsere eilfertige Zeit werden, aber es war nun einmal so, und das Wichtigste kommt nun.

Gesegnet und gut war es auf dem alten Hofe. Die Hausmutter stand selbst dem inneren Hause vor und der Hausherr dem äußeren; es war gerade, als quelle der Segen überall hervor, und wo Wohlstand ist, kommt Wohlstand ins Haus. Der alte Hof wurde geputzt und gestrichen, die Gräben gereinigt und Obstbäume gepflanzt. Freundlich und gepflegt sah es hier aus und die Fußböden in den Zimmern waren blank wie poliert. In dem großen Saale saß an den Winterabenden die Hausfrau mit allen ihren Mägden und spann Wolle und Leinen. An jedem Sonntagabend wurde laut aus der Bibel vorgelesen, und zwar von dem Kommerzialrat selbst, denn der Hausierer war Kommerzialrat geworden, aber erst in seinen alten Tagen. Die Kinder wuchsen heran --- denn Kinder waren auch gekommen --- und alle lernten etwas Rechtes; sie hatten nicht alle gleich gute Köpfe, aber das geht ja in einer jeden Familie so.

Der Weidenzweig draußen war ein großer, prächtiger Baum geworden, der frei und unbeschnitten dastand. ``Das ist unser Stammbaum'' sagten die alten Leute, ``und der Baum soll in Achtung und Ehren gehalten werden!'' sagten sie zu den Kindern, auch zu denen, die keinen guten Kopf mitbekommen hatten.

Und nun waren darüber hundert Jahre vergangen.

Es war in unserer heutigen Zeit. Der See war zu einem Moor geworden und der alte Herrenhof war gleichsam wie weggewischt. Eine längliche Wasserpfütze mit ein wenig Steinumrandung an den Seiten war der Rest der tiefen Gräben, und hier stand ein prächtiger alter Baum, der seine Zweige ausbreitete. Das war der Stammbaum. Er stand und zeigte, wie schön ein Weidenbaum sein kann, wenn er wachsen darf, wie er Lust hat. --- Er war freilich mitten im Stamme geborsten, von der Wurzel bis zur Krone hinauf und der Sturm hatte ihn ein wenig geneigt, aber er stand, und aus allen Rissen und Spalten, in die der Wind Erde hineingeweht hatte, wuchsen Gras und Blumen. Besonders ganz oben, wo die großen Zweige sich teilten, war gleichsam ein hängender kleiner Garten mit Himbeeren und Vogelgras, ja, auch ein winzig kleiner Vogelbeerbaum hatte dort Wurzel gefaßt und stand schlank und fein in der Mitte oben auf dem alten Weidenbaum, der sich in dem schwarzen Wasser spiegelte, wenn der Wind die Wasserlinien in eine Ecke der Wasserpfütze getrieben hatte. Ein schmaler Fußsteig über den Fronacker führte dicht hier vorbei.

Hoch auf dem Hügel am Walde, mit einer herrlichen Aussicht, lag das neue Schloß, groß und prächtig, mit Glasfenstern, so klar, daß man hätte glauben mögen, es seien gar keine darin. Die große Treppe vor der Tür sah wie eine Laube aus Rosen und großblättrigen Pflanzen aus. Die Grasflächen waren so sauber gehalten und so grün, als ob nach jedem Halm abends und morgens gesehen würde. Drinnen im Saale hingen kostbare Gemälde und mit Seide und Samt bezogene Stühle und Sofas, die fast auf ihren eigenen Beinen einhergehen konnten, Tische mit blanken Marmorplatten und Bücher in Saffian und Goldschnitt gebunden, standen da \ldots . Ja, es waren wohl freilich reiche Leute, die hier wohnten, es waren vornehme Leute; hier wohnten Barone.

Eins paßte zum anderen. ``Alles am rechten Fleck'' sagten auch sie, und deshalb waren alle Gemälde, die einmal dem alten Hofe zu Schmuck und Ehre gereicht hatten, nun im Gange, der nach der Dienerkammer führte, aufgehängt worden. Es war ja altes Gerümpel, besonders zwei alte Porträts, die einen Mann in rosenrotem Rocke mit einer Perücke und eine Dame mit gepudertem, hoch frisierten Haar und einer roten Rose in der Hand darstellten, aber beide mit dem gleichen großen Kranze von Weidenzweigen umgeben. Es waren viele runde Löcher in den beiden Bildern, das kam daher, daß die kleinen Barone immer ihre Flitzbogen auf beiden alten Leute abschossen. Das war der Kommerzialrat und die Kommerzialrätin, von denen das ganze Geschlecht abstammte.

``Sie gehören aber nicht richtig in unsere Familie'' sagte einer der kleinen Barone. ``Er war ein Hausierer gewesen und sie eine Gänsemagd. Sie waren nicht so wie Papa und Mama.''

Die Bilder waren altes, häßliches Gerümpel, und ``alles am rechten Fleck'' sagte man, und so kamen Urgroßvater und Urgroßmutter auf den Gang zur Dienerkammer.

Der Pfarrersohn war Hauslehrer auf dem Schloße. Eines Tages ging er mit den kleinen Baronen und ihrer älteren Schwester, die gerade kürzlich eingesegnet worden war, spazieren. Dabei kamen sie den Fußsteg entlang und zu dem alten Weidenbaume herunter. Und während sie gingen, band sie einen Feldblumenstrauß; ``alles am rechten Fleck,'' er wurde ein kleines Kunstwerk. Währenddessen hörte sie aber doch recht gut alles, was gesagt wurde, und sie freute sich, wie der Pfarrersohn von den Kräften der Natur und der Geschichte großer Männer und Frauen erzählte; sie war eine gesunde, prächtige Natur, voller Adel des Geistes und der Seele und mit einem Herzen, das alles von Gott Erschaffene freudig umfaßte.

Sie machten unten bei dem alten Weidenbaume halt. Der kleinste der Barone wollte gern eine Flöte geschnitten haben, wie er sie schon oft von Weidenbäumen bekommen hatte, und der Pfarrersohn brach einen Zweig ab.

``O, tun sie es nicht'' sagte die junge Baronesse; aber es war schon geschehen. ``Das ist ja unser alter, vielberühmter Baum. Ich habe ihn so gern. Deshalb werde ich oft zuhause ausgelacht, aber das tut nichts. Es umschwebt eine Sage den Baum.''

Und nun erzählte sie alles, was wir über den Baum gehört haben, über den alten Herrenhof, über das Gänsemädchen und den Hausierer, die sich hier begegneten und die Stammeltern des vornehmen Geschlechtes und auch der jungen Barone wurden.

``Sie wollten sich nicht adeln lassen, die alten, biederen Leute'' sagte sie. ``Sie hatten den Wahlspruch: Alles am rechten Platze und sie meinten, nicht dahin zu kommen, wenn sie sich durch Geld erhöhen ließen. Ihr Sohn, mein Großvater, war es, der Baron wurde; er soll ein großes Wiesen besessen haben und hoch angesehen bei Prinzen und Prinzessinnen gewesen sein. Er war bei allen ihren Festen dabei. Ihn verehren die anderen zuhause am meisten, aber ich weiß selbst nicht, für mich ist etwas an dem alten Paar, was mein Herz zu ihnen zieht. Es muß so gemütlich und patriarchalisch auf dem alten Hofe gewesen sein, wo die Hausmutter saß und mit allen ihren Mägden spann und der alte Herr laut aus der Bibel vorlas.''

``Es waren prächtige Leute, vernünftige Leute'' sagte der Pfarrersohn; und dann geriet das Gespräch in das Fahrwasser von Adel und Bürgertum und es war fast, als gehöre der Pfarrersohn nicht zur Bürgerschaft, so hob er die Vorzüge hervor, von Adel zu sein.

``Es ist ein Glück, zu einem Geschlechte zu gehören, das sich ausgezeichnet hat, und gleichsam schon in seinem Blute den Ansporn zu haben, nach allem Tüchtigen vorwärts zu streben. Herrlich ist es, eines Geschlechtes Namen zu tragen, der den Zugang zu den ersten Familien gewährleistet. Adel bedeutet edel, das ist wie eine Goldmünze, die ihren Wert aufgeprägt erhalten hat. Es liegt im Zuge der Zeit, und viele Dichter stimmen natürlich in diesen Ton ein, daß alles, was adlig ist, schlecht und dumm sein soll, aber bei den Armen glänzt alles, und je tiefer man niedersteigt, desto mehr. Aber das ist nicht meine Ansicht, denn sie ist irrig, völlig falsch. In den höheren Ständen findet sich mancher ergreifende und schöne Zug. Meine Mutter hat mir einen erzählt und ich selbst könnte mehrere hinzufügen. Sie war zu Besuch in einem vornehmen Hause in der Stadt, meine Großmutter, glaube ich, hatte die gnädige Frau gesäugt und aufgezogen. Meine Mutter stand im Zimmer mit dem alten, hochadligen Herrn. Da sah er, wie unten zum Hofe hinein eine alte Frau auf Krücken gehumpelt kam. Jeden Sonntag kam sie und bekam ein paar Schillinge. `Da ist ja die arme Alte,' sagte der Herr, `das Gehen fällt ihr so schwer!' Und ehe meine Mutter es sich versah, war er aus der Tür und die Treppen herunter, die siebzigjährige Exzellenz war selbst zu der armen Frau hinuntergegangen, um ihr den beschwerlichen Weg wegen des Schillings zu ersparen. Es ist ja nur ein geringer Zug, aber wie das Scherflein der Witwe hat er den Klang eines Herzens in sich, den Klang einer wahren Menschennatur. Darauf sollte der Dichter zeigen, gerade in unserer Zeit sollte er es besingen, denn es würde Gutes wirken, besänftigen und versöhnen. Wo jedoch ein Mensch, weil er von Geblüt ist und einen Stammbaum hat wie die arabischen Pferde, sich auf die Hinterbeine setzt und in den Straßen wiehert, und im Zimmer sagt: `Hier sind Leute von der Straße gewesen!' wenn ein Bürgerlicher drinnen gewesen ist, da ist der Adel in Verderbnis übergegangen und zu einer Maske geworden, wie Tespis sich eine machte, und man lacht über die Person und macht sie zum Gegenstand des Spottes.''

Das war die Rede des Pfarrersohns, sie war zwar etwas lang, aber unterdessen war die Pfeife geschnitten.

Es war eine große Gesellschaft auf dem Schlosse mit vielen Gästen aus der Umgegend und der Hauptstadt. Die Damen waren mit und ohne Geschmack gekleidet. Der große Saal war voller Menschen. Die Pfarrer aus der Umgegend standen ehrebietigst zu einem Knäuel zusammengedrängt in einer Ecke, es sah aus, als seien sie zu einem Begräbnis gekommen; und doch war ein Vergnügen angesagt, es war nur noch nicht in Gang gesetzt.

Ein großes Konzert sollte stattfinden, und daher hatte der kleine Baron seine Weidenflöte mit hereingebracht, aber er konnte ihr keinen Ton entlocken, auch Papa konnte es nicht; deshalb taugte sie eben nichts.

Nun kamen Musik und Gesang an die Reihe, und zwar von jener Art, die hauptsächlich den Ausübenden Freude macht; es war übrigens wirklich niedlich.

``Sie sind auch Virtuos?'' sagte ein Kavalier, der das Kind seiner Eltern war, zum Hauslehrer. ``Sie blasen Flöte und schneiden sie sogar selbst. Das Genie beherrscht alles, sitzt auf der rechten Seite --- Gott behüte. Ich gehe ganz mit der Zeit, das muß man. Nicht wahr, sie werden uns mit diesem kleinen Instrument entzücken!'' Und dann reichte er ihm die Flöte, die von dem Weidenbaume unten am Wassertümpel geschnitten war, und laut und vernehmlich verkündete er, daß der Hauslehrer ein kleines Flötensolo zum besten geben wolle.

Man wollte ihn zum Gespött machen, das war nicht schwer zu verstehen, und deshalb wollte der Hauslehrer auch nicht blasen, obwohl er es recht wohl gekonnt hätte; aber sie drängten ihn und nötigten ihn und so nahm er die Flöte und setzte sie an den Mund.

Es war eine wunderliche Flöte. Es erklang ein Ton, so anhaltend wie bei einer Dampflokomotive, nur noch viel schriller. Er klang über den ganzen Hof, den Garten und den Wald und meilenweit ins Land hinaus, und mit dem Ton erhob sich ein Sturmwind, der brauste: ``Alles am rechten Platze'' --- und da flog Papa wie vom Winde getragen aus dem Hause hinaus gerade in das Viehhüterhaus hinein, und der Viehhirt flog hinauf --- nicht in den Saal, denn dort hinein gehörte er ja nicht, nein, in die Dienerkammer hinauf, mitten unter die feine Dienerschaft, die in seidenen Strümpfen einherging. Den stolzen Herren schlug der Schreck wie Gicht in die Glieder, daß so eine geringe Person sich mit ihnen an einen Tisch zu setzen wagte.

Aber im großen Saale flog die junge Baronesse an das oberste Tischende, wo zu sitzen sie würdig war, und der Pfarrersohn bekam den Sessel an ihrer Seite, und da saßen sie nun beide, als seien sie ein Brautpaar. Ein alter Graf aus dem ältesten Geschlechte des Landes blieb unverrückt auf seinem Ehrenplatz; denn die Flöte war gerecht, und das soll man sein. Der witzige Kavalier, der die Schuld am Flötenspiel trug, er, der das Kind seiner Eltern war, flog kopfüber zwischen die Hühner, aber nicht allein.

Eine ganze Meile ins Land hinaus klang die Flöte, und man hörte von großen Begebenheiten. Eine reiche Großhändlersfamilie, die mit Vieren ausgefahren war, wurde aus dem Wagen hinaus geblasen und bekam nicht einmal den hinteren Platz; zwei reiche Bauern, die in letzter Zeit über ihre Kornfelder hinausgewachsen waren, wurden in einen sumpfigen Graben hinabgeblasen; es war eine gefährliche Flöte. Glücklicherweise sprang sie beim ersten Ton und das war gut, denn so kam sie wieder in die Tasche: ``Alles am rechten Platze!''

Am nächsten Tage sprach man nicht über die Begebenheit, daher stammt die Redensart ``die Pfeife wieder einstecken!'' Alles war auch wieder in seiner alten Ordnung, nur daß die beiden alten Bilder, der Hausierer und das Gänsemädchen, oben im großen Saale hingen. Sie waren dort an die Wand geblasen worden Und da ein wirklicher Kunstkenner sagte, daß sie von Meisterhand gemalt seien, blieben sie dort hängen und wurden instandgesetzt. Man hatte ja vorher nicht gewußt, daß sie etwas taugten, und woher hätte man das auch wissen sollen. Nun hingen sie auf dem Ehrenplatze. ``Alles am rechten Platze!'' und dahin kommt es auch meist! Die Ewigkeit ist lang, länger als diese Geschichte.

Der Tannenbaum

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\AMsection{Der Tannenbaum}

Draußen im Walde stand ein niedlicher, kleiner Tannenbaum; er hatte einen guten Platz, Sonne konnte er bekommen, Luft war genug da, und ringsumher wuchsen viel größere Kameraden, sowohl Tannen als Fichten. Aber dem kleinen Tannenbaum schien nichts so wichtig als das Wachsen; er achtete nicht der warmen Sonne und der frischen Luft, er kümmerte sich nicht um die Bauerkinder, die da gingen und plauderten, wenn sie herausgekommen waren, um Erdbeeren und Himbeeren zu sammeln. Oft kamen sie mit einem ganzen Topf voll oder hatten Erdbeeren auf einen Strohhalm gezogen, dann setzten sie sich neben den kleinen Tannenbaum und sagten: ``Wie niedlich klein ist der!'' Das mochte der Baum gar nicht hören.

Im folgenden Jahre war er ein langes Glied größer, und das Jahr darauf war er um noch eins länger, denn bei den Tannenbäumen kann man immer an den vielen Gliedern, die sie haben, sehen, wie viele Jahre sie gewachsen sind.

``O, wäre ich doch so ein großer Baum wie die andern!'' seufzte das kleine Bäumchen. ``Dann könnte ich meine Zweige so weit umher ausbreiten und mit der Krone in die weite Welt hinausblicken! Die Vögel würden dann Nester zwischen meinen Zweigen bauen, und wenn der Wind weht, könnte ich so vornehm nicken, gerade wie die andern dort!''

Er hatte gar keine Freude am Sonnenschein, an den Vögeln und den roten Wolken, die morgens und abends über ihn hinsegelten.

War es nun Winter und der Schnee lag ringsumher funkelnd weiß, so kam häufig ein Hase angesprungen und setzte gerade über den kleinen Baum weg. O, das war ärgerlich! Aber zwei Winter vergingen und im dritten war das Bäumchen so groß, daß der Hase im dasselbe herumlaufen mußte. ``O, wachsen, wachsen, groß und alt werden, das ist doch das einzige Schöne in dieser Welt!'' dachte der Baum.

Im Herbst kamen immer Holzhauer und fällten einige der größten Bäume; das geschah jedes Jahr, und dem jungen Tannenbaum, der nun ganz gut gewachsen war, schauderte dabei; denn die großen, prächtigen Bäume fielen mit Knacken und Krachen zur Erde, die Zweige wurden abgehauen, die Bäume sahen ganz nackt, lang und schmal aus; sie waren fast nicht zu erkennen. Aber dann wurden sie auf Wagen gelegt und Pferde zogen sie davon, aus dem Walde hinaus.

Wohin sollten sie? Was stand ihnen bevor?

Im Frühjahr, als die Schwalben und Störche kamen, fragte sie der Baum: ``Wißt Ihr nicht, wohin sie geführt wurden? Seid Ihr ihnen begegnet?''

Die Schwalben wußten nichts, aber der Storch sah nachdenkend aus, nickte mit dem Kopfe und sagte: ``Ja, ich glaube wohl; mir begegneten viele neue Schiffe, als ich aus Ägypten flog; auf den Schiffen waren prächtige Mastbäume; ich darf annehmen, daß sie es waren, sie hatten Tannengeruch; ich kann vielmals grüßen, sie prangen, sie prangen!''

``O, wäre ich doch auch groß genug, um über das Meer hinfahren zu können! Was ist das eigentlich, dieses Meer, und wie sieht es aus?''

``Ja, das ist weitläufig zu erklären!'' sagte der Storch und damit ging er.

``Freue Dich Deiner Jugend!'' sagten die Sonnenstrahlen; ``freue Dich Deines frischen Wachstums, des jungen Lebens, das in Dir ist!''

Und der Wind küßte den Baum, und der Tau weinte Thränen über denselben, aber das verstand der Tannenbaum nicht.

Wenn es gegen die Weihnachtszeit war, wurden ganz junge Bäume gefällt, Bäume, die oft nicht einmal so groß oder gleichen Alters mit diesem Tannenbaume waren, der weder Rast noch Ruhe hatte, sondern immer davon wollte; diese jungen Bäume, und es waren gerade die allerschönsten, behielten immer alle ihre Zweige; sie wurden auf Wagen gelegt und Pferde zogen sie von dannen zum Walde hinaus.

``Wohin sollen diese?'' fragte der Tannenbaum. ``Sie sind nicht größer als ich, Einer ist sogar viel kleiner; weswegen behalten sie alle ihre Zweige? Wohin fahren sie?''

``Das wissen wir! Das wissen wir!'' zwitscherten die Sperlinge. ``Unten in der Stadt haben wir in die Fenster gesehen! Wir wissen, wohin sie fahren! O, sie gelangen zur größten Pracht und Herrlichkeit, die man sich denken kann! Wir haben in die Fenster gesehen und erblickt, daß sie mitten in der warmen Stube aufgepflanzt und mit den schönsten Sachen, vergoldeten Äpfeln, Honigkuchen, Spielzeug und vielen hundert Lichtern geschmückt werden.''

``Und dann?'' fragte der Tannenbaum und bebte in allen Zweigen. ``Und dann? Was geschieht dann?''

``Ja, mehr haben wir nicht gesehen! Das war unvergleichlich schön!''

``Ob ich wohl bestimmt bin, diesen strahlenden Weg zu betreten?'' jubelte der Tannenbaum. ``Das ist noch besser, als über das Meer zu ziehen! Wie leide ich an Sehnsucht! Wäre es doch Weihnachten! Nun bin ich hoch und entfaltet wie die andern, die im vorigen Jahre davongeführt wurden! O, wäre ich erst auf dem Wagen, wäre ich doch in der warmen Stube mit all' der Pracht und Herrlichkeit! Und dann? Ja, dann kommt noch etwas Besseres, noch Schöneres, warum würden sie mich sonst so schmücken? Es muß noch etwas Größeres, Herrlicheres kommen! Aber was? O, ich leide, ich sehne mich, ich weiß selbst nicht, wie es mir ist!''

``Freue Dich unser!'' sagten die Luft und das Sonnenlicht; ``freue Dich Deiner frischen Jugend im Freien!''

Aber er freute sich durchaus nicht; er wuchs und wuchs, Winter und Sommer stand er grün; dunkelgrün stand er da, die Leute, die ihn sahen, sagten: ``Das ist ein schöner Baum!'' und zur Weihnachtszeit wurde er von allen zuerst gefällt. Die Axt hieb tief durch das Mark; der Baum fiel mit einem Seufzer zu Boden, er fühlte einen Schmerz, eine Ohnmacht, er konnte gar nicht an irgend ein Glück denken, er war betrübt, von der Heimat scheiden zu müssen, von dem Flecke, auf dem er emporgeschossen war; er wußte ja, daß er die lieben, alten Kameraden, die kleinen Büsche und Blumen ringsumher nie mehr sehen werde, ja vielleicht nicht einmal die Vögel. Die Abreise hatte durchaus nichts Behagliches.

Der Baum kam erst wieder zu sich selbst, als er im Hofe, mit andern Bäumen abgeladen, einen Mann sagen hörte: ``Dieser hier ist prächtig! Wir brauchen nur diesen!''

Nun kamen zwei Diener im vollen Staat und trugen den Tannenbaum in einen großen, schönen Saal. Ringsherum an den Wänden hingen Bilder, und bei dem großen Kachelofen standen große chinesische Vasen mit Löwen auf den Deckeln; da waren Wiegestühle, seidene Sophas, große Tische voll von Bilderbüchern und Spielzeug für hundertmal hundert Thaler; wenigstens sagten das die Kinder. Der Tannenbaum wurde in ein großes, mit Sand gefülltes Faß gestellt, aber niemand konnte sehen, daß es ein Faß war, denn es wurde rund herum mit grünem Zeug behängt und stand auf einem großen, bunten Teppich. O, wie der Baum bebte! Was wird da doch vorgehen? Sowohl die Diener, als die Fräulein schmückten ihn. An einen Zweig hängten sie kleine Netze aus farbigem Papier ausgeschnitten, jedes Netz war mit Zuckerwerk gefüllt; vergoldete Äpfel und Wallnüsse hingen herab, als wären sie fest gewachsen und über hundert rote, blaue und weiße kleine Lichter wurden in den Zweigen festgesteckt. Puppen, die leibhaft wie die Menschen aussahen --- der Baum hatte früher nie solche gesehen --- schwebten im Grünen, und hoch oben in der Spitze wurde ein Stern von Flittergold befestigt. Das war prächtig, ganz außerordentlich prächtig!

``Heute Abend,'' sagten alle, ``heute Abend wird es strahlen!''

``O,'' dachte der Baum, ``wäre es doch Abend! Würden nur die Lichter bald angezündet! Und was dann wohl geschieht? Ob da wohl Bäume aus dem Walde kommen, mich zu sehen? Ob die Sperlinge gegen die Fensterscheiben fliegen? Ob ich hier festwachse und Winter und Sommer geschmückt stehen werde?''

Ja, er wußte gut Bescheid; aber er hatte ordentlich Borkenschmerzen vor lauter Sehnsucht, und Borkenschmerzen sind für einen Baum eben so schlimm wie Kopfschmerzen für uns andere.

Nun wurden die Lichter angezündet. Welcher Glanz, welche Pracht! Der Baum bebte in allen Zweigen dabei, so daß eins der Lichter das Grüne anbrannte; es sengte ordentlich.

``Gott bewahre uns!'' schrieen die Fräulein und löschten es hastig aus.

Nun durfte der Baum nicht einmal beben. O, das war ein Grauen! Ihm war bange, etwas von seinem Staate zu verlieren; er war ganz betäubt von all' dem Glanze. Da gingen beide Flügelthüren auf, und eine Menge Kinder stürzten herein, als wollten sie den ganzen Baum umwerfen, die älteren Leute kamen bedächtig nach; die Kleinen standen ganz stumm, aber nur einen Augenblick, dann jubelten sie wieder, daß es laut schallte, sie tanzten um den Baum herum, und ein Geschenk nach dem andern wurde abgepflückt.

``Was machen sie?'' dachte der Baum. ``Was soll geschehen?'' Die Lichter brannten gerade bis auf die Zweige herunter, und je nachdem sie niederbrannten, wurden sie ausgelöscht, und dann erhielten die Kinder die Erlaubnis, den Baum zu plündern. O, sie stürzten auf denselben ein, daß es in allen Zweigen knackte; wäre er nicht mit der Spitze und mit dem Goldsterne an der Decke festgemacht gewesen, so wäre er umgestürzt.

Die Kinder tanzten mit ihrem prächtigen Spielzeug herum, niemand sah nach dem Baume, ausgenommen das alte Kindermädchen, welches kam und zwischen die Zweige blickte; aber es geschah nur, um zu sehen, ob nicht noch eine Feige oder ein Apfel vergessen sei.

``Eine Geschichte, eine Geschichte!'' riefen die Kinder und zogen einen kleinen, dicken Mann gegen den Baum hin, und er setzte sich gerade unter denselben, ``denn so sind wir im Grünen,'' sagte er, ``und der Baum kann besonders Nutzen davon haben, zuzuhören! Aber ich erzähle nur eine Geschichte. Wollt Ihr die von Ivede-Avede oder die von Klumpe-Dumpe hören, der die Treppen hinunterfiel und doch erhöht wurde und die Prinzessin erhielt?''

``Ivede-Avede!'' schrieen einige, ``Klumpe-Dumpe!'' schrieen andere. Das war ein Rufen und Schreien! Nur der Tannenbaum schwieg ganz still und dachte: ``Komme ich garnicht mit, werde ich nichts dabei zu thun haben?'' Er war ja mit gewesen, hatte ja geleistet, was er sollte.

Der Mann erzählte von Klumpe-Dumpe, welcher die Treppen hinunterfiel und doch erhöht wurde und die Prinzessin erhielt. Und die Kinder klatschten in die Hände und riefen: ``Erzähle, erzähle!'' Sie wollten auch die Geschichte von Ivede-Avede hören, aber sie bekamen nur die von Klumpe-Dumpe. Der Tannenbaum stand ganz stumm und gedankenvoll, nie hatten die Vögel im Walde dergleichen erzählt. ``Klumpe-Dumpe fiel die Treppen hinunter und bekam doch die Prinzessin! Ja, ja, so geht es in der Welt zu!'' dachte der Tannenbaum und glaubte, daß es wahr sei, weil es ein so netter Mann war, der es erzählte. ``Ja, ja! Vielleicht falle ich auch die Treppe hinunter und bekomme eine Prinzessin!'' Und er freute sich, den nächsten Tag wieder mit Lichtern und Spielzeug, Gold und Früchten aufgeputzt zu werden.

``Morgen werde ich nicht zittern!'' dachte er. ``Ich will mich recht aller meiner Herrlichkeit freuen. Morgen werde ich wieder die Geschichte von Klumpe-Dumpe und vielleicht auch die von Ivede-Avede hören.'' Und der Baum stand die ganze Nacht still und gedankenvoll.

Am Morgen kamen die Diener und das Mädchen herein.

``Nun beginnt der Staat aufs neue!'' dachte der Baum; aber sie schleppten ihn zum Zimmer hinaus, die Treppe hinauf, auf den Boden, und stellten ihn in einen dunkeln Winkel, wohin kein Tageslicht schien. ``Was soll das bedeuten?'' dachte der Baum. ``Was soll ich hier wohl machen? Was mag ich hier wohl hören sollen?'' Er lehnte sich gegen die Mauer und dachte und dachte. Und er hatte Zeit genug, denn es vergingen Tage und Nächte; niemand kam herauf, und als endlich jemand kam, so geschah es, um einige große Kasten in den Winkel zu stellen; der Baum stand ganz versteckt, man mußte glauben, daß er ganz vergessen war.

``Nun ist es Winter draußen!'' dachte der Baum. ``Die Erde ist hart und mit Schnee bedeckt, die Menschen können mich nicht pflanzen; deshalb soll ich wohl bis zum Frühjahr hier im Schutz stehen! Wie wohl bedacht ist das! Wie die Menschen doch so gut sind! Wäre es hier nur nicht so dunkel und schrecklich einsam! Nicht einmal ein kleiner Hase! Das war doch niedlich da draußen im Walde, wenn der Schnee lag und der Hase vorbei sprang, ja selbst als er über mich hinweg sprang; aber damals mochte ich es nicht leiden. Hier oben ist es doch schrecklich einsam!''

``Pip, pip!'' sagte da eine kleine Maus und huschte hervor; und dann kam noch eine kleine. Sie beschnüffelten den Tannenbaum und dann schlüpften sie zwischen dessen Zweige.

``Es ist eine gräuliche Kälte!'' sagten die kleinen Mäuse. ``Sonst ist hier gut sein; nicht wahr, Du alter Tannenbaum?''

``Ich bin gar nicht alt!'' sagte der Tannenbaum; ``es giebt viele, die weit älter sind denn ich!''

``Woher kommst Du,'' fragten die Mäuse, ``und was weißt Du?'' Sie waren gewaltig neugierig. ``Erzähle uns doch von den schönsten Orten auf Erden! Bist Du dort gewesen? Bist Du in der Speisekammer gewesen, wo Käse auf den Brettern liegen und Schinken unter der Decke hängen, wo man auf Talglicht tanzt, mager hineingeht und fett herauskommt?''

``Das kenne ich nicht,'' sagte der Baum; ``aber den Wald kenne ich, wo die Sonne scheint und die Vögel singen!'' Und dann erzählte er alles aus seiner Jugend, die kleinen Mäuse hatten früher nie dergleichen gehört, und sie horchten auf und sagten: ``Wie viel Du gesehen hast! Wie glücklich Du gewesen bist!''

``Ich?'' sagte der Tannenbaum und dachte über das, was er selbst erzählte, nach. ``Ja, es waren im Grunde ganz fröhliche Zeiten!'' Aber dann erzählte er vom Weihnachtsabend, wo er mit Kuchen und Lichtern geschmückt war.

``O,'' sagten die kleinen Mäuse, ``wie glücklich Du gewesen bist, Du alter Tannenbaum!''

``Ich bin gar nicht alt!'' sagte der Baum; ``erst in diesem Winter bin ich vom Walde gekommen! Ich bin in meinem allerbesten Alter, ich bin nur so aufgeschossen.''

``Wie schön Du erzählst!'' sagten die kleinen Mäuse, und in der nächsten Nacht kamen sie mit vier anderen kleinen Mäusen, die den Baum erzählen hören sollten, und je mehr er erzählte, desto deutlicher erinnerte er sich selbst an alles und dachte: ``Es waren doch ganz fröhliche Zeiten! Aber sie können wiederkommen, können wiederkommen! Klumpe-Dumpe fiel die Treppe hinunter und erhielt doch die Prinzessin; vielleicht kann ich auch eine Prinzessin bekommen.'' Und dann dachte der Tannenbaum an eine kleine niedliche Birke, die draußen im Walde wuchs; das war für den Tannenbaum eine wirkliche schöne Prinzessin.

``Wer ist Klumpe-Dumpe?'' fragten die kleinen Mäuse. Da erzählte der Tannenbaum das ganze Märchen, er konnte sich jedes einzelnen Wortes entsinnen; die kleinen Mäuse waren aus reiner Freude bereit, bis an die Spitze des Baumes zu springen. In der folgenden Nacht kamen weit mehr Mäuse und am Sonntage sogar zwei Ratten, aber die meinten, die Geschichte sei nicht hübsch, und das betrübte die kleinen Mäuse, denn nun hielten sie auch weniger davon.

``Wissen Sie nur die eine Geschichte?'' fragten die Ratten.

``Nur die eine,'' antwortete der Baum; ``die hörte ich an meinem glücklichsten Abend, aber damals dachte ich nicht daran, wie glücklich ich war.''

``Das ist eine höchst jämmerliche Geschichte! Kennen Sie keine von Speck und Talglicht? Keine Speisekammergeschichte?''

``Nein!'' sagte der Baum.

``Ja, dann danken wir dafür!'' erwiderten die Ratten und gingen zu den ihrigen zurück.

Die kleinen Mäuse blieben zuletzt auch weg, und da seufzte der Baum: ``Es war doch ganz hübsch, als sie um mich herum saßen, die beweglichen kleinen Mäuse, und zuhörten, wie ich erzählte! Nun ist auch das vorbei! Aber ich werde daran denken, mich zu freuen, wenn ich wieder hervorgenommen werde.''

Aber wann geschah das? Ja, es war eines Morgens, da kamen Leute und wirtschafteten auf dem Boden; die Kasten wurden weggesetzt, der Baum wurde hervorgezogen; sie warfen ihn freilich ziemlich hart gegen den Fußboden, aber ein Diener schleppte ihn gleich nach der Treppe hin, wo der Tag leuchtete.

``Nun beginnt das Leben wieder!'' dachte der Baum; er fühlte die frische Luft, die ersten Sonnenstrahlen, und nun war er draußen im Hofe. Alles ging geschwind, der Baum vergaß völlig, sich selbst zu betrachten, da war so vieles ringsumher zu sehen. Der Hof stieß an einen Garten, und alles blühte darin; die Rosen hingen frisch und duftend über das kleine Gitter hinaus, die Lindenbäume blühten, und die Schwalben flogen umher und sagten: ``Quirrevirrevit, mein Mann ist kommen!'' Aber es war nicht der Tannenbaum, den sie meinten.

``Nun werde ich leben!'' jubelte dieser und breitete seine Zweige weit aus; aber ach, die waren alle vertrocknet und gelb; und er lag da zwischen Unkraut und Nesseln. Der Stern von Goldpapier saß noch oben in der Spitze und glänzte im hellen Sonnenschein.

Im Hofe selbst spielten ein Paar der munteren Kinder, die zur Weihnachtszeit den Baum umtanzt hatten und so froh über denselben gewesen waren. Eins der kleinsten lief hin und riß den Goldstern ab.

``Sieh, was da noch an dem häßlichen, alten Tannenbaum sitzt!'' sagte es und trat auf die Zweige, so daß sie unter seinen Stiefeln knackten.

Der Baum sah auf all' die Blumenpracht und Frische im Garten, er betrachtete sich selbst und wünschte, daß er in seinem dunkeln Winkel auf dem Boden geblieben wäre; er gedachte seiner frischen Jugend im Walde, des lustigen Weihnachtsabends und der kleinen Mäuse, die so munter die Geschichte von Klumpe-Dumpe angehört hatten.

``Vorbei, vorbei!'' sagte der arme Baum. ``Hätte ich mich doch gefreut, als ich es noch konnte! Vorbei, vorbei!''

Der Diener kam und hieb den Baum in kleine Stücke, ein ganzes Bund lag da; hell flackerte es auf unter dem großen Braukessel. Der Baum seufzte tief und jeder Seufzer war einem kleinen Schusse gleich; deshalb liefen die Kinder, die da spielten, herbei und setzten sich vor das Feuer, blickten in dasselbe hinein und riefen: ``Piff, paff!'' Aber bei jedem Knalle, der ein tiefer Seufzer war, dachte der Baum an einen Sommerabend im Walde oder an eine Winternacht da draußen, wenn die Sterne funkelten; er dachte an den Weihnachtsabend und an Klumpe-Dumpe, das einzige Märchen, welches er gehört hatte und zu erzählen wußte --- und dann war der Baum verbrannt.

Die Knaben spielten im Garten, und der kleinste hatte den Goldstern auf der Brust, den der Baum an seinem glücklichsten Abend getragen; nun war der vorbei, und mit dem Baum war es auch vorbei und mit der Geschichte auch; vorbei, vorbei, und so geht es mit allen Geschichten!

Die Geschichte des Jahres

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\AMsection{Die Geschichte des Jahres}

Es war in den letzten Tagen des Januar; ein fürchterlicher Schneesturm trieb daher. Der Schnee fegte wirbelnd durch die Straßen und Gassen. Die Fensterscheiben waren außen wie vom Schnee gepolstert, von den Dächern stürzte er in ganzen Haufen und die Leute hasteten vorwärts; sie liefen, sie flogen und stürzten einander in die Arme, hielten sich aneinander einen Augenblick fest und hatten wenigstens solange einen Halt. Wagen und Pferde waren gleichsam überpudert, die Diener standen mit dem Rücken gegen den Wagen gelehnt, um sich vor dem Winde zu schützen, und die Fußgänger suchten beständig Deckung hinter den Wagen, die nur langsam in dem tiefen Schnee von der Stelle kamen. Als sich endlich der Sturm legte, und ein schmaler Fußsteig längs den Häusern ausgeworfen wurde, standen die Leute doch noch stille, wenn sie sich begegneten. Keiner von ihren hatte Lust, den ersten Schritt in den tiefen Schnee an den Seiten zu tun, damit der andere vorüber könne. Schweigend standen sie still, bis endlich, fast wie in einer stummen Übereinkunft, jeder von ihnen ein Bein preisgab und es in dem Schneehaufen versinken ließ.

Gegen Abend wurde es windstill. Der Himmel sah aus wie gefegt und höher und durchsichtiger als zuvor; die Sterne waren funkelfnagelneu und glänzten blau und klar. Dabei fror es, daß der Schnee krachte. Bei dem Wetter konnte wohl die oberste Schneeschicht so fest werden, daß sie am Morgen die Spatzen trug; die hüpften bald oben herum bald unten, wo geschaufelt war; viel Nahrung war jedoch nicht zu finden und sie froren bitterlich.

``Piep'' sagte der eine zum anderen, ``das nennt man nun das neue Jahr. Es ist ja schlimmer als das alte. Dann hätten wir es ebensogut behalten können. Ich bin schlechter Laune, und dazu habe ich guten Grund.''

``Ja, da liefen nun die Menschen umher und schossen das neue Jahr ein,'' sagte ein kleiner verfrorener Spatz. ``Sie warfen Töpfe gegen die Türen und waren rein außer sich vor Freude, daß nun das alte Jahr vergangen war. Und ich war auch froh darüber, denn ich erwartete, daß wir nun warme Tage bekommen würden, aber daraus ist nichts geworden! Es friert noch viel stärker als zuvor; die Menschen haben sich in der Zeitrechnung geirrt!''

``Das haben sie'' sagte ein Dritter, der schon alt und weißköpfig war. ``Sie haben da etwas, das sie den Kalender nennen. Das ist ihre eigene Erfindung, und deshalb soll sich alles danach richten, aber das tut es nicht. Wenn der Frühling kommt, beginnt das Jahr. Das ist der Lauf der Natur und danach rechne ich.''

``Aber wann kommt der Frühling?'' fragten die anderen.

``Der kommt, wenn der Storch kommt; aber damit ist es ziemlich unbestimmt. Hier in der Stadt ist keiner, der etwas davon versteht. Auf dem Lande draußen wissen sie es besser. Wollen wir hinaus fliegen und warten? Dort ist man doch dem Frühling näher.''

``Ja, das ist ein guter Gedanke!'' sagte einer von denen, die lange auf und ab gehüpft waren und gepiept hatten, ohne eigentlich etwas zu sagen. ``Ich habe hier in der Stadt allerdings einige Bequemlichkeiten, die ich fürchte, draußen entbehren zu müssen. Hier in der Nähe in einem Hofe wohnt eine Menschenfamilie, die den vernünftigen Gedanken gehabt, hat, an der Wand drei bis vier Blumentöpfe mit der großen Öffnung nach innen und dem Boden nach außen anzunageln. Dort ist ein Loch hineingeschnitten, das gerade so groß ist, daß ich aus und ein fliegen kann. Dort habe ich mit meinem Manne genistet, und von dort sind alle unsere Jungen ausgeflogen. Die Menschenfamilie hat das Ganze natürlich nur eingerichtet, um das Vergnügen zu haben, uns zu beobachten, sonst hätten sie es wohl kaum getan. Sie streuen Brotkrumen hin, natürlich auch zu ihrem Vergnügen, und wir haben dadurch Nahrung. Es ist sozusagen für uns gesorgt, --- und deshalb glaube ich, daß ich bleibe und daß auch mein Mann bleibt, obgleich wir sehr unzufrieden sind, --- aber wir bleiben!''

``Und wir fliegen hinaus aufs Land, um zu sehen, ob nicht das Frühjahr kommt.'' Und dann flogen sie.

Aber es war eisiger Winter draußen auf dem Lande; es fror noch ein paar Grade mehr als in der Stadt drinnen. Der scharfe Wind blies über die schneebedeckten Felder. Der Bauer, mit großen Fausthandschuhen an den Händen, saß auf dem Schlitten und schlug die Arme übereinander, um die Kälte auszuhalten. Die Peitsche lag in seinem Schoße, die mageren Pferde liefen, daß sie dampften, der Schnee knirschte und die Spatzen hüpften in den Kufenspuren und froren. ``Piep! wann kommt der Frühling? Es dauert so lange!''

``Solange!'' erklang es über die Felder von dem schneebedeckten Hügel her. Es konnte das Echo sein, was man hörte, aber es konnte auch die Rede des wunderlichen alten Mannes sein, der oben auf der Schneewehe in Wind und Wetter saß. Er war ganz weiß, gerade wie ein Bauer im weißen Flauschmantel, mit langem weißen Haar, weißem Barte, ganz bleich und mit großen, klaren Augen.

``Wer ist der Alte dort?'' fragten die Spatzen.

``Das weiß ich!'' sagte ein alter Rabe, der auf einem Zaunpfahle saß und herablassend genug war, anzuerkennen, daß wir alle vor Gott nur kleine Vögel sind, und sich deshalb auch mit den Spatzen einließ und eine Erklärung abgab. ``Ich weiß, wer der Alte ist. Das ist der Winter, der alte Mann vom vorigen Jahr; er ist nicht tot, wie der Kalender sagt, nein, er ist sozusagen der Vormund des kleinen Prinzen Frühling, der nun kommt. Ja, der Winter führt das Regiment. Hu! Ihr klappert ja ordentlich, Ihr Kleinen!''

``Na, was habe ich immer gesagt?'' sagte der kleinste. ``Der Kalender ist eine Menschenerfindung! die sich nicht in die Natur einfügen will. Das sollten sie lieber uns überlassen, uns, die wir mit viel feineren Sinnen begabt sind.''

Und es verging eine Woche, es vergingen fast zwei; der Wald war schwarz, der gefrorene See lag schwer und sah aus wie erstarrtes Blei. Die Wolken, ja, das waren keine Wolken, das war nasser, eiskalter Nebel, der über der Erde hing. Die großen, schwarzen Krähen flogen in Scharen ohne jeden Schrei; es war, als schliefe alles. --- Da glitt ein Sonnenstrahl über den See, und er glänzte wie geschmolzenes Zinn. Die Schneedecke über den Feldern und oben auf der Anhöhe schimmerte nicht mehr wie zuvor, aber die weiße Gestalt, der Winter selbst, saß dort noch immer, den Blick stets gen Süden gerichtet. Er bemerkte es gar nicht, daß der Schneeteppich gleichsam in die Erde versank und daß hie und da ein kleiner grasgrüner Fleck zum Vorschein kam; da wimmelte es dann von Spatzen.

``Quivit, Quivit, kommt nun der Frühling?''

``Der Frühling'' klang es über Feld und Wiese und durch die schwarzbraunen Wälder, in denen das Moos frischgrün auf den Baumstämmen leuchtete. Und durch die Luft kamen von Süden her die ersten zwei Störche gezogen. Auf dem Rücken jedes von ihnen saß ein kleines schönes Kind, ein Knabe und ein Mädchen. Sie küßten die Erde zum Willkomm, und wohin sie ihren Fuß setzten, wuchsen weiße Blumen unter dem Schnee hervor. Hand in Hand gingen sie hinauf zu dem alten Eismanne, dem Winter, und legten sich zu neuem Gruße an seine Brust, und in demselben Augenblick waren sie alle drei verschwunden, und die ganze Landschaft war verschwunden. Ein dicker, nasser Nebel, dicht und schwer, umhüllte alles. --- Ein wenig später blies ein Lüftlein, dann fuhr der Wind daher mit starken Stößen und jagte den Nebel fort, und die Sonne schien warm. Der Winter selbst war verschwunden und des Frühlings schöne Kinder saßen auf dem Throne des Jahres.

``Das nenne ich Neujahr'' sagten die Spatzen ``Nun werden wir wohl wieder in unsere Rechte eingesetzt und bekommen Ersatz für den strengen Winter.''

Wohin die beiden Kinder sich wandten, sproßten grüne Knospen an Büschen und Bäumen hervor, wurde das Gras höher und die Saatfelder grüner und schöner. Und ringsum streute das kleine Mädchen Blumen. Sie hatte einen ganzen Überfluß davon in ihrem Schürzchen, sie schienen daraus hervorzuquellen, stets war es gefüllt, wie eifrig sie auch streute. In ihrer Eilfertigkeit schüttelte sie einen wahren Blütenschnee über die Äpfel- und Pfirsichbäume, so daß sie in voller Pracht dastanden, noch bevor sie grüne Blätter hatten.

Und sie klatschte in die Hände und der Knabe klatschte ebenfalls. Da kamen alle Vögel hervor, man wußte nicht woher, und alle zwitscherten und sangen: ``Der Frühling ist gekommen!''

Es war herrlich anzuschauen. Und manches alte Mütterchen kam aus seiner Tür in den Sonnenschein hinaus, sah sich ringsum und erblickte die vielen gelben Blumen, die die ganze Wiese bedeckten gerade wie in ihren jungen Jahren. Die Welt wurde wieder einmal jung. ``Es ist ein gesegneter Tag heute'' sagte sie.

Der Wald war noch braungrün und Knospe stand an Knospe, aber der Waldmeister war schon da, frisch und duftend. Die Veilchen standen in Mengen, und es gab Anemonen und gelbe Kuhblumen, ja, in jedem Grashalm war Saft und Kraft; es war wirklich ein Prachtteppich, der förmlich zum Sitzen aufforderte, und dort saß das junge Frühlingspaar, hielt sich an des Händen und sang und lächelte und wuchs und wuchs.

Ein milder Regen fiel vom Himmel auf sie herab; sie merkten es nicht. Regentropfen und Freudentränen vereinigten sich zu einem einzigen Tropfen. Braut und Bräutigam küßten einander, und im Nu schlug der ganze Wald aus. --- Als die Sonne aufging, waren alle Wälder grün.

Und Hand in Hand ging das Brautpaar unter dem frischen, hängenden Laubdach, wo nur des Sonnenlichts Strahlen und die Schlagschatten einen Farbenwechsel in all dem Grün hervorzauberten. Eine jungfräuliche Reinheit und ein erfrischender Duft lag über den feinen Blättern. Klar und lebhaft rieselten Bächlein und Quellen zwischen dem samtgrünen Schilfe und über die glitzernden Steine dahin. ``Und so ist es und bleibt es ewiglich'' sagte die ganze Natur. Und der Kuckuck rief und die Lerche trillerte, und der schöne Frühling war da. Nur die Weiden trugen noch Wollhandschuhe über ihren Blüten, sie waren eben so übervorsichtig, und das ist langweilig!

Und so vergingen Tage und Wochen, die Wärme strömte zur Erde nieder; heiße Luftwellen gingen durch das Korn, das sich mehr und mehr gelb färbte. Des Nordens weiße Lotosblume breitete auf den Waldseen ihre großen, grünen Blätter über dem Wasserspiegel aus, und die Fische suchten den Schatten darunter. Auf der windgeschützten Seite des Waldes, wo die Sonne auf die Wände des Bauernhauses hinab brannte und die aufgeblühten Rosen tüchtig durchwärmte und wo die Kirschenbäume voller saftiger, schwarzer, fast sonnenheißer Kirschen hingen, saß des Sommers herrliches Weib, sie, die wir schon als Kind und Braut sahen. Sie sah in die aufsteigenden dunklen Wolken, die wogenförmig, den Bergen gleich, sich schwarzblau und schwer höher und höher erhoben. Von drei Seiten kamen sie; mehr und mehr senkten sie sich wie ein versteinertes Meer gegen den Wald hinab, wo alles wie verzaubert stille schwieg. Jedes Lüftchen hatte sich gelegt, jeder Vogel schwieg, Ernst und Erwartung lagen über der ganzen Natur. Aber auf den Wegen und Steigen eilten Fahrende, Reitende und Gehende vorwärts, um unter Dach zu kommen. --- Da leuchtete es mit einem Male auf, als breche die Sonne hervor, blinkend, blendend, verbrennend, und unter rollendem Krachen versank wieder alles im Dunkel. Das Wasser stürzte in Strömen vom Himmel; es wurde Nacht und wieder Licht, es ward totenstille, und dann donnerte es wieder. Die jungen braungefiederten Rohrstengel im Sumpfe bewegten sich wogend auf und nieder, die Zweige des Waldes verbargen sich unter einer Regenhülle; Dunkel und Licht, Stille und Donner wechselten unaufhörlich. Gras und Korn lagen wie niedergeschlagen, wie zur Erde gespült, als könnten sie sich nie wieder erheben. --- Plötzlich wurden aus dem Regen einzelne Tropfen, die Sonne schien und von Gräsern und Blättern blinkten die Wassertropfen wie Perlen, die Vögel sangen wieder, die Fische sprangen im Wasser des Baches, die Mücken tanzten, und draußen auf den Steinen im salzigen, gepeitschten Meereswasser saß der Sommer selbst, der kräftige Mann mit den fülligen Gliedern, dem triefenden Haar --- verjüngt vom frischen Bade saß er im warmen Sonnenschein. Die ganze Natur ringsum war verjüngt. Alles stand reich und kräftig und schön; es war Sommer, warmer, herrlicher Sommer.

Lieblich und süß war der Duft, der von dem üppigen Kleefelde herüberwehte, die Bienen summten um das uralte Thing, die Bromheerranken wanden sich um den Opferaltar, der vom Regen gewaschen im Sonnenlichte glänzte. Dorthin flog die Bienenkönigin mit ihrem Schwarm und setzte dort Wachs und Honig an. Niemand sah es außer dem Sommer und seinem kräftigen Weibe; für sie allein stand der Altartisch gedeckt mit den Opfergaben der Natur.

Der Abendhimmel erstrahlte wie Gold, keine Kirchenkuppel war so reich, und der Mond leuchtete zwischen Abend- und Morgenrot. Es war Sommerszeit. Und es vergingen Wochen und Tage. --- Der Schnitter blanke Sensen blinkten in den Kornfeldern. Die Zweige der Apfelbäume beugten sich unter der Last ihrer gelben und roten Früchte; der Hopfen duftete köstlich und hing in großen Knospen, und unter dem Haselbusch, an dem die Nüsse in schweren Büscheln hingen, ruhten Mann und Frau, der Sommer und sein tiefernstes Weib.

``Welcher Reichtum'' sagte sie. ``Rundum ruht Segen, heimlich und gut, über allem, und doch, ich weiß selbst nicht, ich sehne mich nach Ruhe --- Stille. Ich finde nicht das rechte Wort dafür. Nun pflügen sie schon wieder auf den Feldern! Mehr und immer mehr wollen die Menschen gewinnen! --- Sieh, die Störche kommen schon in Scharen und gehen hinter dem Pfluge her, Ägyptens Vögel, die uns durch die Lüfte trugen. Erinnerst Du Dich, wie wir beide als Kinder hierher nach den Ländern des Nordens kamen? --- Blumen brachten wir her, herrlichen Sonnenschein und grüne Wälder, nun hat sie der Wind schon tüchtig zerzaust, sie werden braun und dunkel wie des Südens Bäume, aber sie tragen nicht, wie diese, goldene Früchte.''

``Danach sehnst Du Dich?'' fragte der Sommer. ``Nun so freue Dich.'' Er hob den Arm und die Blätter färbten sich mit Rot und mit Gold und die Wälder erstrahlten in herrlichster Farbenpracht; an den Rosenhecken leuchteten feuerrote Hagebutten, die Fliederbüsche hingen schwer zur Erde unter der Last ihrer großen schwarzbraunen Beeren, die wilden Kastanien fielen reif aus ihren dunkelgrünen Schalen und im Walde drinnen blühten die Veilchen zum zweiten Male.

Aber des Jahres Königin wurde immer stiller und bleicher. ``Es weht kalt'' sagte sie, ``die Nacht hat nasse Nebel. --- Ich sehne mich nach dem Lande der Kindheit.''

Sie sah die Störche fortfliegen, jeden einzigen! Und sie streckte die Hände nach ihnen aus. Sie sah zu den Nestern empor, die leer standen; in einem wuchs eine langstielige Kornblume und in einem anderen der gelbe Löwenzahn, als sei das Nest nur zu ihrem Schutz und Schirm da. Und die Spatzen setzten sich hinein.

``Piep. Wo sind denn die Herrschaften geblieben! Sie können wohl nicht vertragen, daß ihnen ein bißchen Luft um die Nase weht, da sind sie gleich ins Ausland gegangen. Glück auf die Reise.''

Und gelber und gelber färbten sich die Wälder, Blatt nach Blatt fiel, die Herbststürme sausten; die Erntezeit ging zu Ende. Auf dem gelben Laubteppich lag die Königin des Jahres und sah mit sanften Augen zu den blinkenden Sternen empor, ihr Gemahl stand bei ihr. Ein Windstoß wirbelte das Laub auf --- es fiel wieder zur Erde, aber sie war verschwunden; nur ein Schmetterling, des Jahres letzter, flog durch die kalte Luft.

Und die nassen Nebel kamen, die eisigen Winde und die dunklen, langen Nächte. Des Jahres Beherrscher stand mit schneeweißem Haar. Er selbst wußte nichts davon, er glaubte, es seien Schneeflocken, die aus den Wolken niederfielen; eine dünne Schneedecke legte sich über die grünen Felder.

Die Kirchenglocken läuteten die Weihnachtszeit ein.

``Die Glocken der Geburt klingen!'' sagte des Jahres Beherrscher. ``Bald wird das neue Herrscherpaar geboren, und ich gehe zur Ruhe wie sie. Zur Ruhe bei den blinkenden Sternen.''

Und in dem frischen, grünen Tannenwald, über dem der Schnee lag, stand der Weihnachtsengel und weihte die jungen Bäume, die zum Fest kommen sollten.

``Freude in den Stuben und unter den grünen Zweigen'' sagte des Jahres greiser Beherrscher; diese Wochen hatten ihn schneeweiß und uralt gemacht. ``Jetzt naht die Stunde der Ruhe; des Jahres, junges Paar empfängt nun Zepter und Krone.''

``Die Macht ist noch Dein'', sagte der Weihnachtsengel, ``die Macht und nicht die Ruhe! Laß den Schnee wärmend über den jungen Saaten liegen. Lerne ertragen, daß einem anderen gehuldigt wird, während Du noch Herrscher bist, lerne, vergessen zu sein und doch zu leben. Die Stunde Deiner Freiheit naht, wenn der Frühling kommt.''

``Wann kommt der Frühling?'' fragte der Winter. ``Er kommt, wenn der Storch kommt.''

Und mit weißen Locken und schneeweißem Barte saß der Winter eiskalt, alt und gebeugt, aber stark wie der Wintersturm und des Eises Macht hoch oben auf der Schneewehe des Hügels und blickte gen Süden, wie der vorige Winter gesessen und geschaut hatte. --- Das Eis krachte, der Schnee knirschte, die Schlittschuhläufer schwangen sich auf den blanken Seen, und Raben und Krähen gefielen sich auf dem weißen Grunde, kein Wind rührte sich. Und in der stillen Luft faltete der Winter die Hände und das Eis legte sich stark als Brücke zwischen die Länder.

Da kamen wieder die Spatzen aus der Stadt und fragten: ``Wer ist der alte Mann dort oben?'' Und der Rabe saß wieder dort, oder war es ein Sohn von ihm? aber das ist ja gleich --- und er sagte zu ihnen: ``Das ist der Winter. Der alte Mann vom vorigen Jahr. Er ist nicht tot, wie der Kalender sagt, sondern der Vormund des kommenden Frühlings.''

``Wann kommt der Frühling?'' fragten die Spatzen, ``dann bekommen wir bessere Zeiten und ein mildes Regiment. Das alte taugte nichts!''

Und in stillen Gedanken nickte der Winter zum blätterlosen, schwarzen Walde hinüber, wo jeder Baum seiner Zweige herrliche Form und Biegung zeigte, und über ihren Winterschlaf legten sich der Wolken eiskalte Nebel. Der Herrscher träumte von seinen Jugend- und Mannesjahren und als es tagte, stand der ganze Wald mit glitzerndem Rauhreif überschüttet; das war der Sommertraum des Winters. Der Sonnenschein aber nahm den Rauhreif wieder von den Zweigen.

``Wann kommt der Frühling?'' fragten die Spatzen. ``Der Frühling?'' erklang es wie Echo von den Hügeln, auf denen der Schnee noch lag. Und die Sonne schien wärmer und wärmer, der Schnee schmolz und die Vögel zwitscherten: ``Der Frühling kommt.''

Und hoch durch die Lüfte kam der erste Storch, der zweite folgte; ein schönes Kind saß auf dem Rücken jedes von ihnen und sie schwebten auf das offene Feld nieder und küßten die Erde und küßten den alten stillen Mann, der, wie Moses auf dem Berge, von einer Nebelwolke getragen, verschwand.

Die Geschichte des Jahres war zu Ende.

``Das ist sehr richtig!'' sagten die Spatzen, ``und es ist auch sehr schön, aber es stimmt nach dem Kalender nicht und deshalb ist es doch verkehrt!''

Die Nachtigall

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In China, weißt Du ja wohl, ist der Kaiser ein Chinese, und alle, die er um sich hat, sind Chinesen. Es sind nun viele Jahre her, aber gerade deshalb ist es wert, die Geschichte zu hören, ehe sie vergessen wird. Des Kaisers Schloß war das prächtigste der Welt, ganz und gar von feinem Porzellan, so kostbar, aber so spröde, so mißlich daran zu rühren, daß man sich ordentlich in acht nehmen mußte. Im Garten sah man die wunderbarsten Blumen, und an die allerprächtigsten waren Silberglocken gebunden, welche erklangen, damit man nicht vorbeigehen möchte, ohne die Blumen zu bemerken. Ja, alles war in des Kaisers Garten fein ausgedacht, und er erstreckte sich so weit, daß der Gärtner selbst das Ende nicht kannte; ging man immer weiter, so kam man in den herrlichsten Wald mit hohen Bäumen und tiefen Seen. Der Wald ging gerade hinunter bis zum Meere, welches blau und tief war; große Schiffe konnten unter den Zweigen hinsegeln, und in diesen wohnte eine Nachtigall, welche so herrlich sang, daß selbst der arme Fischer, der so viel anderes zu thun hatte, still hielt und horchte, wenn er nachts ausgefahren war, um das Fischnetz aufzuziehen, und dann die Nachtigall hörte. ``Ach Gott, wie ist das schön!'' sagte er, aber dann mußte er auf sein Netz acht geben und vergaß den Vogel; doch wenn dieser in der nächsten Nacht wieder sang und der Fischer kam dorthin, sagte er wieder: ``Ach Gott, wie ist das doch schön!''

Von allen Ländern kamen Reisende nach der Stadt des Kaisers und bewunderten dieselbe, das Schloß und den Garten; doch wenn sie die Nachtigall zu hören bekamen, sagten sie alle: ``Das ist doch das Beste!''

Die Reisenden erzählten davon, wenn sie nach Hause kamen und die Gelehrten schrieben viele Bücher über die Stadt, das Schloß und den Garten, aber die Nachtigall vergaßen sie nicht, sie wurde am höchsten gestellt; und die, welche dichten konnten, schrieben die herrlichsten Gedichte über die Nachtigall im Walde bei dem tiefen See.

Die Bücher durchliefen die Welt und einige kamen dann auch einmal zum Kaiser. Er saß in seinem goldenen Stuhl, las und las, jeden Augenblick nickte er mit dem Kopfe, denn es freute ihn, die prächtigen Beschreibungen der Stadt, des Schlosses und des Gartens zu vernehmen. ``Aber die Nachtigall ist doch das Allerbeste!'' stand da geschrieben.

``Was ist das?'' fragte der Kaiser. ``Die Nachtigall kenne ich ja gar nicht! Ist ein solcher Vogel hier in meinem Kaiserreiche und sogar in meinem Garten? Das habe ich nie gehört; so etwas soll man erst aus Büchern erfahren?''

Da rief er seinen Haushofmeister. Der war so vornehm, daß, wenn jemand, der geringer als er war, mit ihm zu sprechen oder ihn um etwas zu fragen wagte, er weiter nichts erwiderte als: ``P!'' Und das hat nichts zu bedeuten.

``Hier soll ja ein höchst merkwürdiger Vogel sein, welcher Nachtigall genannt wird!'' sagte der Kaiser. ``Man spricht, dies sei das Allerbeste in meinem großen Reiche; weshalb hat man mir nie etwas davon gesagt?''

``Ich habe ihn früher nie nennen hören,'' sagte der Haushofmeister. ``Er ist nie bei Hofe vorgestellt worden!''

``Ich will, daß er heute Abend herkomme und vor mir singe!'' sagte der Kaiser. ``Die ganze Welt weiß, was ich habe, und ich weiß es nicht!''

``Ich habe ihn früher nie nennen hören!'' sagte der Haushofmeister. ``Ich werde ihn suchen, ich werde ihn finden!''

Aber wo war er zu finden? Der Haushofmeister lief alle Treppen auf und nieder, durch Säle und Gänge, keiner von allen denen, auf die er traf, hatte von der Nachtigall sprechen hören. Und der Haushofmeister lief wieder zum Kaiser und sagte, daß es sicher eine Fabel von denen sei, die da Bücher schreiben. ``Dero Kaiserliche Majestät können gar nicht glauben, was da alles geschrieben wird; das sind Erdichtungen und etwas, was man die schwarze Kunst nennt!''

``Aber das Buch, in dem ich dieses gelesen habe,'' sagte der Kaiser, ``ist mir von dem großmächtigen Kaiser von Japan gesandt, also kann es keine Unwahrheit sein. Ich will die Nachtigall hören; sie muß heute Abend hier sein! Sie hat meine höchste Gnade! Und kommt sie nicht, so soll der ganze Hof auf den Leib getrampelt werden, wenn er Abendbrot gegessen hat!''

``Tsing-pe!'' sagte der Haushofmeister und lief wieder alle Treppen auf und nieder, durch alle Säle und Gänge; und der halbe Hof lief mit, denn sie wollten nicht gern auf den Leib getrampelt werden. Da gab es ein Fragen nach der merkwürdigen Nachtigall, welche die ganze Welt kannte, nur niemand bei Hofe.

Endlich trafen sie ein kleines, armes Mädchen in der Küche. Sie sagte: ``O Gott, die Nachtigall, die kenne ich gut, ja, wie kann die singen! Jeden Abend habe ich die Erlaubnis, meiner armen, kranken Mutter einige Überbleibsel vom Tische mit nach Hause zu bringen; sie wohnt unten am Strande, und wenn ich dann zurückgehe, müde bin und im Walde ausruhe, dann höre ich die Nachtigall singen; es kommt mir dabei das Wasser in die Augen, und es ist gerade, als ob meine Mutter mich küßte!''

``Kleine Köchin,'' sagte der Haushofmeister, ``ich werde Dir eine feste Anstellung in der Küche und die Erlaubnis, den Kaiser speisen zu sehen, verschaffen, wenn Du uns zur Nachtigall führen kannst, denn sie ist zu heute Abend angesagt.''

So zogen sie allesamt hinaus in den Wald, wo die Nachtigall zu singen pflegte; der halbe Hof war mit. Als sie im besten Zuge waren, fing eine Kuh zu brüllen an.

``O!'' sagten die Hofjunker, ``nun haben wir sie; das ist doch eine merkwürdige Kraft in einem so kleinen Tiere! Die habe ich sicher schon früher gehört!''

``Nein, das sind Kühe, welche brüllen!'' sagte die kleine Köchin. ``Wir sind noch weit von dem Orte entfernt!''

Nun quakten die Frösche im Sumpfe.

``Herrlich!'' sagte der chinesische Schloßpropst. ``Nun höre ich sie, es klingt gerade wie kleine Kirchenglocken.''

``Nein, das sind Frösche!'' sagte die kleine Köchin. ``Aber nun, denke ich, werden wir sie bald hören!''

Da begann die Nachtigall zu singen.

``Das ist sie,'' sagte das kleine Mädchen. ``Hört, hört! Und da sitzt sie!'' Sie zeigte nach einem kleinen, grauen Vogel oben in den Zweigen.

``Ist es möglich?'' sagte der Haushofmeister. ``So hätte ich sie mir nimmer gedacht; wie einfach sie aussieht! Sie hat sicher ihre Farbe darüber verloren, daß sie so viele vornehme Menschen um sich erblickt!''

``Kleine Nachtigall,'' rief die kleine Köchin ganz laut, ``unser gnädigster Kaiser will, daß Sie vor ihm singen möchten!''

``Mit dem größten Vergnügen,'' sagte die Nachtigall und sang dann, daß es eine Lust war.

``Es ist gerade wie Glasglocken!'' sagte der Haushofmeister. ``Und seht die kleine Kehle, wie sie arbeitet! Es ist merkwürdig, daß wir sie früher nie gesehen haben; sie wird großes Aufsehen bei Hofe machen!''

``Soll ich noch einmal vor dem Kaiser singen?'' sagte die Nachtigall, welche glaubte, der Kaiser sei auch da.

``Meine vortreffliche, kleine Nachtigall,'' sagte der Haushofmeister, ``ich habe die große Freude, Sie zu einem Hoffeste heute Abend einzuladen, was Sie Dero hohe Kaiserliche Gnaden mit Ihrem prächtigen Gesange bezaubern werden!''

``Der nimmt sich am besten im Grünen aus!'' sagte die Nachtigall, aber sie kam doch gern mit, als sie hörte, daß der Kaiser es wünschte.

Auf dem Schlosse war alles aufgeputzt. Die Wände und der Fußboden, welche von Porzellan waren, glänzten im Strahle vieler tausend goldener Lampen; die prächtigsten Blumen, welche recht klingeln konnten, waren in den Gängen aufgestellt; da war ein Laufen und ein Zugwind, aber alle Glocken klingelten so, daß man sein eigenes Wort nicht hören konnte.

Mitten in dem großen Saal, wo der Kaiser saß, war ein goldener Stab hingestellt, auf dem sollte die Nachtigall sitzen; der ganze Hof war da, und die kleine Köchin hatte die Erlaubnis erhalten, hinter der Thür zu stehen, da sie nun den Titel einer wirklichen Hofköchin bekommen hatte. Alle waren in ihrem größten Staate, und alle sahen nach dem kleinen, grauen Vogel, dem der Kaiser zunickte.

Die Nachtigall sang so herrlich, daß dem Kaiser die Thränen in die Augen traten; die Thränen liefen ihm über die Wangen hernieder, und da sang die Nachtigall noch schöner; das ging recht zu Herzen. Der Kaiser war sehr erfreut und sagte, daß die Nachtigall einen goldenen Pantoffel um den Hals tragen solle. Aber die Nachtigall dankte, sie habe schon Belohnung genug erhalten.

``Ich habe Thränen in des Kaisers Augen gesehen, das ist mir der reichste Schatz; eines Kaisers Thränen haben eine besondere Kraft! Gott weiß es, ich bin genug belohnt!'' Und darauf sang sie wieder mit ihrer süßen, herrlichen Stimme.

``Das ist die liebenswürdigste Stimme, die ich kenne!'' sagten die Damen ringsherum, und dann nahmen sie Wasser in den Mund, um zu klucken, wenn jemand mit ihnen spräche; sie glaubten, dann auch Nachtigallen zu sein. Ja, die Diener und Kammermädchen ließen melden, daß auch sie zufrieden seien, und das will viel sagen, denn sie sind am schwierigsten zu befriedigen. Ja, die Nachtigall machte wahrlich Glück.

Sie sollte nun bei Hofe bleiben, ihren eigenen Käfig samt der Freiheit haben, zweimal des Tages und einmal des Nachts heraus zu spazieren. Sie bekam zwölf Diener mit, welche ihr alle ein Seidenband um das Bein geschlungen hatten, woran sie sie fest hielten. Es war durchaus kein Vergnügen bei einem solchen Ausflug.

Die ganze Stadt sprach von dem merkwürdigen Vogel, und begegneten sich zwei, sagte der eine nichts anderes als ``Nacht!'' und der andere sagte: ``Gall'', und dann seufzten sie und verstanden einander; ja, elf Hökerkinder wurden nach ihr benannt, aber nicht eins von ihnen hatte einen Ton in der Kehle.

Eines Tages erhielt der Kaiser eine Kiste, auf der geschrieben stand: ``Die Nachtigall.''

``Da haben wir nun ein neues Buch über unsern berühmten Vogel!'' sagte der Kaiser; aber es war kein Buch, es war ein Kunststück, welches in einer Schachtel lag, eine künstliche Nachtigall, die der lebenden gleichen sollte, aber überall mit Diamanten, Rubinen und Saphiren besetzt war. Sobald man den künstlichen Vogel aufzog, konnte er eins der Stücke, die der wirkliche sang, singen, und dann bewegte sich der Schweif auf und nieder und glänzte von Silber und Gold. Um den Hals hing ein kleines Band und darauf stand geschrieben: ``Des Kaisers von Japan Nachtigall ist arm gegen die des Kaisers von China.''

``Das ist herrlich!'' sagten alle, und der, welcher den künstlichen Vogel gebracht hatte, erhielt sogleich den Titel: Kaiserlicher Obernachtigallbringer.

``Nun müssen sie zusammen singen! Was wird das für ein Genuß werden!''

Sie mußten zusammen singen, aber es wollte nicht recht gehen, denn die wirkliche Nachtigall sang auf ihre Weise, und der Kunstvogel ging auf Walzen. ``Der hat keine Schuld,'' sagte der Spielmeister; ``der ist besonders taktfest und ganz nach meiner Schule!'' Nun sollte der Kunstvogel allein singen. Er machte ebenso viel Glück als der wirkliche, und dann war er viel niedlicher anzusehen; er glänzte wie Armbänder und Brustnadeln.

Dreiunddreißigmal sang er ein und dasselbe Stück und war doch nicht müde; die Leute hätten ihn gern wieder von vorn gehört, aber der Kaiser meinte, daß nun auch die lebendige Nachtigall etwas singen solle. Aber wo war die? Niemand hatte bemerkt, daß sie aus dem offenen Fenster fort zu ihren grünen Wäldern geflogen war.

``Aber was ist denn das?'' fragte der Kaiser; und alle Hofleute schalten und meinten, daß die Nachtigall ein höchst undankbares Tier sei. ``Den besten Vogel haben wir doch!'' sagten sie, und so mußte der Kunstvogel wieder singen, und das war das vierunddreißigste Mal, daß sie dasselbe Stück zu hören bekamen, aber sie konnten es noch nicht ganz auswendig, denn es war sehr schwer. Der Spielmeister lobte den Vogel außerordentlich, ja, er versicherte, daß er besser, als die wirkliche Nachtigall sei, nicht nur was die Kleider und die vielen herrlichen Diamanten betreffe, sondern auch innerlich.

``Denn sehen Sie, meine Herrschaften, der Kaiser vor allen, bei der wirklichen Nachtigall kann man nie berechnen, was da kommen wird, aber bei dem Kunstvogel ist alles bestimmt; man kann es erklären, man kann ihn aufmachen und das menschliche Denken zeigen, wie die Walzen liegen, wie sie gehen, und wie das eine aus dem andern folgt!''

``Das sind ganz unsere Gedanken!'' sagten sie alle, und der Spielmeister erhielt die Erlaubnis, am nächsten Sonntag den Vogel dem Volke vorzuzeigen; es sollte ihn auch singen hören, befahl der Kaiser, und es hörte ihn, und es wurde so vergnügt, als ob es sich im Thee berauscht hätte, denn das ist ganz chinesisch; und da sagten alle: ``O!'' und hielten den Zeigefinger in die Höhe und nickten dazu. Aber die armen Fischer, welche die wirkliche Nachtigall gehört hatten, sagten: ``Es klingt hübsch, die Melodieen gleichen sich auch, aber es fehlt etwas, ich weiß nicht was!''

Die wirkliche Nachtigall ward aus dem Lande und Reiche verwiesen.

Der Kunstvogel hatte seinen Platz auf einem seidenen Kissen dicht bei des Kaisers Bett; alle Geschenke, welche er erhalten, Gold und Edelsteine, lagen rings um ihn her, und im Titel war er zu einem ``Hochkaiserlichen Nachttischsänger'' gestiegen, im Range Numero eins zur linken Seite, denn der Kaiser rechnete die Seite für die vornehmste, auf der das Herz saß, und das Herz sitzt auch bei einem Kaiser links. Und der Spielmeister schrieb ein Werk von fünfundzwanzig Bänden über den Kunstvogel; das war so gelehrt und lang, voll von den allerschwersten chinesischen Wörtern, daß alle Leute sagten, sie haben es gelesen und verstanden, denn sonst wären sie ja dumm gewesen und auf den Leib getrampelt worden.

So ging es ein ganzes Jahr; der Kaiser, der Hof und alle die übrigen Chinesen konnten jeden kleinen Kluck in des Kunstvogels Gesang auswendig, aber gerade deshalb gefiel er ihnen jetzt am allerbesten; sie konnten selbst mitsingen, und das thaten sie. Die Straßenbuben sangen: ``Ziziiz! Kluckkluckkluck!'' und der Kaiser sang es! Ja, das war gewiß prächtig!

Aber eines Abends, als der Kunstvogel am besten sang und der Kaiser im Bette lag und darauf hörte, sagte es ``Schwupp'' inwendig im Vogel; da sprang etwas ``Schnurrrr!'' Alle Räder liefen herum, und dann stand die Musik still.

Der Kaiser sprang gleich aus dem Bette und ließ seinen Leibarzt rufen, aber was konnte der helfen! Dann ließen sie den Uhrmacher holen, und nach vielem Sprechen und Nachsehen brachte er den Vogel etwas in Ordnung, aber er sagte, daß er sehr geschont werden müsse, denn die Zapfen seien abgenutzt, und es sei unmöglich, neue so einzusetzen, daß die Musik sicher gehe. Das war nun eine große Trauer! Nur einmal des Jahres durfte man den Kunstvogel singen lassen, und das war fast schon zu viel; aber dann hielt der Spielmeister eine kleine Rede mit den schweren Worten und sagte, daß es ebenso gut als früher sei, und dann war es ebenso gut als früher.

Nun waren fünf Jahre vergangen, und das ganze Land bekam eine wirkliche, große Trauer. Die Chinesen hielten im Grunde allesamt große Stücke auf ihren Kaiser, und jetzt war er krank und konnte nicht länger leben. Schon war ein neuer Kaiser gewählt, und das Volk stand draußen auf der Straße und fragte den Haushofmeister, wie es ihrem alten Kaiser gehe.

``P!'' sagte er und schüttelte mit dem Kopfe.

Kalt und bleich lag der Kaiser in seinem großen, prächtigen Bette, der ganze Hof glaubte ihn tot, und ein jeder lief, den neuen Kaiser zu begrüßen, die Kammerdiener liefen hinaus, um darüber zu sprechen, und die Kammermädchen hatten große Kaffeegesellschaft. Ringsumher in allen Sälen und Gängen war Tuch gelegt, damit man niemand gehen höre, und deshalb war es da still. Aber der Kaiser war noch nicht tot; steif und bleich lag er in dem prächtigen Bette mit den langen Sammetvorhängen und den schweren Goldquasten, hoch oben stand ein Fenster auf, und der Mond schien herein auf den Kaiser und den Kunstvogel.

Der arme Kaiser konnte kaum atmen, es war gerade, als ob etwas auf seiner Brust säße; er schlug die Augen auf und da sah er, daß es der Tod war, der auf seiner Brust saß und sich seine goldene Krone aufgesetzt hatte und in der einen Hand des Kaisers goldenen Säbel, in der andern seine prächtige Fahne hielt; ringsumher aus den Falten der großen Sammetbettvorhänge sahen wunderliche Köpfe hervor, einige ganz häßlich, andere lieblich und mild; das waren des Kaisers gute und böse Thaten, welche ihn anblickten, jetzt, da der Tod ihm auf dem Herzen saß.

``Entsinnst Du Dich dieses?'' Und dann erzählten sie ihm soviel, daß ihm der Schweiß von der Stirne rann.

``Das habe ich nie gewußt!'' sagte der Kaiser. ``Musik, Musik, die große chinesische Trommel,'' rief er, ``damit ich nicht alles zu hören brauche, was sie sagen!''

Aber sie fuhren fort, und der Tod nickte wie ein Chinese zu allem, was gesagt wurde.

``Musik, Musik!'' schrie der Kaiser. ``Du kleiner, herrlicher Goldvogel, singe doch, singe! Ich habe Dir Gold und Kostbarkeiten gegeben, ich habe Dir selbst meinen goldenen Pantoffel um den Hals gehängt, singe doch, singe!''

Aber der Vogel stand still, es war niemand da, um ihn aufzuziehen, sonst sang er nicht, und der Tod fuhr fort, den Kaiser mit seinen großen, leeren Augenhöhlen anzustarren, und es war still, erschrecklich still.

Da klang auf einmal vom Fenster her der herrlichste Gesang. Es war die kleine, lebendige Nachtigall, welche auf einem Zweige draußen saß; sie hatte von der Not ihres Kaisers gehört und war deshalb gekommen, ihm Trost und Hoffnung zu singen; und sowie sie sang, wurden die Gespenster bleicher und bleicher, das Blut kam immer rascher und rascher in des Kaisers schwachen Gliedern in Bewegung, und selbst der Tod horchte und sagte: ``Fahre fort, kleine Nachtigall! Fahre fort!''

``Ja, willst Du mir den prächtigen, goldenen Säbel geben? Willst Du mir die reiche Fahne geben? Willst Du mir des Kaisers Krone geben?''

Der Tod gab jedes Kleinod für einen Gesang, und die Nachtigall fuhr fort zu singen, sie sang von dem stillen Gottesacker, wo die weißen Rosen wachsen, wo der Flieder duftet und wo das frische Gras von den Thränen der Überlebenden befeuchtet wird. Da bekam der Tod Sehnsucht nach seinem Garten und schwebte wie ein kalter, weißer Nebel aus dem Fenster.

``Dank, Dank!'' sagte der Kaiser, ``Du himmlischer, kleiner Vogel, ich kenne Dich wohl! Dich habe ich aus meinem Lande und Reich gejagt, und doch hast Du die bösen Geister von meinem Bette weggesungen, den Tod von meinem Herzen weggeschafft! Wie kann ich Dir lohnen?''

``Du hast mich belohnt!'' sagte die Nachtigall. ``Ich habe Deinen Augen Thränen entlockt, als ich das erste Mal sang, das vergesse ich nie; das sind die Juwelen, die ein Sängerherz erfreuen. Aber schlafe nun und werde stark, ich werde Dir vorsingen!''

Sie sang, und der Kaiser fiel in süßen Schlummer; mild und wohlthuend war der Schlaf!

Die Sonne schien durch das Fenster herein, als er gestärkt und gesund erwachte: keiner von seinen Dienern war noch zurückgekehrt; denn sie glaubten, er sei tot; aber die Nachtigall saß noch und sang.

``Immer mußt Du bei mir bleiben!'' sagte der Kaiser. ``Du sollst nur singen, wenn Du selbst willst, und den Kunstvogel schlage ich in tausend Stücke.''

``Thue das nicht,'' sagte die Nachtigall, ``der hat ja das Gute gethan, so lange er konnte, behalte ihn wie bisher. Ich kann nicht nisten und wohnen im Schlosse, aber laß mich kommen, wenn ich selbst Lust habe, da will ich des Abends dort beim Fenster sitzen und Dir vorsingen, damit Du froh werden könnest und gedankenvoll zugleich. Ich werde von den Glücklichen singen und von denen, die da leiden; ich werde vom Bösen und Guten singen, was rings um Dich her Dir verborgen bleibt. Der kleine Singvogel fliegt weit herum zu dem armen Fischer, zu des Landmanns Dach, zu jedem, der weit von Dir und Deinem Hofe entfernt ist. Ich liebe Dein Herz mehr als Deine Krone, und doch hat die Krone einen Duft von etwas Heiligem um sich. Ich komme und singe Dir vor! Aber eins mußt Du mir versprechen.''

``Alles!'' sagte der Kaiser und stand da in seiner kaiserlichen Tracht, die er angelegt hatte, und drückte den Säbel, welcher schwer von Gold war, an sein Herz.

``Um eins bitte ich Dich; erzähle niemand, daß Du einen kleinen Vogel hast, der Dir alles sagt, dann wird es noch besser gehen!''

So flog die Nachtigall fort.

Die Diener kamen herein, um nach ihrem toten Kaiser zu sehen; ja, da standen sie, und der Kaiser sagte: ``Guten Morgen!''

Das häßliche junge Entlein

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\AMsection{Das häßliche junge Entlein}

Es war herrlich draußen auf dem Lande; es war Sommer, das Korn stand gelb, der Hafer grün, das Heu war unten auf den grünen Wiesen in Schobern aufgesetzt, und da ging der Storch auf seinen langen roten Beinen und plapperte ägyptisch, denn diese Sprache hatte er von seiner Mutter gelernt. Rings um den Acker und die Wiese waren große Wälder und mitten in den Wäldern tiefe Seen, ja es war wirklich herrlich da draußen auf dem Lande! Mitten im Sonnenschein lag dort ein altes Rittergut, von tiefen Kanälen umgeben, und von der Mauer bis zum Wasser herunter wuchsen große Klettenblätter, die so hoch waren, daß kleine Kinder unter den höchsten aufrecht stehen konnten; es war aber so wild darin, wie im tiefsten Walde. Hier saß eine Ente auf dem Neste, welche ihre Jungen ausbrüten mußte, aber es wurde ihr fast zu langweilig, ehe die Jungen kamen, dazu bekam sie selten Besuch; die andern Enten schwammen lieber in den Kanälen umher, als daß sie hinauf liefen, sich unter ein Kleeblatt zu setzen und mit ihr zu schnattern.

Endlich borst ein Ei nach dem andern. ``Piep, piep!'' sagte es und alle Eidotter waren lebendig geworden und die jungen Entlein steckten den Kopf heraus.

``Rapp, rapp!'' sagte sie, und so rappelten sich alle, was sie konnten, und sahen nach allen Seiten unter den grünen Blättern, und die Mutter ließ sie sehen, so viel sie wollten, denn das Grüne ist gut für die Augen.

``Wie groß ist doch die Welt!'' sagten alle Jungen; denn nun hatten sie freilich ganz anders Platz, als wie sie noch drinnen im Ei lagen.

``Glaubt Ihr, daß dies die ganze Welt sei?'' sagte die Mutter. ``Die erstreckt sich noch weit über die andere Seite des Gartens, gerade hinein in des Pfarrers Feld, aber da bin ich noch nie gewesen! Ihr seid doch alle beisammen?'' fuhr sie fort, und so stand sie auf. ``Nein, ich habe noch nicht alle, das größte Ei liegt noch da. Wie lange soll das noch währen? Jetzt bin ich es bald überdrüssig!'' Und so setzte sie sich wieder.

``Nun, wie geht es?'' sagte eine alte Ente, welche gekommen war, um ihr einen Besuch abzustatten.

``Es währt so lange mit dem einen Ei!'' sagte die Ente, die da saß; ``es will nicht entzwei gehen; doch blicke nur auf die andern hin, sind sie nicht die niedlichsten Entlein, die man je gesehen? Sie gleichen allesamt ihrem Vater; der Bösewicht kommt nicht, mich zu besuchen.''

``Laß mich das Ei sehen, welches nicht bersten will!'' sagte die Alte. ``Glaube mir, es ist ein Kalekutenei; ich bin auch einmal so angeführt worden, und hatte meine große Sorge und Not mit den Jungen, denn ihnen ist bange vor dem Wasser. Ich konnte sie nicht hinein bekommen, ich rappte und schnappte, aber es half nichts. Laß mich das Ei sehen. Ja, das ist ein Kalekutenei, laß Du das liegen und lehre lieber die andern Kinder schwimmen.''

``Ich will doch noch ein bißchen darauf sitzen,'' sagte die Ente, ``habe ich nun so lange gesessen, kann ich auch noch einige Zeit sitzen.''

``Nach Belieben,'' sagte die alte Ente und ging von dannen.

Endlich borst das große Ei. ``Piep, piep!'' sagte das Junge und kroch heraus; es war groß und häßlich. Die Ente betrachtete es. ``Das ist doch ein gewaltig großes Entlein,'' sagte sie; ``keins von den andern sieht so aus; sollte es doch ein kalekutisches Küchlein sein? Nun, wir wollen bald dahinter kommen; in das Wasser muß es, ob ich es auch selbst hineinstoßen soll.''

Am nächsten Tage war schönes, herrliches Wetter. Die Sonne schien auf all' die grünen Kletten. Die Entleinmutter ging mit ihrer ganzen Familie zu dem Kanal hinunter; platsch; da sprang sie in das Wasser. ``Rapp, rapp!'' sagte sie, und ein Entlein nach dem andern plumpte hinein; das Wasser schlug ihnen über dem Kopfe zusammen, aber sie kamen gleich wieder empor und schwammen so prächtig, die Beine gingen von selbst, und alle waren sie darin, selbst das häßliche, graue Junge schwamm mit.

``Nein, es ist kein Kalekut,'' sagte sie; ``sieh, wie herrlich es die Beine gebraucht, wie gerade es sich hält, es ist mein eigenes Kind. Im grunde ist es doch ganz hübsch, wenn man es nur recht betrachtet. Rapp, rapp! --- Kommt nur mit mir, ich werde Euch in die große Welt führen, Euch im Entenhof vorstellen, aber haltet Euch immer nahe zu mir, damit niemand auf Euch trete, und nehmt Euch vor den Katzen in acht!''

Und so kamen sie in den Entenhof hinein. Da drinnen war ein schrecklicher Lärm, denn da waren zwei Familien, die sich um einen Aalkopf bissen, und am Ende bekam ihn doch die Katze.

``Seht, so geht es in der Welt zu!'' sagte die Entenmutter und wetzte ihren Schnabel, denn sie wollte auch den Aalkopf haben. ``Braucht nur die Beine!'' sagte sie. ``Seht, daß Ihr Euch rappeln könnt, und neigt Euren Hals vor der alten Ente dort; sie ist die vornehmste von allen hier; sie ist aus spanischem Geblüt, deswegen ist sie so dick; und seht Ihr, sie hat einen roten Lappen um das Bein, das ist etwas außerordentlich Schönes und die größte Auszeichnung, welche einer Ente zu Teil werden kann; das bedeutet so viel, daß man sie nicht verlieren will und daß sie von Tier und Menschen erkannt werden soll! Rappelt Euch; setzt die Füße nicht einwärts. Ein wohlerzogenes Entlein setzt die Füße weit von einander, gerade wie Vater und Mutter; seht, so! Nun neigt Euren Hals und sagt: `Rapp!' ''

Und das thaten sie; aber die anderen Enten ringsumher betrachteten sie und sagten ganz laut: ``Sieh da! Nun sollen wir noch den Anhang haben, als ob wir nicht schon genug wären, und pfui! wie das eine Entlein aussieht, das wollen wir nicht dulden!'' Und sogleich flog eine Ente hin und biß es in den Nacken.

``Laß es in Ruhe!'' sagte die Mutter. ``Es thut ja niemand etwas.''

``Ja, aber es ist so groß und ungewöhnlich,'' sagte die beißende Ente, ``und deshalb muß es gepufft werden.''

``Es sind hübsche Kinder, welche die Mutter hat,'' sagte die Ente mit dem Lappen um das Bein. ``Alle zusammen schön, bis auf das eine, das ist nicht geglückt; ich möchte wünschen, daß sie es umarbeiten könnte.''

``Das geht nicht, Ihro Gnaden,'' sagte die Entleinmutter; ``es ist nicht hübsch, aber es hat ein gutes Gemüt und schwimmt so herrlich wie eins von den andern, ja, ich darf sagen, noch etwas besser; ich denke, es wird hübsch heranwachsen und mit der Zeit etwas kleiner werden; es hat so lange in dem Ei gelegen und deshalb nicht die rechte Gestalt bekommen!'' Und so zupfte sie es im Nacken und glättete das Gefieder. ``Es ist überdies ein Enterich,'' sagte sie, ``und darum macht es nicht so viel aus. Ich denke, er wird gute Kräfte bekommen, er schlägt sich schon durch.''

``Die andern Entlein sind niedlich,'' sagte die Alte. ``Thut nun, als ob Ihr zu Hause wäret, und findet Ihr einen Aalkopf, so könnt Ihr mir ihn bringen.''

Und so waren sie wie zu Hause.

Aber das arme Entlein, welches zuletzt aus dem Ei gekrochen war und so häßlich aussah, wurde gebissen, gestoßen und zum besten gehalten, und das sowohl von den Enten wie von den Hühnern. ``Es ist zu groß,'' sagten sie allesamt, und der kalekutische Hahn, welcher mit Sporen zur Welt gekommen war und deshalb glaubte, daß er Kaiser sei, blies sich wie ein Fahrzeug mit vollen Segeln auf, ging gerade auf dasselbe los, und dann kollerte er und wurde ganz rot am Kopfe. Das arme Entlein wußte weder, wo es stehen noch gehen sollte; es war betrübt, weil es häßlich aussah und vom ganzen Entenhofe verspottet wurde.

So ging es den ersten Tag, und später wurde es schlimmer und schlimmer. Das Entlein wurde von allen gejagt, selbst seine Geschwister waren böse gegen dasselbe und sagten immer: ``Wenn die Katze Dich nur fangen möchte, Du häßliches Geschöpf!'' und die Mutter sagte: ``Wenn Du nur weit fort wärest!'' Die Enten bissen es, und die Hühner schlugen es, und das Mädchen, welches die Tiere füttern sollte, stieß mit dem Fuße danach.

Da lief und flog es über das Gehege; die kleinen Vögel in den Büschen flogen erschrocken auf. ``Das geschieht, weil ich häßlich bin!'' dachte das Entlein und schloß die Augen, lief aber gleichwohl weiter; so kam es hinaus zu dem großen Moor, wo die wilden Enten wohnten. Hier lag es die ganze Nacht, es war sehr müde und kummervoll.

Am Morgen flogen die wilden Enten auf und sie betrachteten den neuen Kameraden. ``Was bist Du für einer?'' fragten sie, und das Entlein wandte sich nach allen Seiten und grüßte, so gut es konnte.

``Du bist außerordentlich häßlich!'' sagten die wilden Enten. ``Aber das kann uns gleichgiltig sein, wenn Du Dich nur nicht in unsere Familie hinein heiratest.'' Das Arme dachte wahrlich nicht daran, sich zu verheiraten, wenn es nur die Erlaubnis hatte, im Schilfe zu liegen und etwas Moorwasser zu trinken.

So lag es ganze zwei Tage. Da kamen zwei wilde Gänse oder richtiger wilde Gänseriche dorthin; es war noch nicht lange her, daß sie aus dem Ei gekrochen waren, und deshalb waren es auch so keck.

``Höre, Kamerad,'' sagten sie, ``Du bist so häßlich, daß wir Dich gut leiden mögen; willst Du mitziehen und Zugvogel sein? Hier nahebei in einem andern Moor giebt es einige liebliche, wilde Gänse, alle zusammen Fräulein, die da Rapp! sagen können. Du bist im stande, Dein Glück zu machen, so häßlich Du auch bist!''

``Piff, paff!'' ertönte es und beide wilde Gänseriche fielen tot in das Schilf nieder, und das Wasser wurde blutrot. ``Piff, paff!'' erscholl es wieder, und ganze Scharen wilder Gänse flogen aus dem Schilfe auf, und dann knallte es wieder. Es war große Jagd; die Jäger lagen rings um das Rohr herum, ja einige saßen oben in den Baumzweigen, welche sich weit über das Schilf hinstreckten, der blaue Dampf zog gleich Wolken in die dunklen Bäume hinein und ging weit über das Wasser hin; zum Moor kamen die Jagdhunde: platsch! platsch! --- das Schilf und Rohr neigte sich nach allen Seiten. Das war ein Schreck für das arme Entlein; es wendete den Kopf, um ihn unter den Flügel zu stecken, und im selben Augenblick stand ein fürchterlich großer Hund dicht bei dem Entlein, die Zunge hing ihm lang aus dem Halse heraus, und die Augen leuchteten greulich häßlich; er streckte seinen Rachen dem Entlein gerade entgegen, zeigte ihm die scharfen Zähne und --- platsch! platsch! ging er wieder, ohne es zu packen.

``O, Gott sei Dank!'' seufzte das Entlein, ``ich bin so häßlich, daß mich selbst der Hund nicht beißen mag!''

So lag es ganz still, während der Bleihagel durch das Schilf sauste und Schuß auf Schuß knallte.

Erst spät am Tage wurde es still, aber das arme Junge wagte noch nicht, sich zu erheben; es wartete noch mehrere Stunden, bevor es sich umsah, und dann eilte es fort aus dem Moor, so schnell es konnte; es lief über Feld und Wiese, und es war ein Sturm, daß es ihm schwer wurde, von der Stelle zu kommen.

Gegen Abend erreichte es eine kleine Bauernhütte, die war so baufällig, daß sie selbst nicht wußte, nach welcher Seite sie fallen wollte und darum blieb sie stehen. Der Sturm umsauste das Entlein so, daß es sich niedersetzen mußte, um sich dagegen zu stemmen; und es wurde schlimmer und schlimmer; da bemerkte es, daß die Thür aus der einen Angel gegangen war, und so schief hing, daß es durch die Öffnung in die Stube hinein schlüpfen konnte, und das that es.

Hier wohnte eine alte Frau mit ihrer Katze und ihrem Huhne, und die Katze, welche sie Söhnchen nannte, konnte einen Buckel machen und spinnen, sie sprühte sogar Funken, aber dann mußte man sie gegen die Haare streicheln. Das Huhn hatte ganz kleine, niedrige Beine und deshalb wurde es Küchelchen-Kurzbein genannt; es legte gut Eier, und die Frau liebte es wie ihr eigenes Kind.

Am Morgen bemerkte man sogleich das fremde Entlein, und die Katze fing an zu spinnen und das Huhn zu glucken.

``Was ist das?'' sagte die Frau und sah sich rings um, aber sie sah nicht gut, und so glaubte sie, daß das Entlein eine fette Ente sei, die sich verirrt habe. ``Das ist ja ein seltsamer Fang!'' sagte sie. ``Nun kann ich Enteneier bekommen. Wenn es nur kein Enterich ist! Das müssen wir erproben.''

Und so wurde das Entlein für drei Wochen auf Probe angenommen, aber da kamen keine Eier. Und die Katze war Herr im Hause und das Huhn war die Frau und immer sagten sie: ``Wir und die Welt!'' denn sie glaubten, daß sie die Hälfte seien, und zwar der allerbeste Teil. Das Entlein glaubte, daß man auch eine andere Meinung haben könne, aber das litt das Huhn nicht.

``Kannst Du Eier legen?'' fragte es.

``Nein!''

``So wirst Du Deinen Mund halten!''

Und die Katze sagte: ``Kannst Du einen krummen Buckel machen, spinnen und Funken sprühen?''

``Nein!''

``So darfst Du auch keine Meinung haben, wenn vernünftige Leute sprechen!''

Das Entlein saß im Winkel und war bei schlechter Laune; da fiel es ihm ein, an die frische Luft und den Sonnenschein zu denken; es bekam so sonderbare Lust, auf dem Wasser zu schwimmen, daß es nicht unterlassen konnte, dies der Henne zu sagen.

``Was fehlt Dir?'' fragte diese. ``Du hast nichts zu thun, deshalb bekommst Du die Grillen! Lege Eier oder spinne, so gehen sie vorüber.''

``Aber es ist so schön, auf dem Wasser zu schwimmen,'' sagte das Entlein, ``so herrlich, es über dem Kopfe zusammenschlagen zu lassen und auf den Grund niederzutauchen!''

``Ja, das ist ein großes Vergnügen!'' sagte die Henne. ``Du bist wohl verrückt geworden! Frage die Katze danach, sie ist die klügste, die ich kenne, ob sie es liebt, auf dem Wasser zu schwimmen oder unterzutauchen; ich will nicht von mir sprechen. Frage selbst unsere Herrschaft, die alte Frau, klüger als sie ist niemand auf der Welt! Glaubst Du, daß sie Lust hat, zu schwimmen und das Wasser über dem Kopfe zusammenschlagen zu lassen?''

``Ihr versteht mich nicht!'' sagte die Ente.

``Wir verstehen Dich nicht? Wer soll Dich denn verstehen können? Du wirst doch wohl nicht klüger sein wollen als die Katze und die Frau, mich will ich nicht erwähnen! Bilde Dir nichts ein, Kind, und danke Deinem lieben Schöpfer für all' das Gute, das man Dir erwiesen! Bist Du nicht in eine warme Stube gekommen und hast einen Umgang, von dem Du etwas lernen kannst? Aber Du bist ein Schwätzer, und es ist nicht erfreulich, mit Dir umzugehen. Mir kannst Du glauben, ich meine es gut mit Dir, ich sage Dir Unannehmlichkeiten, und daran kann man seine wahren Freunde erkennen! Sieh zu, daß Du Eier legen oder spinnen und Funken sprühen lernst!''

``Ich glaube, ich gehe hinaus in die weite Welt!'' sagte das Entlein.

``Ja, thue das!'' sagte das Huhn.

Und so ging das Entlein; es schwamm auf dem Wasser, es tauchte unter, aber von allen Tieren wurde es wegen seiner Häßlichkeit übersehen.

Nun trat der Herbst ein, die Blätter im Walde wurden gelb und braun, der Wind riß sie ab, sodaß sie umhertanzten, und oben in der Luft war es sehr kalt; die Wolken hingen schwer von Hagel und Schneeflocken, und auf dem Zaun stand ein Rabe und schrie: ``Au, au!'' vor lauter Kälte; ja, man konnte ordentlich frieren, wenn man daran dachte. Das arme Entlein hatte es wahrlich nicht gut. Eines Abends, als die Sonne schön unterging, kam ein ganzer Schwarm herrlicher, großer Vögel aus dem Busche; das Entlein hatte solche nie so schön gesehen. Sie waren ganz blendend weiß, mit langen, geschmeidigen Hälsen, es waren Schwäne. Sie stießen einen ganz eigentümlichen Ton aus, breiteten ihre prächtigen, langen Flügel aus und flogen von der kalten Gegend fort nach warmen Ländern, nach offenen Seen. Sie stiegen sehr hoch, und dem häßlichen, kleinen Entlein wurde es sonderbar zu Mute; es drehte sich im Wasser wie ein Rad rund herum, streckte den Hals hoch in die Luft nach ihnen aus und stieß einen so lauten und sonderbaren Schrei aus, daß es sich selbst davor fürchtete. O, es konnte die schönen, die glücklichen Vögel nicht vergessen, und sobald es sie nicht mehr erblickte, tauchte es gerade bis auf den Grund, und als es wieder heraufkam, war es gerade wie außer sich. Es wußte nicht, wie die Vögel hießen, nicht, wohin sie flogen, aber doch war es ihnen gut, wie es nie jemand gewesen. Es beneidete sie durchaus nicht; wie konnte es ihm einfallen, sich solche Lieblichkeit zu wünschen! Es wäre schon froh gewesen, wenn die Enten es unter sich geduldet hätten, das arme, häßliche Tier!

Der Winter wurde immer kälter; das Entlein mußte im Wasser herumschwimmen, um das völlige Zufrieren desselben zu verhindern; aber in der Nacht wurde das Loch, worin es schwamm, kleiner und kleiner; es fror, sodaß es in der Eisdecke knackte; das Entlein mußte fortwährend die Beine gebrauchen, damit das Wasser sich nicht schloß; zuletzt wurde es matt, lag ganz still und fror so im Eise fest.

Des Morgens früh kam ein Landmann, der dies sah; er ging hin und schlug mit seinem Holzschuh das Eis in Stücke und trug das Entlein heim zu seiner Frau. Da wurde es wieder belebt.

Die Kinder wollten mit demselben spielen, aber das Entlein glaubte, sie wollten ihm etwas zu Leide thun, und fuhr in der Angst gerade in den Milchnapf hinein, sodaß die Milch in die Stube hinausspritzte; die Frau schrie, schlug die Hände zusammen, worauf es in das Butterfaß, dann hinunter in die Milchtonne und dann wieder aufflog. Wie sah es da aus! Die Frau schrie und schlug mit der Feuerzange darnach, die Kinder rannten einander über den Haufen, um das Entlein zu fangen; sie lachten und schrieen! Gut war es, daß die Thür aufstand und es zwischen die Reiser in den frischgefallenen Schnee schlüpfen konnte; da lag es, ganz ermattet.

Aber all' die Not und das Elend, welches das Entlein in dem harten Winter erdulden mußte, zu erzählen, würde zu trübe sein. Es lag im Moor, zwischen dem Rohre, als die Sonne wieder warm zu scheinen begann; die Lerchen sangen, es war herrlicher Frühling.

Da konnte auf einmal das Entlein seine Flügel schwingen, sie brausten stärker als früher und trugen es kräftig davon; und ehe dasselbe es recht wußte, befand es sich in einem großen Garten, wo die Äpfelbäume in Blüte standen, wo der Flieder duftete und seine langen, grünen Zweige gerade bis zu den gekrümmten Kanälen hinunter neigte. O, hier war es schön und frühlingsfrisch! Gerade vorn aus dem Dickicht kamen drei prächtige weiße Schwäne; sie brausten mit den Federn und schwammen leicht auf dem Wasser. Das Entlein kannte die prächtigen Tiere und wurde von einer eigentümlichen Traurigkeit befallen.

``Ich will zu ihnen hinfliegen, zu den königlichen Vögeln, und sie werden mich totschlagen, weil ich, da ich so häßlich bin, mich ihnen zu nähern wage; aber das ist ja gleichviel! Besser, von ihnen getötet, als von den Enten gezwackt, von den Hühnern geschlagen, von dem Mädchen, welches den Hühnerhof hütet, gestoßen zu werden und im Winter Mangel zu leiden.'' Es flog hinaus in das Wasser und schwamm den prächtigen Schwänen entgegen; diese erblickten es und schossen mit brausenden Federn auf dasselbe los. ``Tötet mich nur!'' sagte das arme Tier und neigte seinen Kopf der Wasserfläche zu und erwartete den Tod. Aber was erblickte es in dem klaren Wasser? Es sah sein eigenes Bild unter sich, das kein plumper, schwarzgrauer Vogel mehr, häßlich und garstig, sondern selbst ein Schwan war.

Es schadet nichts, in einem Entenhofe geboren zu sein, wenn man nur in einem Schwanenei gelegen hat.

Es fühlte sich ordentlich erfreut über all' die Not und die Drangsal, welche es erduldet; nun erkannte es erst sein Glück an all' der Herrlichkeit, die es begrüßte.

Die großen Schwäne umschwammen es und streichelten es mit dem Schnabel.

Im Garten kamen da einige kleine Kinder, die warfen Brot und Korn in das Wasser, und das kleinste rief: ``Da ist ein neuer!'' Und die anderen Kinder jubelten mit: ``Ja, es ist ein neuer angekommen!'' Sie klatschten mit den Händen und tanzten umher, liefen zum Vater und zu der Mutter, und es wurde Brot und Kuchen in das Wasser geworfen, und sie sagten alle: ``Der neue ist der schönste, so jung und so prächtig!'' Und die alten Schwäne neigten sich vor ihm.

Da fühlte er sich beschämt und steckte den Kopf unter seine Flügel; er wußte selbst nicht, was er beginnen sollte, er war allzu glücklich, aber durchaus nicht stolz; denn ein gutes Herz wird nie stolz! Er dachte daran, wie er verfolgt und verhöhnt worden war, und hörte nun alle sagen, daß er der schönste aller schönen Vögel sei; selbst der Flieder bog sich mit den Zweigen gerade zu ihm in das Wasser hinunter, und die Sonne schien warm und mild. Da brausten seine Federn, der schlanke Hals hob sich und aus vollem Herzen jubelte er: ``So viel Glück habe ich mir nicht träumen lassen, als ich noch das häßliche Entlein war!''

Die Nachbarfamilien

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\AMsection{Die Nachbarfamilien}

Man hätte wahrlich glauben mögen, daß in dem Dorfteiche etwas im Werke sei, aber da irrte man sich! Alle Enten, wie sie gerade auf dem Wasser lagen, oder auf dem Kopfe standen, denn das konnten sie, schwammen auf einmal an das Land; im nassen Lehmboden konnte man die Spuren von ihren Füßen sehen und sie schon von weitem schreien hören. Das Wasser kam stark in Bewegung, kurz zuvor war es hell wie ein Spiegel, man erblickte darin jeden Baum, jeden Busch in der Nähe, und das alte Bauernhaus mit den Löchern im Giebel und dem Schwalbenneste, aber namentlich den großen Rosenstrauch voller Blumen, welcher von der Mauer über das Wasser hinaus hing, und das Ganze stand gleich einem Gemälde darin, aber alles auf dem Kopfe. Als das Wasser aber unruhig wurde, da lief das eine in das andere, das ganze Bild war fort. Zwei Entenfedern, die den auffliegenden Enten entfielen, schaukelten auf und nieder, gerade, als ob es windig wäre; aber es war gar kein Wind, und dann lagen sie stille, das Wasser wurde wieder spiegelglatt. Man sah deutlich den Giebel mit dem Schwalbenneste und erblickte den Rosenstock; jede Rose spiegelte sich, sie waren sehr schön, aber sie selbst wußten es nicht, denn niemand hatte es ihnen gesagt. Die Sonne schien zwischen die feinen Blätter hinein, die mit Duft gefüllt waren; und es war einer jeden Rose gerade wie es uns ist, wenn wir, in Gedanken versunken, uns recht glücklich fühlen.

``Wie schön ist das Dasein!'' sagte jede Rose. ``Das einzige, was ich wünschen möchte, wäre, daß ich die Sonne küssen könnte, weil sie so warm und klar ist. --- Ja, die Rosen dort unten im Wasser möchte ich auch küssen; sie gleichen uns ganz genau. Ich möchte die süßen, jungen Vögel dort unten im Neste küssen; ja es giebt auch viele oben über uns; sie stecken die Köpfe heraus und piepen ganz leise, sie haben gar keine Federn, wie ihr Vater und ihre Mutter. Das sind gute Nachbarn, die wir haben, sowohl die über, wie die unter uns. O, wie schön ist das Dasein!''

Die kleinen Jungen oben und unten --- die unten waren nur der Wiederschein im Wasser --- waren Sperlinge, Vater und Mutter waren Sperlinge; sie hatten das verlassene Schwalbennest vom vorigen Jahre eingenommen, in diesem lagen sie und waren zu Hause.

``Sind das Entenkinder, die dort schwimmen?'' fragten die jungen Sperlinge, als sie die Entenfedern auf dem Wasser treiben sahen.

``Fragt vernünftig!'' sagte die Mutter. ``Seht Ihr denn nicht, daß es Federn sind, lebendiges Kleiderzeug, wie ich es habe und wie Ihr es bekommen werdet, aber unseres ist feiner! Ich wollte übrigens, wir hätten sie hier oben im Neste, denn sie wärmen. Ich möchte wissen, worüber die Enten so erschraken! Da muß etwas im Wasser gewesen sein, denn ich war es sicher nicht, obgleich ich freilich etwas laut `Piep' zu Euch sagte! Die dickköpfigen Rosen müßten es wissen, aber die wissen gar nichts, die sehen sich nur selbst an und riechen. Es sind mir recht langweilige Nachbarn!''

``Hört die lieben, kleinen Vögel dort oben!'' sagten die Rosen, ``sie wollen jetzt auch anfangen zu singen! --- Sie verstehen es noch nicht recht, aber es wird schon kommen! --- Was das für ein großes Vergnügen sein muß! Es ist recht ergötzlich, solche lustige Nachbarn zu haben!''

Gleichzeitig kamen zwei Pferde im Galopp an, sie sollten getränkt werden; ein Bauernknabe saß auf dem einen, und er hatte alle seine Kleider, seinen schwarzen, großen und breiten Hut ausgenommen, abgelegt. Der Knabe pfiff gerade, als wenn er ein kleiner Vogel wäre, und ritt dann in die tiefste Stelle des Teiches; und als er zum Rosenstock herüber kam, riß er eine der Rosen ab und steckte sie auf den Hut, so glaubte er recht geputzt zu sein, und ritt dann damit fort. Die andern Rosen blickten ihrer Schwester nach und fragten einander: ``Wohin reist sie?'', aber das wußte keine.

``Ich möchte wohl in die Welt hinaus!'' sagte die eine Rose zur andern; ``aber hier zu Hause in unserm eigenen Grünen ist es auch schön! Am Tage scheint die Sonne warm und nachts glänzt der Himmel noch schöner; das können wir durch die vielen, kleinen Löcher sehen, die darin sind!''

Das waren die Sterne, von denen sie glaubten, jeder sei ein Loch; die Rosen wußten es nicht besser!

``Wir beleben ringsum das Haus,'' sagte die Sperlingsmutter, ``und Schwalbennester bringen Glück, sagen die Leute, deshalb freuen sie sich, uns zu haben. Aber jene Nachbarn dort, so ein ganzer Rosenstrauch an der Mauer hinauf, verursacht Feuchtigkeit. Ich hoffe, er wird wohl fortgeschafft werden, dann kann doch Korn da wachsen. Rosen sind nur zum Ansehen und daran zu riechen, oder höchstens sie auf den Hut zu stecken. Jedes Jahr, das weiß ich von meiner Mutter, fallen sie ab, die Bauerfrau legt sie mit Salz ein, sie bekommen einen französischen Namen, den ich nicht aussprechen kann, und um den ich mich auch nicht kümmere; und dann werden sie aufs Feuer gestreut, wenn es gut riechen soll. Sieh! das ist nun ihr Lebenslauf! Sie sind zu nichts als für Augen und Nase da. Nun wißt Ihr es!''

Als es Abend wurde und die Mücken in der warmen Luft tanzten, wo die Wolken schön rot waren, kam die Nachtigall und sang den Rosen vor, daß das Schöne dem Sonnenschein in dieser Welt gleiche, und das Schöne ewig lebe. Die Rosen aber glaubten, daß die Nachtigall sich selbst besinge, und das konnte man ja auch denken. Es fiel ihnen gar nicht ein, daß sie es waren, denen der Gesang galt, sie freuten sich aber darüber und sannen nach, ob nicht alle die jungen Sperlinge auch zu Nachtigallen werden könnten.

``Ich verstand sehr wohl, was der Vogel sang!'' sagten die jungen Sperlinge; ``da war nur ein Wort, welches ich mir nicht erklären kann: Was ist das Schöne?''

``Das ist nichts,'' sagte die Sperlingsmutter, ``das ist nur so ein Schein. Oben auf dem Rittergute, wo die Tauben ihr eigenes Haus haben und jeden Tag Erbsen und Korn in den Hof gestreut bekommen --- ich habe mit ihnen gegessen und dazu sollt Ihr auch gelangen: Sage mir, mit wem Du umgehst, und ich werde Dir sagen, wer Du bist --- dort oben auf dem Herrengute halten sie zwei Vögel mit grünen Hälsen und einem Kamm auf dem Kopfe; ihr Schweif kann sich ausbreiten, als wäre er ein großes Rad, und er hat alle Farben, sodaß einem die Augen schmerzen, Pfaue werden sie genannt, und sie sind das Schöne! Sie sollten ein wenig gerupft werden, dann würden sie nicht anders aussehen, als die andern. Ich würde sie gebissen haben, wenn sie nicht so groß gewesen wären!''

``Ich will sie beißen!'' sagte der kleinste der jungen Sperlinge, und er hatte noch keine Federn.

Im Bauernhofe wohnten zwei junge Leute, die liebten sich sehr, waren recht fleißig und flink, und es sah niedlich bei ihnen aus. Am Sonntagmorgen kam die junge Frau heraus, nahm eine ganze Hand voll der schönsten Rosen, stellte sie in ein Wasserglas und setzte dieses mitten auf den Schrank.

``Nun sehe ich, daß es Sonntag ist!'' sagte der Mann, küßte seine liebe Frau, und dann setzten sie sich nieder, lasen einen Psalm, hielten einander bei den Händen, und die Sonne schien zu den Fenstern hinein auf die frischen Rosen und auf die jungen Leute.

``Dieser Anblick langweilt mich!'' sagte die Sperlingsmutter, welche aus dem Neste gerade in die Stube hineinsah; und dann flog sie davon.

Dasselbe that sie am folgenden Sonntage, denn jeden Sonntag wurden frische Rosen in das Glas gestellt, und immer blühte die Rosenhecke gleich schön. Die jungen Sperlinge, welche jetzt Federn bekommen hatten, wollten gern mitfliegen, aber die Mutter sagte: ``Ihr bleibt hier!'' und so blieben sie. --- Sie flog, doch wie es sich nun auch zugetragen haben mag, genug, auf einmal hing sie in einer Vogelschlinge aus Pferdehaaren, welche einige Knaben an einen Zweig befestigt hatten. Die Pferdehaare schlangen sich fest um das Bein zusammen, so fest, als ob es zerschnitten werden sollte. Das war eine Pein, das war ein Schreck; die Knaben sprangen darauf zu und ergriffen den Vogel, und sie griffen ihn schrecklich hart an. ``Das ist nichts weiter als ein Sperling!'' sagten sie, aber sie ließen ihn doch nicht wieder fliegen, sie gingen mit demselben nach Hause, und jedesmal, wenn er schrie, schlugen sie ihn auf den Schnabel.

Im Bauernhof stand ein alter Mann, welcher Seife zum Bart und zu den Händen, Seife in Kugeln und Seife in Stücken anzufertigen verstand. Es war ein herumwandernder, lustiger Alter und als er den Sperling erblickte, mit welchem die Knaben daherkamen, und aus dem, wie sie sagten, sie sich nichts machten, fragte er: ``Wollen wir ihn schön machen?'' Und es schauerte der Sperlingsmutter, als er das sagte. Aus seinem Kasten, worin die schönsten Farben lagen, nahm er darauf eine ganze Menge glänzendes Schaumgold, die Knaben mußten ein Ei herbeischaffen, davon nahm er das Weiße und bestrich den ganzen Vogel damit. Dann klebte er Schaumgold darauf, so war die Sperlingsmutter vergoldet, sie aber dachte nicht an den Staat, sie zitterte an allen Gliedern. Und der Seifenmann nahm einen roten Lappen, er riß ihn aus dem Futter seiner alten Jacke, schnitt den Lappen zu einem gezackten Hahnenkamme aus und klebte denselben auf den Kopf des Vogels fest.

``Jetzt sollt Ihr den Goldvogel fliegen sehen!'' sagte er und ließ den Sperling los, welcher in der schrecklichsten Angst in dem klaren Sonnenschein dahinflog. Nein, wie der glänzte! Alle Sperlinge, ja sogar eine große Krähe, und zwar nicht eine von diesem Jahre, wurden ganz erschrocken über diesen Anblick, aber sie flogen doch hinterdrein, denn sie wollten wissen, was das für ein fremder Vogel sei.

``Woher? Woher?'' schrie die Krähe.

``Wart' ein bißchen! wart' ein bißchen!'' sagten die Sperlinge. Aber sie wollte nicht warten; von Angst und Schrecken ergriffen, flog sie nach Hause; sie war nahe daran, ermattet zur Erde zu sinken und immer kamen mehr Vögel hinzu, kleine und große; einige flogen gerade auf sie zu, um auf sie loszuhacken. ``Seht den! Seht den!'' schrieen alle.

``Seht den! Seht den!'' schrieen die Jungen, als sie auf das Nest zukam. ``Das ist gewiß ein junger Pfau, da sind alle Farben, welche in die Augen stechen, wie die Mutter sagte. Piep! Das ist das Schöne!'' Dann hackten sie mit ihren kleinen Schnäbeln, sodaß es ihr nicht möglich war, hineinzuschlüpfen, und sie war vor Schrecken so ermattet, daß sie nicht mehr ``Piep'', viel weniger: ``Ich bin ja Eure Mutter!'' sagen konnte. Die andern Vögel hackten nun alle auf sie ein, sodaß sie alle Federn verlor, und blutig sank die Sperlingsmutter in den Rosenstrauch hinab.

``Das arme Tier!'' sagten die Rosen. ``Komm, wir wollen Dich verbergen! Lehne Dein Köpfchen an uns an!''

Die Sperlingsmutter breitete noch einmal die Flügel aus, drückte sie dann wieder fest an sich, und war bei der Nachbarfamilie, den frischen, schönen Rosen, gestorben.

``Piep!'' sagten die jungen Sperlinge im Neste, ``wo nur die Mutter bleiben mag, das kann ich gar nicht begreifen. Es soll doch nicht etwa ein Pfiff von ihr sein, damit wir uns selbst ernähren und für uns sorgen sollen? Das Haus hat sie uns als Erbteil hinterlassen, aber wer von uns soll es allein besitzen, wenn wir Familie bekommen?''

``Ja, ich kann Euch anderen nicht hier behalten, wenn ich mein Hauswesen mit Frau und Kindern erweitere!'' sagte der kleinste.

``Ich bekomme wohl mehr Frauen und Kinder als Du!'' sagte der zweite.

``Ich bin der älteste!'' sagte ein dritter. Alle fingen an, sich zu schelten, sie schlugen mit den Flügeln, hackten mit den Schnäbeln, und bums, wurde das eine nach dem andern aus dem Neste gepufft. Da lagen sie, und böse waren sie noch; den Kopf hielten sie ganz auf die eine Seite und blinzelten mit dem Auge, welches nach oben gekehrt war; das war so ihre Art zu schmollen.

Ein wenig konnten sie fliegen, und dann übten sie sich noch etwas mehr, und zuletzt kamen sie überein, daß sie, um sich wieder zu erkennen, wenn sie sich später in der Welt begegnen sollten, Piep! sagen und dreimal mit dem linken Fuß kratzen wollten.

Der Junge, welcher im Nest zurückgeblieben war, machte sich so breit, wie er nur konnte, er war ja nun Hauseigentümer, aber lange währte es nicht. --- In der Nacht leuchtete das rote Feuer durch die Fenster, die Flammen schlugen unter dem Dache hervor, das dürre Stroh loderte auf, das ganze Haus verbrannte, und der junge Sperling mit, die jungen Leute aber kamen glücklich davon.

Als die Sonne am nächsten Morgen wieder aufgegangen war und alles wie nach einem sanften Nachtschlaf erquickt schien, war von dem Bauernhofe weiter nichts übrig geblieben, als einige schwarze, verkohlte Balken, die sich gegen den Schornstein anlehnten, der nun sein eigener Herr war. Aus dem Grunde erhob sich noch starker Rauch, aber vor demselben stand frisch und blühend der ganze Rosenstrauch, der jeden Zweig und jede seiner Blumen in dem ruhigen Wasser spiegelte.

``Wie schön stehen die Rosen vor dem abgebrannten Hause!'' rief ein Mann, welcher daherkam, aus. ``Das ist das lieblichste kleine Bild, das muß ich haben!'' Der Mann zog aus der Tasche ein kleines Buch mit weißen Blättern hervor, und nahm seine Bleifeder, denn er war ein Maler, und zeichnete dann den rauchenden Schutt, die verkohlten Balken gegen den überhängenden Schornstein, denn dieser neigte sich mehr und mehr, aber vorn stand der große, blühende Rosenstrauch, der war wahrhaftig schön und war ja auch allein Veranlassung, daß das Ganze gezeichnet wurde.

Später am Tage kamen zwei Sperlinge vorbei, die hier geboren waren. ``Wo ist das Haus?'' sagten sie. ``Wo ist das Nest? --- Piep! Alles ist verbrannt und unser starker Bruder ist mit umgekommen; das hatte er davon, daß er das Nest behielt. --- Die Rosen sind gut davon gekommen, die stehen noch mit roten Wangen da. Sie trauern also nicht über des Nachbars Unglück. Ich spreche nicht mit ihnen, und häßlich ist es hier, das ist meine Meinung!'' Dann flogen sie fort.

Spät im Herbst gab es einen schönen, sonnenhellen Tag, man hätte glauben können, man sei noch mitten im Sommer. Es war trocken und rein im Hofe vor der großen Treppe beim Edelmann, und da gingen die Tauben, sowohl schwarze als weiße und bunte, sie glänzten im Sonnenschein und die alten Taubenmütter sagten zu den Jungen: ``Steht in Gruppen, Kinder! Steht in Gruppen, Kinder!'' denn so nahmen sie sich weit besser aus.

``Was ist das kleine graue, was hier zwischen uns herumläuft?'' fragte die alte Taube, welche rot und grün in den Augen hatte. ``Kleine Graue, kleine Graue!'' sagte sie.

``Das sind Sperlinge, gute Tierchen! Wir haben stets in dem Ruf gestanden, gutmütig zu sein, darum wollen wir ihnen auch gestatten, etwas mit aufzulesen! --- Sie sprechen nicht mit und kratzen so niedlich mit dem Fuße.''

Ja, sie kratzten, dreimal kratzten sie mit dem linken Fuße, aber sie sagten auch piep! Und dann erkannten sie sich; es waren drei Sperlinge vom abgebrannten Hause.

``Hier ist außerordentlich gut fressen!'' sagten die Sperlinge. Und die Tauben gingen um einander herum, brüsteten sich und hatten ihre Ansicht inwendig.

``Siehst Du die Kropftaube?'' sagte die eine Taube zu der andern. ``Siehst Du, wie sie Erbsen verschluckt? Sie bekommt zu viel; sie bekommt die besten! Kurr, kurr! Siehst Du, wie die da kahl im Kamme wird, siehst Du das häßliche, das boshafte Tier? Kurre kurre!'' Und ganz rot funkelten aller Augen vor Bosheit. ``Steht in Gruppen, steht in Gruppen! Kleine Graue, kleine Graue! Kurre, kurre, kurre!'' So ging es in einem fort unter den sanften Tauben und Täubchen, und so geht es wohl noch nach tausend Jahren.

Die Sperlinge fraßen gut, und sie hörten gut, ja, sie stellten sich sogar mit auf, aber das stand ihnen nicht gut. Zuletzt waren sie satt und gingen von den Tauben weg und äußerten gegenseitig ihre Meinung über dieselben, hüpften dann unter den Gartenzaun, und da die Thür zum Gartenzimmer offen stand, hüpfte der eine auf die Thürschwelle, er war übersatt und deshalb mutig. ``Piep!'' sagte er; ``das wage ich!'' --- ``Piep!'' sagte der zweite, ``das wage ich auch, und noch etwas mehr!'' Und dann hüpfte er in das Zimmer hinein. Es befanden sich keine Leute darin, das sah der dritte wohl, und dann flog er noch weiter in das Zimmer hinein und sagte: ``Ganz oder gar nicht! Dies ist übrigens ein sonderbares Menschennest, und was ist hier aufgestellt, was ist das?''

Gerade vor den Sperlingen blühten die Rosen, sie spiegelten sich im Wasser, und die verkohlten Balken lagen gegen den gebrechlichen Schornstein! --- Wie war doch das, und wie kam das in das Zimmer des Rittergutes?

Alle drei Sperlinge wollten über die Rosen und den Schornstein hinfliegen, aber ihr Flug wurde gehemmt, es war eine flache Wand, gegen die sie anflogen. Das Ganze war ein Gemälde, ein großes, prächtiges Stück, welches der Maler nach seiner kleinen Zeichnung gemacht hatte.

``Piep!'' sagten die Sperlinge, ``es ist nichts, es sieht nur so aus! Piep! Das ist das Schöne! Kannst Du das begreifen? Ich kann es nicht!'' Und dann flogen sie davon, denn es kamen Menschen in das Zimmer.

Nun vergingen Jahr und Tag, die Tauben hatten vielmal gekurrt, um nicht zu sagen geknurrt, die boshaften Tiere. Die Sperlinge hatten den Winter über gefroren und den Sommer hindurch lustig gelebt; sie waren alle verlobt oder verheiratet. Junge hatten sie, und das eines jeden war natürlich das schönste und klügste von allen; der eine flog hierhin, der andere dorthin, und begegneten sie sich, dann erkannten sie sich gegenseitig am: ``Piep!'' und dem dreimaligen Kratzen mit dem linken Fuße. Die älteste von ihnen war nun ein altes Sperlingsfräulein, sie hatte kein Nest und auch keine Jungen; sie wollte gern einmal nach einer großen Stadt, und darum flog sie nach Kopenhagen.

Da lag ein großes Haus mit vielen Farben dicht beim Schlosse und am Kanal, wo sich Schiffe mit Äpfeln und Töpfen befanden. Die Fenster waren unten breiter als oben, und guckten die Sperlinge da hinein, so war eine jede Stube, wie es ihnen vorkam, gerade als ob sie in eine Tulpe hineinblickten, sie sahen alle möglichen Farben und Schnörkel; und mitten in der Tulpe standen weiße Menschen, die waren von Marmor, einige von ihnen waren auch von Gips, doch für Sperlingsaugen bleibt sich das gleich. Oben auf dem Hause stand ein Metallwagen mit Metallpferden davor, und die Siegesgöttin, auch von Metall, lenkte sie. Es war Thorwaldsens Museum.

``Wie das glänzt, wie das glänzt!'' sagte das Sperlingsfräulein, ``das ist sicher das Schöne. Piep! Hier ist es doch größer als ein Pfau!'' Sie gedachte von ihrer Kindheit her, was das größte Schöne sei, welches ihre Mutter gekannt hatte. Und sie flog gerade in den Hof hinab; dort war es auch prächtig, da waren Palmen und Zweige an die Mauern gemalt, und mitten im Hof stand ein großer, blühender Rosenstrauch, der breitete seine frischen Zweige mit den vielen Rosen über ein Grab hin. Sie flog dorthin, wo mehrere Sperlinge gingen. ``Piep!'' und drei Kratze mit dem linken Fuß; diesen Gruß hatte sie manchesmal in Jahr und Tag gemacht, und keiner hatte ihn verstanden, denn die, welche einmal getrennt sind, treffen sich nicht an jedem Tage wieder. Dieser Gruß war ihr aber zur Gewohnheit geworden, und heute waren da zwei alte und ein junger Sperling, welche ``Piep!'' sagten und mit dem linken Fuße schabten.

``Ei, sieh, guten Tag, guten Tag!'' Es waren drei alte aus dem Sperlingsneste und noch ein kleiner zur Familie gehörender. ``Treffen wir uns hier?'' sagten sie. ``Das ist ein vornehmer Ort, aber hier ist nicht viel zu fressen. Das ist das Schöne! Piep!''

Da kamen viele Leute aus den Seitengemächern, wo die prächtigen Marmorgestalten standen, und sie gingen nach dem Grabe, welches den großen Meister barg, der die Marmorbilder gemacht hatte, und alle, die da kamen, standen mit leuchtendem Antlitz um Thorwaldsens Grab. Einzelne sammelten die abgefallenen Rosenblätter auf und bewahrten diese. Da waren Leute aus weiter Entfernung, sie kamen aus England, aus Deutschland und Frankreich; und die schönste Dame nahm eine der Rosen und barg sie an ihrem Busen. Da glaubten die Sperlinge, daß die Rosen hier regierten, daß das Haus ihretwegen gebaut sei, und das schien ihnen freilich etwas zu viel zu sein; da aber die Menschen alle viel Liebe für die Rosen zeigten, so wollten sie nicht zurückstehen. ``Piep!'' sagten sie, und fegten den Fußboden mit ihren Schwänzen und blinzelten mit dem einen Auge nach den Rosen; kaum sahen sie hin, so hatten sie sich überzeugt, daß es die alten Nachbarn seien, und das waren sie auch. Der Maler, welcher den Rosenstrauch neben dem alten, abgebrannten Bauernhofe zeichnete, hatte später gegen Ende des Jahres die Erlaubnis erhalten, denselben auszugraben, und hatte ihn dann dem Baumeister gegeben, denn schönere Rosen waren nirgends zu finden; der Baumeister hatte sie auf Thorwaldsens Grab gesetzt, wo sie, als Bild des Schönen, blühten und feine, rote, duftende Blätter gaben, die zur Erinnerung nach fernen Landen getragen wurden.

``Habt Ihr hier in der Stadt eine Anstellung erhalten?'' fragten die Sperlinge. Und die Rosen nickten, sie erkannten die grauen Nachbarn und freuten sich, sie wieder zu sehen.

``Wie schön es doch ist, zu leben und zu blühen, alte Freunde und Bekannte zu sehen, und jeden Tag freundliche Gesichter zu erblicken! Hier ist es gerade, als ob jeder Tag ein großer, herrlicher Festtag wäre!''

``Piep!'' sagten die Sperlinge, ``ja, das sind die alten Nachbarn; ihrer Abstammung von dem Dorfteiche entsinnen wir uns. Piep! Wie die zu Ehren gelangt sind! Manche kommen auch im Schlafe dazu. Was an so einem roten Klumpen Schönes ist, weiß ich nicht! --- Und da sitzt doch ein vertrocknetes Blatt, denn das sehe ich ganz genau!''

Dann pickten sie daran, bis das Blatt abfiel, und frischer und grüner stand der Strauch, und die Rosen dufteten im Sonnenschein auf Thorwaldsens Grab, an dessen unsterblichen Namen sich ihre Schönheit anschloß.

Der Flaschenhals

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\AMsection{Der Flaschenhals}

In der engen, krummen Straße zwischen ärmlichen Häusern stand ein schmales, hohes Haus aus Fachwerk, das schon überall aus den Fugen ging. Arme Leute wohnten hier, und am ärmlichsten sah es in der Dachkammer aus, wo vor dem kleinen Fenster im Sonnenschein, ein altes verbeultes Vogelbauer hing, das nicht einmal ein ordentliches Trinknäpfchen hatte, sondern nur einen umgekehrten Flaschenhals mit einem Pfropfen unten. So ließ er sich mit Wasser füllen. Ein altes Mädchen stand an dem offenen Fenster, sie hatte eben den Käfig mit Vogelmiere geschmückt, in dem ein kleiner Hänfling von Stange zu Stange hüpfte und sang, daß es schallte.

``Ja, Du hast gut singen!'' sagte der Flaschenhals. Freilich sagte er es nicht so, wie wir es sagen können, denn ein Flaschenhals kann ja nicht sprechen, aber er dachte es in der Art bei sich, wie wir Menschen auch mit uns selbst sprechen. ``Ja, Du hast gut singen, Du hast Deine ganzen Glieder. Du solltest einmal in meiner Lage sein, Deinen Unterleib verlieren und nur noch Hals und Mund übrig behalten, noch dazu mit einem Pfropfen darin, dann würdest Du nicht singen. Aber es ist doch gut, daß wenigstens einer vergnügt ist. Ich habe keinen Grund zum Singen, und ich kann es auch nicht. Damals, als ich noch eine ganze Flasche war, konnte ich es, wenn man einen Pfropfen gegen mich rieb. Damals wurde ich die wahre Lerche, die große Lerche genannt! --- Und dann damals, als ich mit der Kürschnersfamilie im Walde war, und die Tochter sich verlobte --- ja, daran erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen! Ich habe doch viel erlebt, wenn ich es überdenke! Ich bin durch Feuer und durch Wasser gegangen, unten in der schwarzen Erde bin ich gewesen, und weiter in die Höhe hinauf gekommen als die Meisten, und nun schwebe ich draußen vor dem Vogelbauer in Luft und Sonnenschein. Es wäre wohl der Mühe wert, meine Geschichte zu hören, aber ich spreche nicht laut darüber, denn das kann ich nicht.''

Und so erzählte sie sich, oder vielmehr, dachte sie sich ihre Geschichte, die merkwürdig genug war. Und der kleine Vogel sang lustig sein Liedchen, und unten auf der Straße fuhr man und ging man, jeder dachte an sich oder an überhaupt gar nichts, aber das tat der Flaschenhals.

Er dachte zurück an den flammenden Schmelzofen in der Fabrik, wo er ins Leben geblasen wurde. Er erinnerte sich noch, daß er ganz warm gewesen war und, als er in den glühenden Ofen hineingeschaut hatte, die größte Lust verspürt hatte, gerade wieder hineinzuspringen, sich aber später nach und nach, je nach dem Grade seiner Abkühlung, recht wohl befunden hatte, wo er war. Er stand in Reih und Glied in einem ganzen Regiment von Brüdern und Schwestern, alle aus demselben Ofen, aber einige waren zu Champagnerflaschen geblasen worden, andere zu Bierflaschen, und das ist ein Unterschied. Später in der Welt draußen kann freilich eine Bierflasche den köstlichsten Lacrimae Christi in dich fassen und eine Champagnerflasche mit Wichse gefüllt sein, aber wozu man geboren ist, kann man doch am Äußeren erkennen; Adel bleibt Adel, selbst mit Wichse im Leibe.

Bald wurden alle Flaschen eingepackt und unsere Flasche mit. Damals dachte sie noch nicht daran, daß sie einst als Flaschenhals enden würde, um sich nach und nach zu einem Vogelnäpfchen herauf zu dienen, was doch immerhin ein ehrlicher Beruf ist; man ist doch etwas. Sie sah erst das Tageslicht wieder, als sie mit anderen Kameraden im Keller eines Weinhändlers ausgepackt und das erste Mal gespült wurde; das war ein wunderliches Gefühl. Da lag sie nun leer und ohne Pfropfen und fühlte sich so merkwürdig flau. Es fehlte ihr etwas, aber sie wußte selbst nicht, was es war. Nun wurde sie mit einem guten, herrlichen Wein gefüllt; sie bekam einen Pfropfen, wurde mit Lack geschlossen und bekam die Aufschrift: ``Prima Sorte'', das war gerade, als habe sie beim Examen die beste Nummer erhalten. Aber der Wein war gut, und die Flasche war auch gut. Ist man jung, so ist man Lyriker, es sang und klang in ihr von Dingen, die ihr ganz unbekannt waren, von grünen, sonnigen Bergen, wo der Wein wächst und muntere Mädchen und fröhliche Burschen singen und sich küssen. Ja, es ist herrlich, zu leben! Von alledem sang und klang es in der Flasche wie in jungen Dichtern, die oft auch nichts von dem wissen, was sie besingen.

Eines Morgens wurde sie gekauft. Der Laufbursche des Kürschners sollte eine Flasche Wein vom besten bringen, und so kam sie in den Eßkorb zu Schinken. Käse und Wurst; dort gab es die herrlichste Butter, das feinste Brot. Die Kürschnerstochter selbst packte sie ein, sie war so jung, so schön; die braunen Augen lachten, ein Lächeln lag um ihren Mund, das ebenso sprechend war wie die Augen. Sie hatte feine weiche Hände; so weiß waren sie, doch Hals und Brust waren weißer noch, man konnte sogleich sehen, daß sie eins der hübschesten Mädchen in der Stadt war, und doch war sie noch nicht verlobt.

Der Eßkorb stand auf ihrem Schoß, als die Familie in den Wald hinaus fuhr. Der Flaschenhals lugte unter den Zipfeln des weißen Tuches hervor. Der Pfropfen war mit rotem Lack verziert und sie schaute gerade in des jungen Mädchens Antlitz; sie sah auch den jungen Steuermann an, der an des Mädchens Seite saß. Er war ihr Jugendfreund, der Sohn eines Porträtmalers. Vor kurzem hatte er seine Steuermannsprüfung mit Ehren bestanden und sollte morgen mit seinem Schiffe fort nach fremden Ländern fahren; hiervon war schon während des Einpackens viel die Rede gewesen, und während davon gesprochen wurde, war just nicht viel Vergnügen in den Augen und um den Mund der schönen Kürschnerstochter zu sehen gewesen.

Die beiden jungen Leute gingen in den grünen Wald und sprachen zusammen --- wovon sprachen sie wohl? Ja, das hörte die Flasche nicht, sie stand noch immer im Eßkorb. Es dauerte merkwürdig lange, bis sie hervorgeholt wurde. Als es jedoch nun geschah, hatten sich auch erfreuliche Dinge ereignet. Aller Augen lachten und auch die Kürschnerstochter lachte, aber sie sprach weniger als zuvor, und ihre Wangen glühten wie zwei rote Rosen.

Der Vater nahm die gefüllte Flasche und den Korkenzieher. --- Ja, es ist ein wunderliches Gefühl, so zum ersten Male geöffnet zu werden. Der Flaschenhals konnte seitdem niemals mehr diesen feierlichen Augenblick vergessen; es hatte ordentlich ``Schwupp'' in ihm gesagt, als der Pfropfen herausging, und dann gluckte es, als der Wein hinaus in die Gläser strömte.

``Den Verlobten zum Wohle'' sagte der Vater; jedes Glas wurde bis zur Neige geleert und der Steuermann küßte seine schöne Braut.

``Glück und Segen!'' sagten die beiden Alten, und der junge Mann füllte die Gläser noch einmal: ``Auf Heimkehr und Hochzeit heut übers Jahr'' rief er, und als die Gläser geleert waren, ergriff er die Flasche, hob sie hoch empor und sagte: ``Du bist am schönsten Tage meines Lebens mit dabei gewesen, weiter sollst Du keinem dienen!''

Dabei warf er sie hoch empor. Damals dachte die Kürschnerstochter nicht daran, daß sie sie wiedersehen sollte, aber sie sollte es. Die Flasche fiel in das dichte Schilf an dem kleinen Waldsee. Der Flaschenhals erinnerte sich so lebhaft daran, als sei es heute geschehen, wie er dort im Schilfe gelegen und nachgedacht hatte: ``Ich gab ihnen Wein und sie geben mir Sumpfwasser, aber es war gutgemeint!'' Er konnte die Verlobten und die fröhlichen Alten nicht mehr sehen, aber noch lange hörte er sie jubilieren und singen. Dann kamen zwei kleine Bauernjungen, guckten zwischen das Schilf, erblickten die Flasche und nahmen sie mit; nun war sie versorgt.

Daheim in dem Waldhäuschen, wo sie wohnten, war gestern ihr ältester Bruder, der Seemann, gewesen und hatte Lebewohl gesagt, da er auf eine größere Reise gehen sollte. Die Mutter stand nun und packte noch ein und das andere ein, womit der Vater am Abend in die Stadt gehen sollte, um den Sohn noch einmal vor der Abreise zu sehen und ihm seinen und der Mutter Gruß zu bringen. Eine kleine Flasche mit Kräuterbranntwein war in das Päckchen gelegt worden, doch nun kamen die Knaben mit der größeren Flasche, die sie gefunden hatten. Dorthinein ging mehr als in die kleine, und außerdem war es doch ein so guter Schnaps gegen verdorbenen Magen; er war auf hypericum abgezogen. Es war kein roter Wein, wie zuvor, den die Flasche nun bekam, sie bekam gar bittere Tropfen, aber die sind auch gut --- für den Magen. Die neue Flasche sollte mit, nicht die kleine --- so kam die Flasche wieder auf die Wanderschaft, und sie kam an Bord zu Peter Jensen; das war gerade das gleiche Schiff, auf dem auch der junge Steuermann war. Aber er sah die Flasche nicht, er hätte sie wohl auch nicht wiedererkannt oder daran gedacht, daß es dieselbe sein könne, woraus er auf Verlobung und Heimkehr getrunken hatte.

Freilich war kein Wein mehr darin, aber etwas ebenso Gutes. Sie wurde auch jedesmal, wenn Peter Jensen sie hervorholte, ``Der Apotheker'' genannt. Aus ihr schenkte man die gute Medizin, die dem Magen half, und sie half solange, wie noch ein Tropfen darin war. Das war eine fröhliche Zeit, und die Flasche sang, wenn man sie mit dem Pfropfen rieb; damals bekam sie auch den Namen der wahren Lerche, ``Peter Jensens Lerche.''

Lange Zeit war vergangen, sie stand leer in einer Ecke, da geschah es --- ob es auf der Hinreise oder Rückreise war, wußte die Flasche nicht so genau, denn sie war nicht mit an Land gewesen --- da erhob sich ein Sturm; hohe Seen, schwarz und schwer, wälzten sich heran, sie hoben das Fahrzeug mit sich empor und schleuderten es wieder hinab. Eine Sturzsee schlug eine Planke ein, die Pumpen konnten nichts mehr ausrichten; es war stockfinstere Nacht und das Schiff sank Aber in der letzten Minute schrieb der junge Steuermann auf ein Blatt: ``In Jesu Namen. Wir sinken!' Er schrieb den Namen seiner Braut, den seinen und den des Schiffes darauf, steckte den Zettel in eine leere Flasche, die da stand, drückte den Pfropfen fest hinein und warf die Flasche hinaus in das stürmende Meer.

Er wußte nicht, daß es die Flasche war, woraus einst der Hoffnung und der Freude Wohl getrunken worden war für ihn und für sie; nun schaukelte sie auf den Wellen mit einem Gruß und einer Todesbotschaft.

Das Schiff sank, die Mannschaft sank aber die Flasche flog wie ein Vogel, sie hatte ja ein Herz, einen Liebesbrief in sich. Und die Sonne ging auf und sie ging unter; es war für die Flasche fast ebenso anzusehen, wie der rote, glühende Ofen ihrer Jugend, und sie hatte Sehnsucht, wieder hineinzufliegen. Sie trieb in Windstille und neuen Stürmen dahin, doch stieß sie an keine Felsenklippe, kein Hai verschluckte sie; länger als Jahr und Tag trieb sie umher, bald nach Nord, bald nach Süd, wie die Strömung sie führte. Im übrigen war sie ihr eigener Herr, aber auch dessen kann man überdrüssig werden.

Das beschriebene Blatt, das letzte Lebewohl des Bräutigams an die Braut, sollte nur Trauer bringen, wenn es dereinst in die rechten Hände geriet. Aber wo waren die Hände, die so weiß geleuchtet hatten, als sie das Tuch in das frische Gras im grünen Walde ausgebreitet hatten am Verlobungstage? Wo war des Kürschners Tochter? Ja, wo war das Land, und welches Land war wohl das nächste? Die Flasche wußte es nicht; sie trieb und trieb und wurde schließlich des Treibens müde; es war ja nicht ihre Bestimmung, aber sie trieb trotzdem, bis sie endlich Land erreichte, ein fremdes Land. Sie verstand nicht ein Wort von dem, was gesprochen wurde, es war nicht die Sprache, die sie zuvor hatte sprechen hören; ja, es geht viel verloren, wenn man die Sprache nicht beherrscht.

Die Flasche wurde aufgehoben und betrachtet. Der Zettel darin wurde gesehen, herausgenommen und nach allen Seiten gedreht und gewendet, aber man verstand nicht, was darauf geschrieben stand. Sie begriffen wohl, daß die Flasche aus irgendeinem Grunde über Bord geworfen war und dieser Grund auf dem Papier geschrieben stand, aber was dort stand, war unbegreiflich --- und der Zettel wurde wieder in die Flasche gesteckt, und diese kam in einen großen Schrank in einer großen Stube in einem großen Hause.

Jedesmal, wenn Besuch kam, wurde der Zettel hervorgeholt und gedreht und gewendet, so daß die Worte darauf, die nur mit Bleistift geschrieben waren, mehr und mehr unleserlich wurden. Zuletzt konnte niemand mehr erkennen, daß Buchstaben darauf waren. Die Flasche stand noch ein Jahr lang im Sehranke, dann kam sie auf den Boden und wurde von Staub und Spinnweben bedeckt. Da dachte sie an die besseren Tage zurück, wo sie roten Wein im frischen Walde einschenkte und auf den Wogen schaukelte und ein Geheimnis zu tragen hatte, einen Brief einen Abschiedsseufzer.

Und nun stand sie wohl zwanzig Jahre auf dem Boden; sie hätte noch länger dort stehen können, wäre das Haus nicht umgebaut worden. Das Dach wurde abgerissen, und die Flasche gefunden und besprochen, aber sie verstand die Sprache nicht. Die lernt man nicht vom auf dem Boden stehen, selbst in zwanzig Jahren nicht. ``Wäre ich unten in der Stube geblieben,'' sagte sie ganz richtig, ``dann hätte ich sie wohl gelernt.''

Sie wurde nun gewaschen und gespült und das hatte sie auch nötig; sie fühlte sich ganz klar und durchsichtig, sie wurde wieder jung in ihren alten Jahren; aber der Zettel, den sie in sich trug, war bei der Wäsche verloren gegangen.

Die Flasche wurde nun mit Samenkörnern gefüllt, von welcher Art, wußte sie nicht; sie wurde zugekorkt und gut eingewickelt und sah weder Licht noch Laterne, geschweige denn Sonne oder Mond, und etwas müsse man doch sehen, wenn man auf Reisen ginge, meinte die Flasche; aber sie sah nichts. Doch das Wichtigste tat sie --- sie reiste und kam dorthin, wohin sie sollte; dort wurde sie ausgepackt.

``Was sie sich dort im Auslande für Umstände mit ihr gemacht haben'' wurde gesagt, ``und doch wird sie wohl gesprungen sein.'' Aber sie war nicht gesprungen. Die Flasche verstand jedes einzige Wort, das gesagt wurde; es war die Sprache, die sie am Schmelzofen und beim Weinhändler, im Walde und auf dem Schiffe vernommen hatte, die einzig richtige, gute alte Sprache, die man verstehen konnte. Sie war wieder in ihr Heimatland zurückgekommen, sie bekam ihren Willkommensgruß. Vor Freude wäre sie ihnen fast aus den Händen gesprungen; sie merkte es kaum, wie der Korken herausgezogen, sie ausgeschüttet und in den Keller gesetzt wurde, um weggestellt und vergessen zu werden. In der Heimat ist es doch am besten, selbst im Keller. Es kam ihr nie in den Sinn, darüber nachzudenken, wie lange sie dort lag, sie lag gut und lag jahrelang. Da kamen eines Tages Leute in den Keller herunter und holten mit den Flaschen auch sie herauf.

Draußen im Garten herrschten Pracht und Herrlichkeit. Brennende Lampen hingen an Girlanden. Papierlaternen strahlten wie transparente Tulpen; es war ein herrlicher Abend. Das Wetter war stille und klar, die Sterne blinkten hell und der Neumond stand am Himmel, eigentlich sah man den ganzen runden Mond wie eine blaugraue Kugel mit goldenem Rande und es sah gut aus für gute Augen.

Die Nebengänge waren auch illuminiert, wenigstens so hell, daß man darin vorwärtskommen konnte. Zwischen den Hecken waren Flaschen mit Lichtern aufgestellt. Dort stand auch die Flasche, die wir kennen und die dereinst als Flaschenhals enden sollte, als Vogelnapf. Sie fand in diesem Augenblicke alles unaussprechlich schön, sie war wieder im Grünen, nahm wieder teil an Freud und Fest, vernahm Gesang und Musik, das Geschwirr und Gesumm vieler Menschen, besonders von der Seite des Gartens, wo die Lampen brannten und die Papierlaternen ihre Farbenpracht zeigten. Sie selbst stand wohl abseits in einem Gang, aber just das regte sie zum Nachdenken an. Da stand nun die Flasche und trug ihr Licht, stand hier zum Nutzen und zur Freude, und das ist das Richtige: in solch einer Stunde vergißt man die zwanzig Jahre auf dem Boden, und es ist gut, das zu vergessen.

Dicht an ihr vorbei ging ein einzelnes Paar Arm in Arm wie das Brautpaar damals im Walde, der Steuermann und die Kürschnerstochter. Es war für die Flasche, als erlebe sie es noch einmal. Im Garten gingen Gäste und Leute, die diese und all die Pracht anschauen durften; unter diesen war auch ein altes Mädchen, die keine Verwandten mehr, wohl aber Freunde besaß. Sie dachte ganz an dieselben Dinge wie die Flasche, an den grünen Wald und ein junges Brautpaar, das sie recht nahe anging, war sie doch selbst der eine Teil desselben. Das war ihre glücklichste Stunde gewesen, und die vergißt sich nie, auch wenn man eine noch so alte Jungfer wird. Aber sie erkannte die Flasche nicht, und diese erkannte sie nicht, so geht man aneinander vorüber in der Welt --- bis man sich wieder begegnet, und das taten die beiden, in der Stadt waren sie ja zusammengekommen.

Die Flasche kam aus dem Garten zum Weinhändler, wurde wieder mit Wein gefüllt und an den Luftschiffer verkauft, der am nächsten Sonntag mit dem Ballon aufsteigen sollte. Das war ein Gewimmel von Menschen, die alle zuschauen wollten; Regimentsmusik erschallte und Vorbereitungen wurden getroffen. Die Flasche sah alles von einem Korbe aus, worin sie zusammen mit einem lebendigen Kaninchen lag; das war ganz verzagt, weil es wußte, daß es mit aufsteigen sollte, um dann mit einem Fallschirm hinabgelassen zu werden; die Flasche wußte weder etwas von herauf noch herunter, sie sah, daß der Ballon dicker und immer dicker aufschwoll und, als er nicht mehr größer werden konnte, sich emporzuheben begann, höher und höher; immer unruhiger wurde er, da durchschnitt man die Taue, die ihn hielten, und er schwebte mit dem Luftschiffer, dem Korbe, der Flasche und dem Kaninchen himmelwärts; die Musik setzte wieder ein und alle Menschen riefen: Hurra!

``Es ist doch ein merkwürdig Ding, so in die Luft zu gehen,'' dachte die Flasche, ``das ist eine neue Art zu segeln; da oben kann man doch nicht laufen!''

Viele tausend Menschen sahen dem Ballon nach, und die alte Jungfer sah ihm auch nach; sie stand an ihrem offenen Dachkammerfenster, vor dem das Vogelbauer mit dem kleinen Hänfling hing, der damals noch kein Wasserglas hatte, sondern sich mit einer Tasse begnügen mußte. Im Fenster stand ein Myrtenstock, der ein wenig beiseite gerückt worden war, um nicht hinuntergestoßen zu werden, während das alte Mädchen sich vorbeugte, um hinauszusehen. Sie sah deutlich den Luftschiffer im Ballon, der das Kaninchen mit dem Fallschirm hinabließ, dann auf aller Menschen Wohl trank und die Flasche hoch in die Luft hinaus warf. Sie dachte nicht daran, daß sie just dieselbe Flasche schon einmal hatte so fliegen sehen, und zwar vor ihr und ihrem Freund an dem Freudentage draußen im grünen Walde in ihrer Jugendzeit.

Die Flasche hatte gar keine Zeit zum Denken übrig, so plötzlich, so unerwartet gelangte sie auf den Höhepunkt ihres Lebens, Türme und Dächer lagen tief unten, die Menschen waren nur wie kleine Pünktchen zu sehen.

Nun sank sie, und zwar mit einer anderen Geschwindigkeit als das Kaninchen; die Flasche schoß Purzelbäume in der Luft, sie fühlte sich so jung, so ausgelassen, sie war noch halbberauscht vom Weine in ihr, aber nicht lange. Welch eine Reise. Die Sonne schien auf die Flasche nieder, alle Menschen sahen ihrem Fluge nach, der Ballon war schon weit weg, und bald war auch die Flasche weg. Sie fiel auf eins der Dächer und dann war sie entzwei. Aber die Scherben waren noch so vom Fluge benommen, daß sie nicht liegen bleiben konnten, sie sprangen-und rollten, bis sie den Hof erreichten, um dort in noch kleinere Stücke zu zerspringen. Nur der Flaschenhals hielt; er sah aus wie von einem Diamanten abgeschnitten.

``Der könnte gut als Wassernäpfchen für einen Vogel verwendet werden!'' sagte der Krämer im Keller, aber er selbst hatte weder einen Vogel noch ein Bauer, und es wäre wohl etwas zu weit gegriffen, sich diese anzuschaffen, weil er nun einen Flaschenhals hatte, der als Wassernäpfchen verwendet werden könnte. Aber die alte Jungfer in der Dachkammer konnte ihn gebrauchen; und so kam der Flaschenhals zu ihr hinauf, bekam einen Pfropfen zu schlucken, und was er früher nach oben gekehrt hatte, kam nun nach unten, wie es gar oft bei Veränderungen zu geschehen pflegt, er bekam frisches Wasser und wurde vor das Bauer zu dem kleinen Vogel gehängt, der so herzhaft sang, daß es schallte.

``Ja, Du hast gut singen!'' Das war es, was der Flaschenhals sagte, und der war ja etwas Besonderes, weil er in einem Luftballon gewesen war. --- Mehr wußte man nicht von seiner Geschichte. Nun hing er da als Vogelnäpfchen, konnte die Leute auf der Straße lärmen und sich tummeln hören und konnte das Gespräch der alten Jungfer drinnen in der Kammer mitanhören. Es war eben Besuch gekommen, eine gleichaltrige Freundin, und sie sprachen zusammen, nicht von dem Flaschenhals, sondern von dem Myrtenbaum am Fenster.

``Du solltest wahrhaftig nicht zwei Reichstaler wegwerfen für einen Brautkranz für Deine Tochter.'' sagte die alte Jungfer. ``Du sollst von mir einen haben, und zwar einen hübschen ganz voller Blüten. Siehst Du, wie herrlich das Bäumchen steht? Ja, das ist ein Ableger von der Myrte, die Du mir am Tage nach meiner Verlobung gegeben hast, von dem Stock, von dem ich mir meinen Brautkranz schneiden sollte, wenn das Jahr um war. Aber der Tag kam nicht. Die Augen haben sich geschlossen, die mir zu Glück und Segen in diesem Leben leuchten sollten. Auf dem Meeresgrund schläft er süß, die Engelsseele. --- Das Bäumchen wurde ein alter Baum, aber ich wurde noch älter, und als der Baum verdorrte, nahm ich den letzten frischen Zweig und setzte ihn in die Erde, und dieses Zweiglein ist nun ein großer Baum geworden und kommt nun doch endlich zu seinem Hochzeitsstaat, wird Deiner Tochter Brautkranz!''

Es standen Tränen In des alten Mädchens Augen; sie sprach von dem Freund ihrer Jugend, von der Verlobung im Walde; sie dachte an das Wohl, das damals ausgebracht wurde, dachte an den ersten Kuß, --- aber das sagte sie nicht --- war sie doch eine alte Jungfer. An so vieles dachte sie, aber daran dachte sie nicht, daß vor ihrem Fenster noch ein Andenken aus jener Zeit hing: der Hals jener Flasche, die damals ``Schwupp'' sagte, als der Pfropfen knallte. Aber der Flaschenhals erkannte sie auch nicht, denn er hörte nicht darauf, was sie erzählte, er dachte nur an sich.

Der Sandmann

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\AMsection{Der Sandmann}

Es giebt niemand in der ganzen Welt, der so viele Geschichten weiß als der Sandmann! Er kann ordentlich erzählen.

Gegen Abend, wenn die Kinder noch am Tische oder auf ihrem Schemel sitzen, kommt der Sandmann; er kommt die Treppe sachte herauf, denn er geht auf Socken; er macht ganz leise die Thüren auf und husch! da spritzt er den Kindern süße Milch in die Augen hinein, und das so fein, so fein, aber immer genug, daß sie die Augen nicht offenhalten und ihn deshalb auch nicht sehen können. Er schleicht sich gerade hinter sie, bläst ihnen sachte in den Nacken, und dann werden sie schwer im Kopf. Aber es thut nicht weh, denn der Sandmann meint es gut mit den Kindern; er will nur, daß sie ruhig sein sollen, und das sind sie am schnellsten, wenn man sie zu Bette gebracht hat; sie sollen still sein, damit er ihnen Geschichten erzählen kann.

Wenn die Kinder nun schlafen; setzt sich der Sandmann auf ihr Bett. Er ist gut gekleidet; sein Rock ist von Seidenzeug, aber es ist unmöglich zu sagen, von welcher Farbe, denn er glänzt grün, rot und blau, je nachdem er sich wendet. Unter jedem Arm hält er einen Regenschirm.

Den einen, mit Bildern darauf, spannt er über die guten Kinder aus, und dann träumen sie die ganze Nacht die herrlichsten Geschichten; auf dem andern ist durchaus nichts, den stellt er über die unartigen Kinder. Dann schlafen diese und haben am Morgen, wenn sie erwachen, nicht das Allergeringste geträumt.

Nun werden wir hören, wie der Sandmann an jedem Abend in einer Woche zu einem kleinen Knaben, welcher Friedrich hieß, kam und was er ihm erzählte. Es sind sieben Geschichten, denn es sind sieben Tage in der Woche.

\AMsubsection{Montag}

``Höre einmal,'' sagte der Sandmann am Abend, als er Friedrich zu Bette gebracht hatte, ``nun werde ich aufputzen!'' Da wurden alle Blumen in den Blumentöpfen zu großen Bäumen, welche ihre langen Zweige unter der Decke und längs der Wände ausstreckten, sodaß die ganze Stube wie ein prächtiges Lufthaus aussah; alle Zweige waren voll Blumen, und jede Blume war noch schöner als eine Rose, duftete lieblich, und wollte man sie essen, so war sie noch süßer, als Eingemachtes! Die Früchte glänzten gerade wie Gold, und Kuchen waren da, die vor lauter Rosinen platzten --- es war unvergleichlich schön! Aber zu gleicher Zeit ertönte ein erschreckliches Jammern aus dem Tischkasten, wo Friedrichs Schulbücher lagen.

``Was ist das?'' sagte der Sandmann und ging nach dem Tisch und zog den Kasten auf. Es war die Tafel, in der es riß und wühlte, denn es war eine falsche Zahl in das Rechenexempel gekommen, sodaß es nahe daran war, auseinander zu fallen; der Griffel hüpfte und sprang an seinem Bande, gerade als ob er ein kleiner Hund wäre, der dem Rechenexempel helfen möchte; aber er konnte es nicht. Und dann war es Friedrichs Schreibebuch, in welchem es auch jammerte; o, es war häßlich mit anzuhören! Auf jedem Blatte standen der Länge nach herunter die großen Buchstaben, ein jeder mit einem kleinen zur Seite, das war eine Vorschrift; neben diesen standen wieder einige Buchstaben, welche glaubten ebenso auszusehen, und diese hatte Friedrich geschrieben; sie lagen fast so, als ob sie über die Bleifederstriche gefallen wären, auf welchen sie stehen sollten.

``Seht, so solltet Ihr Euch halten'', sagte die Vorschrift. ``Seht, so zur Seite, mit einem kräftigen Schwung!''

``O, wir möchten gern,'' sagten Friedrichs Buchstaben, ``aber wir können nicht, wir sind so jämmerlich!''

``Dann müßt Ihr Kinderpulver haben!'' sagte der Sandmann.

``O nein!'' riefen sie, und da standen sie schlank, daß es eine Lust war.

``Jetzt wird keine Geschichte erzählt,'' sagte der Sandmann, ``nun muß ich sie exerzieren. Eins, zwei! Eins, zwei!'' Und so exerzierte er die Buchstaben, und sie standen so schlank und schön, wie nur eine Vorschrift stehen kann. Aber als der Sandmann ging und Friedrich sie am Morgen besah, da waren sie ebenso elend als früher.

\AMsubsection{Dienstag}

Sobald Friedrich zu Bette war, berührte der Sandmann mit seiner kleinen Zauberspritze alle Möbel in der Stube, und sogleich fingen sie an zu plaudern, und allesamt sprachen sie von sich selbst, mit Ausnahme des Spucknapfes, welcher stumm dastand und sich darüber ärgerte, daß sie so eitel sein konnten, nur von sich selbst zu reden, nur an sich selbst zu denken und durchaus keine Rücksicht auf den zu nehmen, der doch so bescheiden in der Ecke stand und sich bespucken ließ.

Über der Kommode hing ein großes Gemälde in einem vergoldeten Rahmen, das war eine Landschaft; man sah darauf große alte Bäume, Blumen im Grase und einen großen Fluß, welcher um den Wald herumfloß an vielen Schlössern vorbei, und weit hinausströmte in das wilde Meer.

Der Sandmann berührte mit seiner Zauberspritze das Gemälde, und da begannen die Vögel darauf zu singen, die Baumzweige bewegten sich und die Wolken zogen weiter, man konnte ihren Schatten über die Landschaft hin erblicken.

Nun hob der Sandmann den kleinen Friedrich gegen den Rahmen empor und stellte seine Füße in das Gemälde, gerade in das hohe Gras, und da stand er, die Sonne beschien ihn durch die Zweige der Bäume. Er lief hin zum Wasser und setzte sich in ein kleines Boot, welches dort lag; es war rot und weiß angestrichen, das Segel glänzte wie Silber, und sechs Schwäne, alle mit Goldkronen um den Hals und einem strahlenden blauen Stern auf dem Kopf, zogen das Boot an dem grünen Walde vorbei, wo die Bäume von Räubern und Hexen und die Blumen von den niedlichen, kleinen Elfen und von dem, was die Schmetterlinge ihnen gesagt hatten, erzählten.

Die herrlichen Fische mit Schuppen wie Silber und Gold, schwammen dem Boote nach; mitunter machten sie einen Sprung, daß es im Wasser plätscherte, und Vögel, rot und blau, klein und groß, flogen in langen Reihen hinterher, die Mücken tanzten und die Maikäfer sagten: ``Bum, bum!'' Sie wollten Friedrich alle folgen, und alle hatten sie eine Geschichte zu erzählen.

Das war eine Lustfahrt! Bald waren die Wälder ganz dicht und dunkel, bald waren sie wie der herrlichste Garten mit Sonnenschein und Blumen. Da lagen große Schlösser von Glas und von Marmor; auf den Altanen standen Prinzessinnen, und alle waren es kleine Mädchen, die Friedrich gut kannte; er hatte früher mit ihnen gespielt. Sie streckten jede die Hand aus und hielten das niedlichste Zuckerherz hin, welches je eine Kuchenfrau verkaufen konnte, und Friedrich faßte die eine Seite des Zuckerherzens an, indem er vorbeifuhr, und die Prinzessin hielt recht fest, und so bekam jedes sein Stück, sie das kleinste, Friedrich das größte. Bei jedem Schlosse standen kleine Prinzen Schildwache, sie schulderten mit Säbeln und ließen Rosinen und Zinnsoldaten regnen. Das waren echte Prinzen!

Bald segelte Friedrich durch Wälder, bald durch große Säle oder mitten durch eine Stadt; er kam auch durch die, in welcher sein Kindermädchen wohnte, welches ihn getragen hatte, da er noch ein ganz kleiner Knabe war, und das ihm immer gut gewesen; und sie nickte und winkte und sang den niedlichen kleinen Vers, den sie selbst gedichtet und Friedrich gesandt hatte:

\AMquote{
        Ich denke Deiner so manches Mal, \\
        Mein teurer Friedrich, Du lieber! \\
        Ich gab Dir Küsse ja ohne Zahl \\
        Auf Stirne, Mund, Augenlider. \\
        Ich hörte Dich lallen das erste Wort, \\
        Doch mußt' ich Dir Lebewohl sagen. \\
        Es segne der Herr Dich an jedem Ort, \\
        Du Engel, den ich getragen!
}

Und alle Vögel sangen mit, die Blumen tanzten auf den Stielen und die alten Bäume nickten, gerade als ob der Sandmann ihnen auch Geschichten erzählte.

\AMsubsection{Mittwoch}

Draußen strömte der Regen hernieder! Friedrich konnte es im Schlaf hören, und da der Sandmann ein Fenster öffnete, stand das Wasser gerade herauf bis an das Fensterbrett, es war ein ganzer See da draußen, aber das prächtigste Schiff lag dicht am Hause.

``Willst Du mitsegeln, kleiner Friedrich,'' sagte der Sandmann, ``so kannst Du diese Nacht in fremde Länder gelangen und morgen wieder hier sein!''

Da stand Friedrich plötzlich in seinen Sonntagskleidern mitten auf dem prächtigen Schiffe, sogleich wurde die Witterung schön und sie segelten durch die Straßen, kreuzten um die Kirche, und nun war alles eine große, wilde See. Sie segelten so lange, bis kein Land mehr zu erblicken war, und sie sahen einen Flug Störche, die kamen auch von der Heimat und wollten nach den warmen Ländern; ein Storch flog immer hinter dem andern, und sie waren schon weit, weit geflogen! Einer von ihnen war so ermüdet, daß seine Flügel ihn kaum noch zu tragen vermochten; er war der allerletzte in der Reihe, und bald blieb er ein großes Stück zurück, zuletzt sank er mit ausgebreiteten Flügeln tiefer und tiefer, er machte noch ein paar Schläge mit den Schwingen, aber es half nichts; nun berührte er mit seinen Füßen das Tauwerk des Schiffes, glitt vom Segel herab, und bums! da stand er auf dem Verdeck.

Da nahm ihn der Schiffsjunge und setzte ihn in das Hühnerhaus zu den Hühnern, Enten und Truthähnen; der arme Storch stand ganz befangen mitten unter ihnen.

``Sieh den!'' sagten alle Hühner.

Der kalekutische Hahn blies sich so dick auf, wie er konnte, und fragte, wer er sei. Die Enten gingen rückwärts und stießen einander: ``Rapple Dich, rapple Dich!''

Der Storch erzählte vom warmen Afrika, von den Pyramiden und vom Strauße, der einem wilden Pferde gleich die Wüste durchlaufe; aber die Enten verstanden nicht, was er sagte, und dann stießen sie einander: ``Wir sind doch darüber einverstanden, daß er dumm ist?''

``Ja, sicher ist er dumm!'' sagte der kalekutische Hahn, und dann kollerte er. Da schwieg der Storch ganz still und dachte an sein Afrika.

``Das sind ja herrlich dünne Beine, die Ihr habt!'' sagte der Kalekute. ``Was kostet die Elle davon?''

``Skrat, skrat, skrat!'' grinsten alle Enten, aber der Storch that, als ob er es gar nicht höre.

``Ihr könnt immer mitlachen,'' sagte der Kalekute zu ihm, ``denn es war sehr witzig gesagt, oder war es Euch vielleicht zu hoch? Ach, er ist nicht vielseitig, wir wollen für uns selbst bleiben!'' Und dann gluckte er und die Enten schnatterten: ``Gikgak! Gikgak!'' Es war erschrecklich, wie sie sich selbst belustigten.

Aber Friedrich ging nach dem Hühnerhause, öffnete die Thür, rief den Storch, und er hüpfte zu ihm hinaus auf das Verdeck. Nun hatte er ja ausgeruht, und es war gleichsam, als ob er Friedrich zunickte, um ihm zu danken. Darauf entfaltete er seine Schwingen und flog nach den warmen Ländern, aber die Hühner gluckten, die Enten schnatterten und der kalekutische Hahn wurde ganz feuerrot am Kopfe.

``Morgen werden wir Suppe von Euch kochen!'' sagte Friedrich, und dann erwachte er und lag in seinem kleinen Bette. Es war doch eine sonderbare Reise, die der Sandmann ihn diese Nacht hatte machen lassen!

\AMsubsection{Donnerstag}

``Weißt Du was?'' sagte der Sandmann. ``Sei nur nicht furchtsam, hier wirst Du eine kleine Maus sehen!'' Da hielt er ihm seine Hand mit dem leichten, niedlichen Tiere entgegen. ``Sie ist gekommen, um Dich zur Hochzeit einzuladen. Hier sind diese Nacht zwei kleine Mäuse, die in den Stand der Ehe treten wollen. Sie wohnen unter Deiner Mutter Speisekammerfußboden; das soll eine schöne Wohnung sein!''

``Aber wie kann ich durch das kleine Mauseloch im Fußboden kommen?'' fragte Friedrich.

``Laß mich nur machen,'' sagte der Sandmann, ``ich werde Dich schon klein bekommen!'' Und er berührte Friedrich mit seiner Zauberspritze, wodurch dieser sogleich kleiner und kleiner wurde; zuletzt war er keinen Finger lang. ``Nun kannst Du Dir die Kleider des Zinnsoldaten leihen; ich denke, sie werden Dir passen, und es sieht gut aus, wenn man Uniform in Gesellschaft hat!''

``Ja freilich!'' sagte Friedrich, und da war er im Augenblick wie der niedlichste Zinnsoldat angekleidet.

``Wollen Sie nicht so gut sein und sich in Ihrer Mutter Fingerhut setzen?'' sagte die kleine Maus. ``Dann werde ich die Ehre haben, Sie zu ziehen!''

``Will sich das Fräulein selbst bemühen!'' sagte Friedrich, und so fuhren sie zur Mäusehochzeit.

Zuerst kamen sie unter dem Fußboden in einen langen Gang, der nicht höher war, als daß sie gerade mit dem Fingerhut dort fahren konnten; und der ganze Gang war mit faulem Holze erleuchtet.

``Riecht es hier nicht herrlich?'' sagte die Maus, die ihn zog. ``Der ganze Gang ist mit Speckschwarten geschmiert worden! Es kann nichts Schöneres geben!''

Nun kamen sie in den Brautsaal hinein. Hier standen zur Rechten alle die kleinen Mäusedamen, die wisperten und zischelten, als ob sie einander zum besten hielten; zur Linken standen alle Mäuseherren und strichen sich mit der Pfote den Schnauzbart. Aber mitten im Saal sah man das Brautpaar; sie standen in einer ausgehöhlten Käserinde und küßten sich gar erschrecklich viel vor aller Augen, denn sie waren ja Verlobte und sollten nun gleich Hochzeit halten.

Es kamen immer mehr und mehr Fremde; die eine Maus war nahe daran, die andere tot zu treten, und das Brautpaar hatte sich mitten in die Thür gestellt, sodaß man weder hinaus noch hinein gelangen konnte. Die ganze Stube war ebenso wie der Gang mit Speckschwarten eingeschmiert, das war die ganze Bewirtung, aber zum Nachtisch wurde eine Erbse vorgezeigt, in die eine Maus aus der Familie den Namen des Brautpaares eingebissen hatte, das heißt den ersten Buchstaben. Das war etwas ganz Außerordentliches.

Alle Mäuse sagten, daß es eine schöne Hochzeit und daß die Unterhaltung gut gewesen sei.

Dann fuhr Friedrich wieder nach Hause; er war wahrlich in vornehmer Gesellschaft gewesen, aber er hatte auch ordentlich zusammenkriegen, sich klein machen und Zinnsoldatenuniform anziehen müssen.

\AMsubsection{Freitag}

``Es ist unglaublich, wieviel ältere Leute es giebt, die mich gar zu gern haben möchten!'' sagte der Sandmann; ``es sind besonders die, welche etwas Böses verübt haben. `Guter kleiner Sandmann,' sagen sie zu mir, `wir können die Augen nicht schließen, und so liegen wir die ganze Nacht und sehen alle unsere bösen Thaten, die wie häßliche kleine Kobolde auf der Bettstelle sitzen und uns mit heißem Wasser bespritzen; möchtest Du doch kommen und sie fortjagen, damit wir einen guten Schlaf bekämen;' und dann seufzen sie tief: `Wir möchten es wahrlich gern bezahlen. Gute Nacht, Sandmann! Das Geld liegt im Fenster.' Aber ich thue es nicht für Geld,'' sagte der Sandmann.

``Was wollen wir nun diese Nacht vornehmen?'' fragte Friedrich.

``Ja, ich weiß nicht, ob Du diese Nacht wieder Lust hast, zur Hochzeit zu kommen; es ist eine andere Art, als die gestrige war. Deiner Schwester große Puppe, die, welche wie ein Mann aussieht und Hermann genannt wird, wird sich mit der Puppe Bertha verheiraten; es ist obendrein der Puppe Geburtstag, und deshalb werden da sehr viele Geschenke kommen!''

``Ja, das kenne ich schon,'' sagte Friedrich. ``Immer wenn die Puppen neue Kleider gebrauchen, läßt meine Schwester sie ihren Geburtstag feiern oder Hochzeit halten; das ist sicher schon hundertmal geschehen!''

``Ja, aber in dieser Nacht ist es die hundert und erste Hochzeit, und wenn hundert und eins aus ist, dann ist alles vorbei! Deswegen wird auch diese so ausgezeichnet. Sieh nur einmal!''

Friedrich sah nach dem Tische. Da stand das kleine Papphaus mit Licht in den Fenstern, und draußen davor präsentierten alle Zinnsoldaten das Gewehr. Das Brautpaar saß ganz gedankenvoll, wozu es wohl Ursache hatte, auf dem Fußboden und lehnte sich gegen den Tischfuß. Aber der Sandmann, in den schwarzen Rock der Großmutter gekleidet, traute sie. Als die Trauung vorbei war, stimmten alle Möbel in der Stube folgenden Gesang an, welcher von der Bleifeder geschrieben war; er ging nach der Melodie des Zapfenstreichs.

\AMquote{
        Das Lied ertönte wie der Wind \\
        Dem Brautpaar Hoch! das sich verbind't; \\
        Sie prangen beide steif und blind, \\
        Da sie von Handschuhleder sind, \\
        Hurrah! Hurrah! ob taub und blind, \\
        Wir singen es im Wetter und Wind!
}

Und nun bekamen sie Geschenke; aber sie hatten sich alle Eßwaren verbeten, denn sie hatten an ihrer Liebe genug.

``Wollen wir nun eine Sommerwohnung beziehen oder auf Reisen gehen?'' fragte der Bräutigam. Die Schwalbe, die viel gereist war, und die Hofhenne, welche fünfmal Küchlein ausgebrütet hatte, wurden zu Rate gezogen. Und die Schwalbe erzählte von den herrlichen, warmen Ländern, wo die Weintrauben groß und schwer hängen, wo die Luft so mild ist und die Berge Farbe haben, wie man sie hier gar nicht an denselben kennt.

``Sie haben doch nicht unsern Grünkohl!'' sagte die Henne. ``Ich war einen Sommer mit allen meinen Kücheln auf dem Lande, da war eine Sandgrube, in der wir gehen und kratzen konnten, und dann hatten wir Zutritt zu einem Garten mit Grünkohl! O, wie war der grün! Ich kann mir nichts Schöneres denken!''

``Aber ein Kohlstrunk sieht gerade so aus wie der andere,'' sagte die Schwalbe, ``und dann ist hier oft schlechtes Wetter!''

``Ja, daran ist man gewöhnt!''

``Aber hier ist es kalt, es friert!''

``Das ist gut für den Kohl!'' sagte die Henne. ``Übrigens können wir es auch warm haben. Hatten wir nicht vor Jahren einen Sommer, so heiß, daß man kaum atmen konnte? Dann haben wir nicht alle die giftigen Tiere, die sie dort haben, und wir sind von Räubern befreit! Der ist ein Bösewicht, der nicht findet, daß unser Land das schönste ist; er verdiente wahrlich nicht hier zu sein!'' Und dann weinte die Henne und fuhr fort: ``Ich bin auch gereist! Ich bin einmal über zwölf Meilen gefahren! Es ist durchaus kein Vergnügen beim Reisen!''

``Ja, die Henne ist eine vernünftige Frau!'' sagte die Puppe Bertha. ``Ich halte nichts davon, Berge zu bereisen, denn das geht nur hinauf und dann wieder herunter! Nein, wir wollen nach der Sandgrube hinausziehen und im Kohlgarten spazieren!''

Und dabei blieb es.

\AMsubsection{Sonnabend}

``Bekomme ich nun Geschichten zu hören?'' fragte der kleine Friedrich, sobald der Sandmann ihn in den Schlaf gebracht hatte.

``Diesen Abend haben wir nicht Zeit dazu,'' sagte der Sandmann und spannte seinen schönsten Regenschirm über ihn auf. ``Betrachte nur die Chinesen!'' Der ganze Regenschirm sah aus wie eine große chinesische Schale mit blauen Bäumen und spitzen Brücken und mit kleinen Chinesen darauf, die dastanden und mit dem Kopfe nickten. ``Wir müssen die ganze Welt zu morgen schön ausgeputzt haben,'' sagte der Sandmann; ``es ist ja morgen Sonntag. Ich will die Kirchtürme besuchen, um zu sehen, ob die kleinen Kirchkobolde die Glocken polieren, damit sie hübsch klingen; ich will hinaus auf das Feld gehen und sehen, ob die Winde den Staub von Gras und Blätter blasen, und was die größte Arbeit ist, ich will alle Sterne herunterholen, um sie zu polieren. Ich nehme sie in meine Schürze; aber erst muß ein jeder numeriert werden, und die Löcher, worin sie da oben sitzen, müssen auch numeriert werden, damit sie wieder auf den rechten Fleck kommen, sonst würden sie nicht festsitzen und wir würden zu viele Sternschnuppen bekommen, indem der eine nach dem andern herunterpurzeln würde!''

``Hören Sie, wissen Sie was, Herr Sandmann?'' sagte ein altes Bild, welches an der Wand hing, wo Friedrich schlief. ``Ich bin Friedrichs Urgroßvater; ich danke Ihnen, daß Sie dem Knaben Geschichten erzählen, aber Sie müssen seine Begriffe nicht verdrehen. Die Sterne können nicht heruntergenommen und poliert werden! Die Sterne sind Kugeln, ebenso wie unsere Erde, und das ist gerade das Gute an ihnen.''

``Ich danke Dir, Du alter Urgroßvater,'' sagte der Sandmann, ``ich danke Dir! Du bist ja das Haupt der Familie, Du bist das Urhaupt, aber ich bin doch älter als Du! Ich bin ein alter Heide; Römer und Griechen nannten mich den Traumgott! Ich bin in die vornehmsten Häuser gekommen und komme noch dahin; ich weiß sowohl mit Geringen wie mit Großen umzugehen! Nun kannst Du erzählen!'' Und da ging der Sandmann und nahm seinen Regenschirm mit.

``Nun darf man wohl seine Meinung gar nicht mehr sagen!'' brummte das Bild.

Da erwachte Friedrich.

\AMsubsection{Sonntag}

``Guten Abend!'' sagte der Sandmann, Friedrich nickte und wandte das Bild des Urgroßvaters gegen die Wand um, damit es nicht, wie gestern, mitspreche.

``Nun mußt Du mir Geschichten erzählen: von den fünf grünen Erbsen, die in einer Schote wohnten, und von dem Hahnenfuß, der dem Hühnerfuße den Hof machte, und von der Stopfnadel, die so vornehm that, daß sie sich einbildete, eine Nähnadel zu sein!''

``Man kann auch des Guten zu viel bekommen!'' sagte der Sandmann. ``Du weißt wohl, daß ich Dir am liebsten etwas zeige! Ich will Dir meinen Bruder zeigen. Er heißt auch Sandmann, aber er kommt zu niemand öfters als einmal, und zu wem er kommt, den nimmt er mit auf sein Pferd und erzählt ihm Geschichten. Er kennt nur zwei; die eine ist so außerordentlich schön, daß niemand in der Welt sie sich denken kann, und die andere ist so häßlich und greulich --- es ist gar nicht zu beschreiben!'' Und dann hob der Sandmann den kleinen Friedrich zum Fenster hinauf und sagte: ``Da wirst Du meinen Bruder sehen, sie nennen ihn auch den Tod! Siehst Du, er sieht gar nicht so schlimm aus wie in den Bilderbüchern, wo er nur ein Knochengerippe ist! Nein, das ist Silberstickerei, die er auf dem Kleide hat, die schönste Husarenuniform, ein Mantel von schwarzem Sammet fliegt hinten über das Pferd. Sieh, wie er im Galopp reitet!''

Friedrich sah, wie der Sandmann davon ritt und sowohl junge wie alte Leute auf sein Pferd nahm. Einige setzte er vorn, andere hinten auf, aber immer fragte er erst: ``Wie steht es mit dem Zeugnisbuch?'' --- ``Gut!'' sagten sie allesamt. ``Ja, laßt mich selbst sehen!'' sagte er, und sie mußten ihm das Buch zeigen; alle die, welche ``Sehr gut'' und ``Ausgezeichnet gut'' hatten, kamen vorn auf das Pferd und bekamen die herrliche Geschichte zu hören; die aber, welche ``Ziemlich gut'' und ``Mittelmäßig'' hatten, mußten hinten auf und bekamen die greuliche Geschichte; sie zitterten und weinten, sie wollten vom Pferde springen, konnten es aber nicht, denn sie waren sogleich daran festgewachsen.

``Aber der Tod ist ja der prächtigste Sandmann!'' sagte Friedrich. ``Vor ihm ist mir nicht bange!''

``Das soll auch nicht sein!'' sagte der Sandmann. ``Sieh nur zu, daß Du ein gutes Zeugnis hast!''

``Ja, das ist lehrreich!'' murmelte des Urgroßvaters Bild. ``Es hilft doch, wenn man seine Meinung sagt!'' Und nun war es zufrieden.

Sieh, das ist die Geschichte vom Sandmann! Nun mag er Dir selbst diesen Abend mehr erzählen!

Däumelinchen

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\AMsection{Däumelinchen}

Es war einmal eine Frau, die sich sehr nach einem kleinen Kinde sehnte, aber sie wußte nicht, woher sie es nehmen sollte. Da ging sie zu einer alten Hexe und sagte zu ihr: ``Ich möchte herzlich gern ein kleines Kind haben, willst Du mir nicht sagen, woher ich das bekommen kann?''

``Ja, damit wollen wir schon fertig werden!'' sagte die Hexe. ``Da hast Du ein Gerstenkorn; das ist gar nicht von der Art, wie sie auf dem Felde des Landmanns wachsen, oder wie sie die Hühner zu fressen bekommen; lege das in einen Blumentopf, so wirst Du etwas zu sehen bekommen!''

``Ich danke Dir!'' sagte die Frau und gab der Hexe fünf Groschen, ging dann nach Hause, pflanzte das Gerstenkorn, und sogleich wuchs da eine herrliche, große Blume; sie sah aus wie eine Tulpe, aber die Blätter schlossen sich fest zusammen, gerade als ob sie noch in der Knospe wären.

``Das ist eine niedliche Blume!'' sagte die Frau und küßte sie auf die roten und gelben Blätter, aber gerade wie sie darauf küßte, öffnete sich die Blume mit einem Knall. Es war eine wirkliche Tulpe, wie man nun sehen konnte, aber mitten in der Blume saß auf dem grünen Samengriffel ein ganz kleines Mädchen, fein und niedlich, sie war nicht über einen Daumen breit und lang, deswegen wurde sie Däumelinchen genannt.

Eine niedliche, lackierte Walnußschale bekam sie zur Wiege, blaue Veilchenblätter waren ihre Matratze und ein Rosenblatt ihr Deckbett. Da schlief sie bei Nacht, aber am Tage spielte sie auf dem Tisch, wo die Frau einen Teller hingestellt, um den sie einen ganzen Kranz von Blumen gelegt hatte, deren Stengel im Wasser standen; hier schwamm ein großes Tulpenblatt, und auf diesem konnte Däumelinchen sitzen, und von der einen Seite des Tellers nach der andern fahren; sie hatte zwei weiße Pferdehaare zum Rudern. Das sah ganz allerliebst aus. Sie konnte auch singen, und so fein und niedlich, wie man es nie gehört hatte.

Einmal nachts, als sie in ihrem schönen Bette lag, kam eine Kröte durch das Fenster hereingehüpft, wo eine Scheibe entzwei war. Die Kröte war häßlich, groß und naß, sie hüpfte gerade auf den Tisch herunter, wo Däumelinchen lag und unter dem roten Rosenblatt schlief.

``Das wäre eine schöne Frau für meinen Sohn!'' sagte die Kröte, und da nahm sie die Walnußschale, worin Däumelinchen schlief, und hüpfte mit ihr durch die zerbrochene Scheibe fort, in den Garten hinunter.

Da floß ein großer, breiter Fluß; aber gerade am Ufer war es sumpfig und morastig; hier wohnte die Kröte mit ihrem Sohne. Hu, der war häßlich und garstig und glich ganz seiner Mutter. ``Koax, koax, brekkerekekex!'' Das war alles, was er sagen konnte, als er das niedliche kleine Mädchen in der Walnußschale erblickte.

``Sprich nicht so laut, denn sonst erwacht sie!'' sagte die alte Kröte. ``Sie könnte uns noch entlaufen, denn sie ist so leicht wie ein Schwanenflaum! Wir wollen sie auf eins der breiten Seerosenblätter in den Fluß hinaussetzen, das ist für sie, die so leicht und klein ist, gerade wie eine Insel; da kann sie nicht davonlaufen, während wir die Staatsstube unten unter dem Morast, wo Ihr wohnen und hausen sollt, in Stand setzen.''

Draußen in dem Flusse wuchsen viele Seerosen mit den breiten, grünen Blättern, welche aussahen, als schwämmen sie oben auf dem Wasser; das Blatt, welches am weitesten hinauslag, war auch das allergrößte; da schwamm die alte Kröte hinaus und setzte die Walnußschale mit Däumelinchen darauf.

Das kleine Wesen erwachte früh morgens, und da sie sah, wo sie war, fing sie recht bitterlich an zu weinen; denn es war Wasser zu allen Seiten des großen, grünen Blattes, und sie konnte gar nicht an das Land kommen.

Die alte Kröte saß unten im Morast und putzte ihre Stube mit Schilf und gelben Fischblattblumen aus --- es sollte da recht hübsch für die neue Schwiegertochter werden --- und schwamm dann mit dem häßlichen Sohne zu dem Blatte hinaus, wo Däumelinchen stand. Sie wollten ihr hübsches Bett holen, das sollte in das Brautgemach gestellt werden, bevor sie es selbst betrat. Die alte Kröte verneigte sich tief im Wasser vor ihr und sagte: ``Hier siehst Du meinen Sohn; er wird Dein Mann sein, und Ihr werdet recht prächtig unten im Morast wohnen!''

``Koax, koax, brekkerekekex!'' war alles, was der Sohn sagen konnte.

Dann nahmen sie das niedliche, kleine Bett und schwammen damit fort; aber Däumelinchen saß ganz allein und weinte auf dem grünen Blatte, denn sie mochte nicht bei der garstigen Kröte wohnen oder ihren häßlichen Sohn zum Manne haben. Die kleinen Fische, welche unten im Wasser schwammen, hatten die Kröte wohl gesehen und gehört, was sie gesagt hatte; deshalb streckten sie die Köpfe hervor, sie wollten doch das kleine Mädchen sehen. Sobald sie es erblickten, fanden sie dasselbe so niedlich, daß es ihnen leid that, daß es zur häßlichen Kröte hinunter sollte. Nein, das durfte nie geschehen! Sie versammelten sich unten im Wasser rings um den grünen Stengel, welcher das Blatt hielt, nagten mit den Zähnen den Stiel ab, und da schwamm das Blatt den Fluß hinab mit Däumelinchen davon, weit weg, wo die Kröte sie nicht erreichen konnte.

Däumelinchen segelte vor vielen Städten vorbei, und die kleinen Vögel saßen in den Büschen, sahen sie und sangen: ``Welch liebliches, kleines Mädchen!'' Das Blatt schwamm mit ihr immer weiter und weiter fort; so reiste Däumelinchen außer Landes.

Ein niedlicher, weißer Schmetterling umflatterte sie stets und ließ sich zuletzt auf das Blatt nieder, denn Däumelinchen gefiel ihm. Diese war sehr erfreut; denn nun konnte die Kröte sie nicht erreichen, und es war so schön, wo sie fuhr; die Sonne schien auf das Wasser, dieses glänzte wie das herrlichste Gold. Sie nahm ihren Gürtel, band das eine Ende um den Schmetterling, das andere Ende des Bandes befestigte sie am Blatte; das glitt nun viel schneller davon und sie mit, denn sie stand ja auf demselben.

Da kam ein großer Maikäfer angeflogen, der erblickte sie und schlug augenblicklich seine Klauen um ihren schlanken Leib und flog mit ihr auf einen Baum; das grüne Blatt schwamm den Fluß hinab und der Schmetterling mit, denn er war an das Blatt gebunden und konnte nicht von demselben loskommen.

Wie war das arme Däumelinchen erschrocken, als der Maikäfer mit ihr auf den Baum flog! Aber häuptsächlich war sie des schönen, weißen Schmetterlings wegen betrübt, den sie an das Blatt festgebunden hatte; im Fall er sich nicht befreien konnte, mußte er ja verhungern. Aber darum kümmerte sich der Maikäfer gar nicht. Er setzte sich mit ihr auf das größte, grüne Blatt des Baumes, gab ihr das Süße der Blumen zu essen und sagte, daß sie niedlich sei, obgleich sie einem Maikäfer durchaus nicht gleiche. Später kamen alle die andern Maikäfer, die im Baume wohnten, und besuchten sie; sie betrachteten Däumelinchen, und die Maikäferfräulein rümpften die Fühlhörner und sagten: ``Sie hat doch nicht mehr als zwei Beine; das sieht erbärmlich aus.'' --- ``Sie hat keine Fühlhörner!'' sagte eine andere. ``Sie ist so schlank in der Mitte; pfui, sie sieht wie ein Mensch aus! Wie häßlich sie ist!'' sagten alle Maikäferinnen, und doch war Däumelinchen so niedlich. Das erkannte auch der Maikäfer, der sie geraubt hatte, aber als alle anderen sagten, sie sei häßlich, so glaubte er es zuletzt auch und wollte sie gar nicht haben; sie konnte gehen, wohin sie wollte. Sie flogen mit ihr den Baum hinab und setzten sie auf ein Gänseblümchen; da weinte sie, weil sie so häßlich sei, daß die Maikäfer sie nicht haben wollten, und doch war sie das Lieblichste, das man sich denken konnte, so fein und klar wie das schönste Rosenblatt.

Den ganzen Sommer über lebte das arme Däumelinchen ganz allein in dem großen Walde. Sie flocht sich ein Bett aus Grashalmen und hing es unter einem Klettenblatte auf, so war sie vor dem Regen geschützt; sie pflückte das Süße der Blumen zur Speise und trank vom Tau, der jeden Morgen auf den Blättern lag. So verging Sommer und Herbst. Aber nun kam der Winter, der kalte, lange Winter. Alle Vögel, die so schön vor ihr gesungen hatten, flogen davon, Bäume und Blumen verdorrten; das große Klettenblatt, unter dem sie gewohnt hatte, schrumpfte zusammen und es blieb nichts, als ein gelber, verwelkter Stengel zurück; Däumelinchen fror erschrecklich, denn ihre Kleider waren entzwei und sie war selbst so fein und klein, sie mußte erfrieren. Es fing an zu schneien, und jede Schneeflocke, die auf sie fiel, war, als wenn man auf uns eine ganze Schaufel voll wirft, denn wir sind groß, und sie war nur einen Zoll lang. Da hüllte sie sich in ein verdorrtes Blatt ein, aber das wollte nicht wärmen; sie zitterte vor Kälte.

Dicht vor dem Walde, wohin sie nun gekommen war, lag ein großes Kornfeld, aber das Korn war schon lange abgeschnitten, nur die nackten, trockenen Stoppeln standen aus der gefrorenen Erde hervor. Sie waren gerade wie ein ganzer Wald für sie zu durchwandern und sie zitterte vor Kälte! Da gelangte sie vor die Thüre der Feldmaus, die ein kleines Loch unter den Kornstoppeln hatte. Da wohnte die Feldmaus warm und gut, hatte die ganze Stube voll Korn, eine herrliche Küche und Speisekammer. Das arme Däumelinchen stellte sich in die Thüre, gerade wie jedes andere arme Bettelmädchen, und bat um ein kleines Stück von einem Gerstenkorn, denn sie hatte in zwei Tagen nicht das Mindeste zu essen gehabt.

``Du kleines Wesen!'' sagte die Feldmaus, denn im Grunde war es eine gute alte Feldmaus, ``komm herein in meine warme Stube und iß mit mir!''

Da ihr nun Däumelinchen gefiel, sagte sie: ``Du kannst den Winter über bei mir bleiben, aber Du mußt meine Stube sauber und rein halten und mir Geschichten erzählen, denn die liebe ich sehr.'' Däumelinchen that, was die gute alte Feldmaus verlangte, und hatte es außerordentlich gut.

``Nun werden wir bald Besuch erhalten!'' sagte die Feldmaus. ``Mein Nachbar pflegt mich wöchentlich einmal zu besuchen. Er steht sich noch besser als ich, hat große Säle und trägt einen schönen, schwarzen Samtpelz! Wenn Du den zum Manne bekommen könntest, so wärest Du gut versorgt; aber er kann nicht sehen. Du mußt ihm die niedlichsten Geschichten erzählen, die Du weißt!''

Aber darum kümmerte sich Däumelinchen nicht, sie mochte den Nachbar gar nicht haben, denn er war ein Maulwurf.

Er kam und stattete den Besuch in seinem schwarzen Samtpelz ab. Er sei reich und gelehrt, sagte die Feldmaus; seine Wohnung war auch zwanzigmal größer, als die der Feldmaus. Gelehrsamkeit besaß er, aber die Sonne und die schönen Blumen mochte er gar nicht leiden, von diesen sprach er schlecht, denn er hatte sie noch nie gesehen.

Däumelinchen mußte singen, und sie sang: ``Maikäfer fliege!'' und: ``Geht der Pfaffe auf das Feld.'' Da wurde der Maulwurf in sie, der schönen Stimme wegen, verliebt, aber er sagte nichts, er war ein besonnener Mann.

Er hatte sich vor kurzem einen langen Gang durch die Erde von seinem bis zu ihrem Hause gegraben; in diesem erhielten die Feldmaus und Däumelinchen die Erlaubnis, zu spazieren, soviel sie wollten. Aber er bat sie, sich nicht vor dem toten Vogel zu fürchten, der in dem Gange liege; es war ein ganzer Vogel mit Federn und Schnabel, der sicher erst kürzlich gestorben und nun begraben war, gerade da wo er seinen Gang gemacht hatte.

Der Maulwurf nahm nun ein Stück faules Holz ins Maul, denn das schimmert ja wie Feuer im Dunkeln, ging dann voran und leuchtete ihnen in dem langen, dunkeln Gange. Als sie dahin kamen, wo der tote Vogel lag, stemmte der Maulwurf seine breite Nase gegen die Decke und stieß die Erde auf, sodaß ein großes Loch wurde, durch welches das Licht hinunter scheinen konnte. Mitten auf dem Fußboden lag eine tote Schwalbe, die schönen Flügel fest an die Seite gedrückt, die Füße und den Kopf unter die Federn gezogen; der arme Vogel war sicher vor Kälte gestorben. Das that Däumelinchen leid, sie hielt viel von allen kleinen Vögeln, sie hatten ja den ganzen Sommer so schön vor ihr gesungen und gezwitschert; aber der Maulwurf stieß ihn mit seinen kurzen Beinen und sagte: ``Nun pfeift er nicht mehr! Es muß doch erbärmlich sein, als kleiner Vogel geboren zu werden! Gott sei Dank, daß keins von meinen Kindern das wird; ein solcher Vogel hat ja außer seinem Quivit nichts, und muß im Winter verhungern!''

``Ja, das mögt Ihr als vernünftiger Mann wohl sagen,'' erwiderte die Feldmaus. ``Was hat der Vogel für all' sein Quivit, wenn der Winter kommt? Er muß hungern und frieren; doch das soll wohl vornehm sein!''

Däumelinchen sagte gar nichts; aber als die beiden andern dem Vogel den Rücken wandten, neigte sie sich herab, schob die Federn beiseite, welche den Kopf bedeckten, und küßte ihn auf die geschlossenen Augen.

``Vielleicht war er es, der so hübsch vor mir im Sommer sang,'' dachte sie. ``Wieviel Freude hat er mir nicht gemacht, der liebe, schöne Vogel!''

Der Maulwurf stopfte nun das Loch zu, durch welches der Tag hereinschien, und begleitete dann die Damen nach Hause. Aber nachts konnte Däumelinchen gar nicht schlafen; da stand sie von ihrem Bette auf und flocht von Heu einen großen, schönen Teppich, den trug sie zu dem Vogel, breitete ihn über denselben und legte weiche Baumwolle, welche sie in der Stube der Feldmaus gefunden hatte, an die Seiten des Vogels, damit er in der kalten Erde warm liegen möge.

``Lebe wohl, Du schöner, kleiner Vogel!'' sagte sie. ``Lebe wohl und habe Dank für Deinen herrlichen Gesang im Sommer, als alle Bäume grün waren und die Sonne warm auf uns herabschien!'' Dann legte sie ihr Haupt an des Vogels Brust, erschreckte aber zugleich, denn es war gerade, als ob drinnen etwas klopfte. Das war des Vogels Herz. Der Vogel war nicht tot, er lag nur betäubt da und war nun erwärmt worden und bekam wieder Leben.

Im Herbst fliegen alle Schwalben nach den warmen Ländern fort; aber ist da eine, die sich verspätet, so friert sie so, daß sie wie tot niederfällt, liegen bleibt, wo sie hinfällt, und der kalte Schnee sie bedeckt.

Däumelinchen zitterte heftig, so war sie erschrocken, denn der Vogel war ja groß, sehr groß gegen sie, die nur einen Zoll lang war; aber sie faßte doch Mut, legte die Baumwolle dichter um die arme Schwalbe, und holte ein Krausemünzblatt, welches sie selbst zum Deckblatt gehabt hatte, und legte es über den Kopf des Vogels.

In der nächsten Nacht schlich sie sich wieder zu ihm, und da war er nun lebendig, aber ganz matt, er konnte nur einen Augenblick seine Augen öffnen und Däumelinchen ansehen, die mit einem Stück faulen Holzes in der Hand, denn eine andere Laterne hatte sie nicht, vor ihm stand.

``Ich danke Dir, Du niedliches, kleines Kind!'' sagte die kranke Schwalbe zu ihr. ``Ich bin herrlich erwärmt worden; bald erhalte ich meine Kräfte zurück und kann dann wieder draußen in dem warmen Sonnenschein herumfliegen!''

``O,'' sagte Däumelinchen, ``es ist kalt draußen, es schneit und friert! Bleib in Deinem warmen Bette, ich werde Dich schon pflegen!''

Dann brachte sie der Schwalbe Wasser in einem Blumenblatt, und diese trank und erzählte ihr, wie sie ihren einen Flügel an einem Dornbusch gerissen und deshalb nicht so schnell habe fliegen können, als die andern Schwalben, welche fortgeflogen seien, weit fort nach den warmen Ländern. So sei sie zuletzt zur Erde gefallen. Mehr wußte sie nicht, und auch nicht, wie sie hierher gekommen war.

Den ganzen Winter blieb sie nun da unten, Däumelinchen pflegte sie und hatte sie lieb, weder der Maulwurf noch die Feldmaus erfuhr etwas davon, denn sie mochten die arme Schwalbe nicht leiden.

Sobald das Frühjahr kam und die Sonne die Erde erwärmte, sagte die Schwalbe Däumelinchen Lebewohl, die das Loch öffnete, welches der Maulwurf oben gemacht hatte. Die Sonne schien herrlich zu ihnen herein und die Schwalbe fragte, ob sie mitkommen wolle, sie könnte auf ihrem Rücken sitzen, sie wollten weit in den grünen Wald hineinfliegen. Aber Däumelinchen wußte, daß es die alte Feldmaus betrüben würde, wenn sie sie verließe.

``Nein, ich kann nicht!'' sagte Däumelinchen.

``Lebe wohl, lebe wohl, Du gutes, niedliches Mädchen!'' sagte die Schwalbe und flog hinaus in den Sonnenschein. Däumelinchen sah ihr nach und das Wasser trat ihr in die Augen, denn sie war der armen Schwalbe von Herzen gut.

``Quivit, quivit!'' sang der Vogel und flog in den grünen Wald. Däumelinchen war recht betrübt. Sie erhielt gar keine Erlaubnis, in den warmen Sonnenschein hinauszugehen. Das Korn, welches auf dem Felde, über dem Hause der Feldmaus gesäet war, wuchs auch hoch in die Luft empor; das war ein ganz dichter Wald für das arme, kleine Mädchen, das nur einen Zoll lang war.

``Nun sollst Du im Sommer Deine Aussteuer nähen!'' sagte die Feldmaus zu ihr; denn der Nachbar, der langweilige Maulwurf in dem schwarzen Samtpelze, hatte um sie gefreit. ``Du mußt sowohl Wollen-wie Leinenzeug haben, denn es darf Dir an nichts fehlen, wenn Du des Maulwurfs Frau wirst!''

Däumelinchen mußte auf der Spindel spinnen, und die Feldmaus mietete vier Spinnen, welche Tag und Nacht für sie spannen und webten. Jeden Abend besuchte sie der Maulwurf und sprach dann immer davon, daß, wenn der Sommer zu Ende gehe, die Sonne lange nicht so warm scheinen werde, sie brenne ja jetzt die Erde fest wie einen Stein; ja, wenn der Sommer vorbei sei, dann wolle er mit Däumelinchen Hochzeit halten. Aber sie war gar nicht erfreut darüber, denn sie mochte den langweiligen Maulwurf nicht leiden. Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, und jeden Abend, wenn sie unterging, stahl sie sich zur Thür hinaus, und wenn dann der Wind die Kornähren trennte, sodaß sie den blauen Himmel erblicken konnte, dachte sie daran, wie hell und schön es hier draußen sei, und wünschte sehnlichst, die liebe Schwalbe wiederzusehen; aber die kam nicht wieder; sie war gewiß weit weg in den schönen grünen Wald gezogen.

Als es nun Herbst wurde, hatte Däumelinchen ihre ganze Aussteuer fertig.

``In vier Wochen sollst Du Hochzeit halten!'' sagte die Feldmaus. Aber Däu\-me\-lin\-chen weinte und sagte, sie wolle den langweiligen Maulwurf nicht haben.

``Schnickschnack!'' sagte die Feldmaus. ``Werde nicht widerspenstig, denn sonst werde ich Dich mit meinen weißen Zähnen beißen! Es ist ja ein schöner Mann, den Du bekommst! Die Königin selbst hat keinen solchen schwarzen Samtpelz! Er hat Küche und Keller voll. Danke Du Gott für ihn!''

Nun sollten sie Hochzeit haben. Der Maulwurf war schon gekommen, Däu\-me\-lin\-chen zu holen; sie sollte bei ihm wohnen, tief unter der Erde, nie an die warme Sonne herauskommen, denn die mochte er nicht leiden. Das arme Kind war sehr betrübt; sie sollte nun der schönen Sonne Lebewohl sagen, die sie doch bei der Feldmaus hatte von der Thür aus sehen dürfen.

``Lebe wohl, Du helle Sonne!'' sagte sie, streckte die Arme hoch empor und ging auch eine kleine Strecke weiter vor dem Hause der Feldmaus; denn nun war das Korn geerntet, und hier standen nur die trockenen Stoppeln. ``Lebe wohl, lebe wohl!'' sagte sie und schlang ihre Arme um eine kleine rote Blume, die da stand. ``Grüße die kleine Schwalbe von mir, wenn Du sie zu sehen bekommst!''

``Quivit, quivit!'' ertönte es plötzlich über ihrem Kopfe, sie sah empor, es war die kleine Schwalbe, die gerade vorbei kam. Sobald sie Däumelinchen erblickte, wurde sie sehr erfreut; diese erzählte ihr, wie ungern sie den häßlichen Maulwurf zum Manne haben wolle, und daß sie dann tief unter der Erde wohnen solle, wo nie die Sonne scheine. Sie konnte sich nicht enthalten, dabei zu weinen.

``Nun kommt der kalte Winter,'' sagte die kleine Schwalbe; ``ich fliege weit fort nach den warmen Ländern, willst Du mit mir kommen? Du kannst auf meinem Rücken sitzen! Binde Dich nur mit Deinem Gürtel fest, dann fliegen wir von dem häßlichen Maulwurf und seiner dunkeln Stube fort, weit über die Berge, nach den warmen Ländern, wo die Sonne schöner scheint als hier, wo es immer Sommer ist und herrliche Blumen giebt. Fliege nur mit mir, Du liebes, kleines Däumelinchen, die mein Leben gerettet hat, als ich wie tot in dem dunkeln Erdkeller lag!''

``Ja, ich werde mit Dir kommen!'' sagte Däumelinchen und setzte sich auf des Vogels Rücken, mit den Füßen auf seine entfalteten Schwingen, band ihren Gürtel an einer der stärksten Federn fest, und da flog die Schwalbe hoch in die Luft hinauf, über Wald und über See, hoch hinauf über die großen Berge, wo immer Schnee liegt; Däumelinchen fror in der kalten Luft, aber dann verkroch sie sich unter des Vogels warmen Federn und streckte nur den kleinen Kopf hervor, um all' die Schönheiten unter sich zu bewundern.

Da kamen sie denn nach den warmen Ländern. Dort schien die Sonne weit klarer als hier, der Himmel war zweimal so hoch, und an Gräben und Hecken wuchsen die schönsten, grünen und blauen Weintrauben. In den Wäldern hingen Citronen und Apfelsinen, hier duftete es von Myrten und Krausemünze, auf den Landstraßen liefen die niedlichsten Kinder und spielten mit großen, bunten Schmetterlingen. Aber die Schwalbe flog noch weiter fort, und es wurde schöner und schöner. Unter den herrlichsten grünen Bäumen an dem blauen See stand ein blendend weißes Marmorschloß aus noch alten Zeiten. Weinreben rankten sich um die hohen Säulen empor; ganz oben waren viele Schwalbennester, und in einem derselben wohnte die Schwalbe, welche Däumelinchen trug.

``Hier ist mein Haus!'' sagte die Schwalbe. ``Aber willst Du Dir nun selbst eine der prächtigsten Blumen, die da unten wachsen, aussuchen, dann will ich Dich hineinsetzen und Du sollst es so gut haben, wie Du es nur wünschest!''

``Das ist herrlich!'' sagte Däumelinchen und klatschte in die kleinen Hände.

Da lag eine große, weiße Marmorsäule, welche zu Boden gefallen und in drei Stücke gesprungen war, aber zwischen diesen wuchsen die schönsten, großen, weißen Blumen. Die Schwalbe flog mit Däumelinchen hinunter und setzte sie auf eins der breiten Blätter. Aber wie erstaunte diese! Da saß ein kleiner Mann mitten in der Blume, so weiß und durchsichtig, als wäre er von Glas; die niedlichste Goldkrone trug er auf dem Kopfe und die herrlichsten, klaren Flügel an den Schultern, er selbst war nicht größer als Däumelinchen. Es war der Blume Engel. In jeder Blume wohnte so ein kleiner Mann oder eine Frau, aber dieser war der König über alle.

``Gott, wie ist er schön!'' flüsterte Däumelinchen der Schwalbe zu. Der kleine Prinz erschrak sehr über die Schwalbe, denn sie war gegen ihn, der so klein und fein war, ein Riesenvogel; aber als er Däumelinchen erblickte, wurde er hocherfreut; sie war das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte. Deswegen nahm er seine Goldkrone vom Haupte und setzte sie ihr auf, fragte, wie sie heiße und ob sie seine Frau werden wolle, dann solle sie Königin über alle Blumen werden! Ja, das war wahrlich ein anderer Mann als der Sohn der Kröte und der Maulwurf mit dem schwarzen Samtpelze. Sie sagte deshalb ja zu dem herrlichen Prinzen, und von jeder Blume kam eine Dame oder ein Herr, so niedlich, daß es eine Lust war; jeder brachte Däumelinchen ein Geschenk, aber das beste von allen waren ein Paar schöne Flügel von einer großen, weißen Fliege; sie wurden Däumelinchen am Rücken befestigt, und nun konnte sie auch von Blume zu Blume fliegen. Da gab es viele Freude, und die Schwalbe saß oben in ihrem Neste und sang ihnen vor, so gut sie konnte; aber im Herzen war sie doch betrübt, denn sie war Däumelinchen gut und hätte sich nie von ihr trennen mögen.

``Du sollst nicht Däumelinchen heißen!'' sagte der Blumenengel zu ihr. ``Das ist ein häßlicher Name und Du bist schön. Wir wollen Dich Maja nennen.''

``Lebe wohl, lebe wohl!'' sagte die kleine Schwalbe und flog wieder fort von den warmen Ländern, weit weg nach Deutschland zurück; dort hatte sie ein kleines Nest über dem Fenster, wo der Mann wohnt, der Märchen erzählen kann, vor ihm sang sie ``Quivit, quivit!'' Daher wissen wir die ganze Geschichte.

Ib und die kleine Christine

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\AMsection{Ib und die kleine Christine}

Bei Gudenaa, im Walde von Silkeborg, erhebt sich wie ein großer Wall ein Landrücken und am Fuße dieses Landrückens nach Westen zu, lag und liegt noch heute ein kleines Bauernhaus mit einigen mageren Feldern; der Sand schimmerte allerorten unter dem dünnen Roggen- und Gerstenboden hervor.

Es sind nun ein gut Teil Jahre vergangen seitdem. Die Leute, die hier wohnten, bebauten ihren kleinen Acker und hielten drei Schafe, ein Schwein und zwei Ochsen; kurz gesagt, sie konnten recht wohl davon leben, wenn sie bescheidene Ansprüche stellten. Ja, sie hätten es wohl auch dazu bringen können, ein paar Pferde zu halten; aber sie sagten wie die anderen Bauern auch: ``Das Pferd frißt sich selbst auf.'' --- Es zehrt das Gute, was es schafft, reichlich wieder auf. Jeppe-Jäns beackerte sein kleines Feld im Sommer selbst und während des Winters war er ein flinker Holzschuhmacher. Dazu hatte er auch einen Gehülfen, einen Knecht, der es verstand, die Holzschuhe zurechtzuschneiden, so daß sie sowohl fest, als auch leicht und wohlgeformt waren. Löffel und Schuhe schnitzten sie, das brachte Geld; man konnte Jeppe-Jäns nicht zu den armen Leuten zählen.

Der kleine Ib, ein siebenjähriger Knabe, das einzige Kind des Hauses, saß dabei und sah zu, er schnitzte an einem Stecken, schnitt sich auch wohl in den Finger; aber eines Tages hatte er zwei Stücken Holz zurechtgeschnitzt, die kleinen Schuhen gleich sahen. Sie sollten, so sagte er, der kleinen Christine geschenkt werden; das war des Schiffers kleine Tochter. Sie war fein und zart wie vornehmer Leute Kind. Hätte sie Kleider gehabt, die ihrer lieblichen Erscheinung angemessen waren, so hätte niemand geglaubt, daß sie aus dem Torfhaus in der Seiser Heide stamme. Dort drüben wohnte ihr Vater. Er war Witwer und ernährte sich damit, aus dem Walde Brennholz nach Silkeborg, ja, oft noch weiter hinauf zu schiffen. Er hatte niemand, der auf die kleine Christine, die ein Jahr jünger als Ib war, geachtet hätte, und so war sie fast immer bei ihm auf dem Kahn oder zwischen dem Heidekraut und den Preißelbeerbüschen; und ging es einmal ganz bis nach Randers hinauf, so kam die kleine Christine zu Jeppe-Jäns hinüber.

Ib und die kleine Christine vertrieben sich prächtig die Zeit mit spielen und essen. Sie wühlten und gruben, sie krochen und liefen, und eines Tages wagten sich die beiden allein gar auf den Landrücken und ein Stück in den Wald hinein. Dort fanden sie Schnepfeneier; das war eine große Begebenheit.

Ib war bisher noch niemals aus der Seiser Heide fortgewesen, niemals war er durch die Seen geschifft bis nach Gudenaa aber nun sollte es geschehen; der Schiffer hatte ihn eingeladen, und am Abend vorher kam er mit zu des Schiffers Hause.

Auf den hochaufgestapelten Brennholzstücken im Schiffe saßen die Kinder schon am frühen Morgen und aßen Brot und Himbeeren. Der Schiffer und sein Knecht schoben sich mit ihren Staken vorwärts; es ging mit dem Strome in rascher Fahrt den Fluß hinab, durch Seen, die ganz von Wald und Schilf umschlossen schienen; aber zuletzt fand sich doch immer eine Durchfahrt, ob auch die alten Bäume sich tief zu ihnen niederbogen und die Eichen ihre trockenen Äste ihnen entgegenstreckten, als hätten sie die Ärmel hochgestreift, um ihre nackten, knorrigen Arme zu zeigen. Alte Erlen, die der Strom vom Ufer gelöst hatte, hielten sich mit den Wurzeln am Boden fest und sahen wie kleine Waldinseln aus. Die Seerosen wiegten sich auf dem Wasser; es war eine herrliche Fahrt. --- Und dann kam man zu der Aalfangstätte, wo das Wasser durch die Schleusen brauste. Das war etwas für Ib und die kleine Christine zum Schauen.

Damals war dort unten weder Fabrik noch Stadt, es stand dort nur das alte Gehöft mit dem Stauwerk, und die Besetzung war nicht stark. Der Fall des Wassers durch die Schleusen und der Schrei der Wildente waren damals fast die einzigen Laute, die das Schweigen der Natur unterbrachen. Als nun das Holz ausgeladen war, kaufte Christines Vater sich ein großes Bund Aale und ein kleines geschlachtetes Ferkel, und alles zusammen wurde in einen Korb hinten auf dem Schiffe verstaut. Nun ging es stromaufwärts heim; aber der Wind kam von hinten, und als sie das Segel aufgesetzt hatten, ging es ebensogut, als hätten sie zwei Pferde vorgespannt.

Als sie mit dem Kahn bis an die Stelle im Walde gelangt waren, von wo der Knecht nur ein kurzes Stückchen zu laufen hatte, um zu seinem Hause zu kommen, gingen er und Christines Vater an Land, nachdem den Kindern anbefohlen war, sich ruhig und vorsichtig zu verhalten. Das taten sie jedoch nicht lange; sie mußten in den Korb gucken, in dem die Aale und das Ferkel aufbewahrt waren, und das Schwein mußten sie herausnehmen und wollten es halten, und da beide es halten wollten, ließen sie es fallen, und zwar gerade ins Wasser. Da trieb es mit dem Strome dahin, es war ein schreckliches Ereignis.

Ib sprang ans Land und lief ein kleines Stückchen am Ufer entlang, dann kam auch Christine. ``Nimm mich mit'' rief sie und bald waren sie im Gebüsch verschwunden. Der Kahn und der Fluß waren nicht mehr zu sehen; ein kleines Stück liefen sie noch weiter, dann fiel Christine und weinte; Ib hob sie auf.

``Komm nur mit'' sagte er. ``Das Haus liegt dort drüben!'' Aber es lag nicht dort drüben. Sie gingen weiter und weiter über welkes Laub und dürre abgefallene Zweige, die unter ihren kleinen Füßen knackten. Nun hörten sie ein starkes Rufen --- sie standen still und lauschten; ein Adler schrie, es war ein häßlicher Schrei, und sie erschraken heftig. Aber vor ihnen im Walde wuchsen die prächtigsten Blaubeeren, eine ganz unglaubliche Menge; es war allzu einladend, um nicht zu verweilen, und sie blieben und aßen und wurden ganz blau um Mund und Wangen. Nun hörten sie wieder einen Ruf.

``Wir bekommen Schläge für das Ferkel'' sagte Christine.

``Laß uns zu mir nachhause gehen'' sagte Ib, ``Das muß hier im Walde sein.'' Und sie gingen und kamen auf einen Fahrweg, aber heim führte er nicht; es wurde dunkel und sie fürchteten sich. Die seltsame Stille ringsum wurde von dem dumpfen Schrei der Horneulen und anderen unbekannten Vogellauten unterbrochen. Endlich saßen beide in einem Busche fest; Christine weinte und Ib, weinte, und als sie beide wohl eine Stunde geweint hatten, legten sie sich ins Laub und schliefen ein.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie erwachten. Sie froren, aber dicht dabei auf dem Hügel oben schien die Sonne zwischen den Bäumen hindurch, dort konnten sie sich wärmen und von dort aus, meinte Ib, müßten sie auch ihrer Eltern Haus erblicken können. Aber sie waren weit davon entfernt in einem ganz anderen Teil des Waldes. Sie kletterten den Hügel ganz hinauf und standen nun vor einem Abhang an einem klaren, durchsichtigen See, in dem es von Fischen wimmelte, die in der hellen Sonne blitzten. Was sie sahen, war so unerwartet, und dicht daneben stand auch ein großer Busch voller Nüsse; und sie pflückten und knackten und aßen die feinen Kerne, die eben in der Bildung begriffen waren --- und dann kam noch eine Überraschung, ein Schrecken. Aus den Büschen hervor trat ein großes, altes Weib, deren Antlitz braun und deren Haare glänzend und schwarz waren; das Weiße in ihren Augen leuchtete wie bei einem Mohren. Sie hatte ein Bündel auf dem Rücken und einen Knotenstock in der Hand; es war eine Zigeunerin. Die Kinder verstanden nicht gleich, was sie sagte. Da nahm sie drei große Nüsse aus ihrer Tasche, in einer jeden lägen die herrlichsten Dinge versteckt, erzählte sie, es seien Wünschelnüsse.

Ib sah sie an, sie war so freundlich, und dann faßte er sich ein Herz und fragte, ob er die Nüsse haben dürfe, und das Weib gab sie ihm und pflückte sich eine ganze Tasche voll Nüsse von dem Busch.

Und Ib und Christine saßen mit großen Augen und sahen die drei Wünschelnüsse an.

``Ist in dieser ein Wagen mit Pferden davor?'' fragte Ib.

``Es ist sogar ein goldener Wagen mit goldenen Pferden'' sagte das Weib.

``Dann gib sie mir'' sagte die kleine Christine, und Ib gab sie ihr, während die Frau die Nüsse in ihr Halstuch knüpfte.

``Ist in dieser hier, so ein hübsches kleines Halstuch, wie Christine es hat?'' fragte Ib.

``Es sind zehn Halstücher darin'' sagte das Weib, ``auch feine Kleider und Strümpfe und ein Hut.''

``Dann will ich sie auch haben'' sagte Christine, und der kleine Ib gab ihr auch die andere Nuß; die dritte war eine kleine schwarze.

``Die kannst Du behalten!'' sagte Christine, ``sie ist ja auch ganz hübsch.''

``Und was ist in dieser?'' fragte Ib.

``Das allerbeste für Dich'' sagte das Zigeunerweib.

Und Ib hielt die Nuß fest. Das Weib versprach ihnen, sie auf den rechten Weg nach Hause zu führen, und sie gingen, aber freilich gerade in entgegengesetzter Richtung, als sie hätten gehen müssen. Aber deshalb darf man sie noch nicht beschuldigen, daß sie es darauf anlegte, Kinder zu stehlen.

Mitten im dichten Walde trafen sie den Waldläufer Chrän, der Ib kannte, und durch ihn wurden Ib und die kleine Christine wieder nach Hause gebracht, wo man in großer Angst um sie war. Aber es wurde ihnen verziehen, obwohl sie beide tüchtig die Rute verdient hätten, einmal weil sie das Ferkel hatten ins Wasser fallen lassen, und sodann, weil sie davongelaufen waren.

Christine kam heim in die Heide, und Ib blieb in dem kleinen Waldhaus. Das erste, was er dort am Abend tat, war, daß er die Nuß hervorholte, die das ``Allerbeste'' enthielt. --- Er legte sie zwischen Tür und Türrahmen, klemmte dann zu und die Nuß knackte. Aber nicht einmal ein Kern war darin. Sie war mit einer Art Schnupftabak oder Torferde gefüllt; sie hatte den Wurmstich, wie man es nennt.

``Ja, das hätte ich mir wohl denken können!'' meinte Ib. ``Wo sollte auch in der kleinen Nuß Platz für das Allerbeste sein. Christine bekommt ihre feinen Kleider oder die goldene Kutsche auch nicht zu sehen aus ihren zwei Nüssen.''

Und der Winter kam und das neue Jahr kam.

Es vergingen mehrere Jahre. Ib sollte Konfirmationsunterricht beim Pfarrer haben, und der wohnte weit entfernt. In jener Zeit kam eines Tages der Schiffer und erzählte bei Ibs Eltern, daß die kleine Christine nun aus dem Hause solle, um ihr Brot zu verdienen. Es sei ein wahres Glück für sie, daß sie in gute Hände käme, sie habe bereits eine Stellung bei recht braven Leuten. Sie solle zu den reichen Krugwirtsleuten in Herning, das weiter nach Westen lag, ziehen. Dort solle sie der Hausfrau zur Hand gehen und später, wenn sie sich schickte und eingesegnet war, wollten sie sie behalten.

Ib, und Christine nahmen Abschied voneinander; sie wurden jetzt als versprochen angesehen. Sie zeigte ihm beim Abschied, daß sie noch immer die beiden Nüsse habe, die sie damals von ihm bekommen hatte, als sie verirrt im Walde umherliefen; sie sagte auch, daß sie in ihrer Wäschekiste die kleinen Holzschuhe aufbewahrte, die er als Knabe geschnitzt und ihr geschenkt hätte. Dann schieden sie.

Ib wurde eingesegnet, aber er blieb in seiner Mutter Haus; denn er war ein geschickter Holzschuhmacher und bearbeitete auch im Sommer das kleine Ackerfeld, daß es aufs beste gedieh. Seine Mutter hatte nur noch ihn, Ibs Vater war tot.

Nur selten, und dann durch einen Postboten oder durch einen Aalhändler, hörte man von Christine. Es ging ihr gut bei dem reichen Krugwirte, und als sie eingesegnet war, schrieb sie an ihren Vater einen Brief mit einem Gruße auch an Ib und seine Mutter. Im Briefe stand noch von sechs neuen Hemden und einem herrlichen Kleid, das Christine von ihrer Herrschaft bekommen hatte. Das waren wirklich gute Nachrichten.

Im nächsten Frühjahr, an einem schönen Tage, klopfte es an Ibs und seiner Mutter Tür. Es war der Schiffer mit Christine. Sie war für einen Tag zu Besuch gekommen. Es hatte sich gerade Gelegenheit zu einer Fahrt bis in die Nähe und wieder zurück geboten, und die hatte sie benützt. Sie war hübsch und sah wie ein feines Fräulein aus. Und schöne Kleider hatte sie an, die gut gearbeitet waren und zu ihr paßten. Da stand sie nun in ihrem vollen Staat, und Ib war in seiner alten Werktagskleidung. Er konnte gar keine Worte finden. Wohl nahm er ihre Hand, hielt sie fest und war so herzlich froh, aber den Mund konnte er nicht gebrauchen. Dafür konnte es die kleine Christine um so besser, und sie sprach und hatte so viel zu erzählen und küßte Ib mitten auf den Mund.

``Kennst Du mich auch wieder?'' fragte sie. Aber selbst als sie beide allein waren und er noch immer mit ihrer Hand in der, seinen stand, war alles, was er sagen konnte: ``Du bist ja eine feine Dame geworden! Und ich sehe so armselig dagegen aus. Wie oft ich an Dich gedacht habe. An Dich und die alten Zeiten.''

Und dann gingen sie Arm in Arm den Hügel hinauf und schauten über Gudenaa nach der Seiser Heide mit den großen Heidehügeln hin, aber Ib sagte nichts. Doch als sie sich trennten, war er sich darüber klar geworden, daß sie seine Frau werden müsse; sie waren ja von klein auf Liebesleute genannt worden und waren, so schien es ihm, ein verlobtes Paar, obgleich keines von ihnen selbst es gesagt hatte.

Nur einige Stunden noch konnten sie zusammen sein, denn sie mußte wieder dorthin, von wo am nächsten Morgen der Wagen abfuhr. Der Vater und Ib begleiteten sie. Es war heller Mondschein und als sie angekommen waren, hielt Ib, noch immer ihre Hand und konnte sie nicht loslassen. In seinen Augen stand sein ganzes Herz geschrieben, aber die Worte fielen nur spärlich, doch jedes einzige kam aus innerstem Herzen: ``Wenn Du Dich nicht zu fein gewöhnt hast,'' sagte er, ``und Du könntest Dir denken, in unserer Mutter Haus mit mir als Deinem Ehemann zu leben, dann werden wir beiden einmal Mann und Frau --- aber wir können ja noch ein wenig warten!''

``Ja, laß uns die Zeit abwarten, Ib!'' sagte sie; und dann drückte sie seine Hand und er küßte sie auf den Mund. ``Ich vertraue auf Dich, Ib!'' sagte Christine, ``und ich glaube, daß ich Dich lieb habe! Aber laß es mich beschlafen!''

Dann schieden sie. Ib sagte zu dem Schiffer, daß er und Christine nun so gut wie verlobt seien, und der Schiffer fand, daß es so wäre, wie er es sich gedacht bebe; und er ging mit Ib nach Hause und schlief dort in einem Bett mit ihm, und es wurde über die Verlobung nicht mehr gesprochen.

Ein Jahr war darüber vergangen; zwei Briefe waren zwischen Ib, und Christine gewechselt worden; ``Treu bis zum Tode!'' stand als Unterschrift darin. Eines Tages trat der Schiffer zu Ib herein, er brachte ihm einen Gruß von Christine; was er weiter zu sagen hatte, ging ihm ein wenig schwer von der Zunge, aber es war daraus zu entnehmen, daß es Christine wohl gehe, mehr als wohl sogar, sie wäre ja ein hübsches Mädchen und geachtet und beliebt. Des Krugwirts Sohn wäre zu einem Besuch zu Hause gewesen; er wäre in Kopenhagen in einem Kontor beschäftigt und habe dort eine große Stellung. Er möge Christine wohl leiden und sie fände ihn auch nach ihrem Sinn, seine Eltern wären ebenfalls nicht dagegen, aber es lag doch Christine schwer auf dem Herzen, daß wohl Ib noch immer an sie dächte, und so hätte sie beschlossen, das Glück von sich zu stoßen, sagte der Schiffer.

Ib sagte zuerst kein Wort, aber er wurde so weiß wie ein leinenes Tuch; dann schüttelte er den Kopf und sagte: ``Christine darf ihr Glück nicht von sich stoßen!''

``Schreibe ihr das in ein paar Worten!'' sagte der Schiffer.

Und Ib schrieb, aber er konnte nicht recht die Worte setzen, wie er wollte und strich durch und zerriß, aber am Morgen war ein Brief an die kleine Christine zustande gebracht, und hier ist er.

\AMquote{
        ``Den Brief an Deinen Vater habe ich gelesen und sehe daraus,
        daß es Dir in jeder Beziehung wohl geht und Du es noch besser
        haben könntest! Frage Dein Herz, Christine! und bedenke wohl,
        was Deiner wartet, wenn Du mich nimmst! Was mein ist, ist nur
        geringe. Denke nicht an mich und wie ich es tragen werde,
        denke nur an Deinen eigenen Nutzen. An mich bist Du durch
        kein Versprechen gebunden, und hast Du mir in Deinem Herzen
        eins gegeben, so löse ich Dich davon. Alles Glück der Welt
        sei mit Dir, kleine Christine. Der liebe Gott wird wohl auch
        für mein Herz Trost wissen.

        Immer Dein aufrichtiger Freund

        Ib.''
}

Und der Brief wurde abgesandt und Christine bekam ihn.

Um Martini wurde sie in der Kirche in der Seiser Heide und in Kopenhagen, wo der Bräutigam war, aufgeboten, und dorthin reiste sie mit ihrer Schwiegermutter, da der Bräutigam wegen seiner vielen Geschäfte nicht so weit fortreisen konnte. Christine war, wie verabredet, mit ihrem Vater in einem kleinen Dorfe, das auf ihrem Wege lag, zusammengetroffen; dort nahmen sie voneinander Abschied. Es fielen darüber ein paar Worte, aber Ib sagte nichts dazu, er wäre so nachdenklich geworden, sagte seine alte Mutter. Ja, nachdenklich war er, und deshalb kamen ihm auch die drei Nüsse nicht aus dem Sinn, die er als Kind von der Zigeunerin bekommen und von denen er zwei Christine abgegeben hatte. Es waren wirklich Wünschelnüsse gewesen. In den ihren hatten ja ein goldener Wagen und Pferde und schöne Kleider gelegen; es traf bei ihr zu. All diese Herrlichkeiten sollte sie nun drüben in Kopenhagen haben! Bei ihr ging es in Erfüllung. --- Für Ib war in der Nuß nur der schwarze Staub. ``Das Allerbeste'' für ihn, hatte das Zigeunerweib zu ihm gesagt, --- ja, auch das ging in Erfüllung. Der schwarze Staub war für ihn das Beste. Nun verstand er deutlich, was das Weib damit gemeint hatte: die schwarze Erde, des Grabes Stille waren für ihn das Allerbeste. Und es vergingen Jahre darüber --- nicht viele, aber Ib, erschienen sie lang. Die alten Krugwirtsleute starben, einer kurz nach dem anderen; das ganze Vermögen, viele tausend Reichstaler, ging auf den Sohn über. Ja, nun konnte Christine wohl eine Kutsche und schöne Kleider bekommen!

Zwei lange Jahre hindurch, die nun folgten, kam kein Brief von Christine, und als dann der Vater einen bekam, war er nicht mehr in Wohlstand und Vergnügen geschrieben. Arme Christine! Weder sie noch ihr Mann hatten es verstanden, mit dem Reichtum Maß zu halten, er verging, wie er gekommen war, es ruhte kein Segen darauf; sie hatten es selbst so gewollt.

Die Heide stand in Blüte und die Heide verdorrte wieder. Der Schnee hatte manchen Winter über die Heide gefegt und über die Anhöhe, in deren Schutz Ib wohnte. Die Frühjahrssonne schien und Ib ließ den Pflug durch die Erde ziehen. Da stieß er damit, wie es ihm schien, an einen Feuerstein. Es kam ein großer, schwarzer Hobelspan über die Erde hervor, und als Ib ihn in die Hand nahm, fühlte er, daß er von Metall war, und an der Stelle, wo der Pflug daran geschlagen war, blitzte es blank. Es war ein schwerer goldener Armring aus dem heidnischen Altertum. Ein Hünengrab war hier geebnet worden und sein kostbarer Schmuck gefunden. Ib zeigte ihn dem Pfarrer, der ihm sagte, was das für ein herrliches und wertvolles Stück sei, und von ihm ging Ib, zum Landrat, der darüber nach Kopenhagen berichtete und Ib, anriet, den kostbaren Fund selbst zu überbringen.

``Du hast in der Erde das Köstlichste gefunden, was sie Dir zu geben vermag!'' sagte ihm der Landrat.

``Das Beste'' dachte Ib, ``Das Allerbeste für mich --- in der Erde. Dann hatte das Zigeunerweib also auch mit mir recht, wenn dies das Beste war.''

Und Ib, fuhr mit der Fähre von Aarhuus nach Kopenhagen; es war für ihn, der bisher nur nach Gudenaa hinübergekommen war, wie eine Reise übers Weltmeer. Und er kam nach Kopenhagen.

Der Wert des gefundenen Goldes wurde ihm ausbezahlt; es war eine große Summe, sechshundert Reichstaler. Da wanderte nun Ib, aus dem Walde bei der Seiser Heide- in dem großen, lärmenden Kopenhagen umher.

Es war gerade an dem Abend, als er mit einem Schiffer wieder nach Aarhuus zurückfahren wollte, als er sich in den Straßen verirrte und in eine ganz andere Richtung geriete als er eigentlich wollte. Er war über die Knippelsbrücke nach Christianshafen gekommen anstatt zum Walle beim Westtor. Er war ganz richtig nach Westen gesteuert, aber nicht dorthin, wohin er sollte. Nicht ein Mensch war in den Straßen zu sehen. Da kam ein ganz kleines Mädchen aus einem der ärmlichen Häuser. Ib fragte sie nach dem Wege und die Kleine blickte auf. Da sah er, daß sie heftig weinte. Nun fragte er sie, was ihr fehle; sie sagte etwas, was er nicht verstand, und als sie beide unter eine Laterne kamen, deren Schein ihr Gesichtchen beleuchtete, wurde es ihm ganz wunderlich zumute; denn es war leibhaftig die kleine Christine, die da vor ihm stand, ganz wie er sich ihrer erinnerte, als sie beide noch Kinder waren.

Und er ging mit dem kleinen Mädchen in das ärmliche Haus, die schmale, ausgetretene Treppe hinauf bis zu einer kleinen, verkommenen Kammer hoch oben unter dem Dache. Es war eine schwere stickige Luft darin, kein Licht war entzündet, und in einer Ecke seufzte es und mühsame Atemzüge drangen daraus hervor. Ib strich ein Zündholz an. Es war die Mutter des Kindes, die in dem ärmlichen Bette lag.

``Kann ich Euch mit irgendetwas helfen?'' sagte Ib. ``Die Kleine hat mich auf der Straße getroffen, aber ich bin selbst fremd hier in der Stadt. Ist hier kein Nachbar oder irgend jemand, den ich Euch rufen könnte?'' --- Und er richtete ihr Haupt in die Höhe.

Es war Christine aus der Seiser Heide.

Jahre hindurch war ihr Name daheim in Jütland nicht mehr genannt worden, es würde Ibs stillen Gedankengang aufgerührt haben, und es war ja auch nichts Gutes, was Gerücht und Wahrheit meldeten, daß das viele Geld, das ihr Mann von seinen Eltern geerbt hatte, ihn übermütig und leichtlebig gemacht hätte. Er hatte seine feste Stellung aufgegeben und war ein halbes Jahr im Auslande umhergereist, dann kehrte er zurück, machte Schulden über Schulden, der Wagen neigte sich immer mehr und endlich stürzte er um. Seine vielen lustigen Tischfreunde sagten von ihm, es sei ihm nur nach Verdienst geschehen, er habe ja darauf los gelebt wie ein Narr. Eines Morgens war seine Leiche im Schloßkanal gefunden worden.

Nach seinem Tode ging Christine in sich; ihr jüngstes Kindchen, im Wohlstand empfangen, im Elend geboren, war, nur einige Wochen alt, gestorben und ruhte im Grabe, und jetzt war es mit Christine so weit gekommen, daß sie todkrank und verlassen in einer elenden Kammer lag, so elend, wie sie es in ihren jungen Jahren in der Seiser Heide wohl hätte ertragen können; aber nun, da sie es besser gewöhnt war, fühlte sie ihr Elend doppelt. Es war ihr ältestes Kind, auch eine kleine Christine, die Not und Hunger mit ihr litt und die Ib zu ihr heraufgebracht hatte.

``Ich habe Angst für das arme Kind, wenn ich sterbe'' brachte sie seufzend hervor, ``wo in aller Welt soll es dann hin.'' --- Mehr konnte sie nicht sagen.

Ib brannte wieder ein Zündhölzchen an und fand einen Lichtstumpf, den er anzündete, nun fiel der trübe Lichtschein auf all das Elend in der Kammer.

Ib sah des kleine Mädchen an und dachte an Christine in ihren jungen Jahren. Um Christines willen konnte er ja an diesem Kinde, das er nicht kannte, Gutes tun. Die Sterbende sah ihn an, ihre Augen wurden größer und größer. --- Erkannte sie ihn? Nie erfuhr er das, kein Wort mehr hörte er sie sprechen.

Es war im Walde bei Gudenaa in der Seiser Heide; die Luft war grau, die Heide stand ohne Blüten. Die Weststürme trieben das gelbe Laub der Wälder in den Fluß und über die Heide, wo das Torfhaus stand. Fremde Leute wohnten darin; aber am Fuße des Landrückens, im Schutze hoher Bäume, stand das kleine Haus, weiß und schmuck. Im Kachelofen in der Stube brannten Torfstücken, in der Stube hier war Sonnenschein, er strahlte aus zwei Kinderaugen, Frühling und Lerchengezwitscher klangen aus dem roten, lachenden Mund, Leben und Fröhlichkeit herrschten hier; es war die kleine Christine, die auf Ibs Knien saß. Ib war ihr Vater und Mutter, die beide von ihr gegangen waren, wie ein Traum vergeht. Ib saß in dem netten, reinlichen Hause, ein wohlhabender Mann; die Mutter des kleinen Mädchens lag auf dem Armenfriedhof in der Königstadt Kopenhagen.

Ib hatte Geld im Kasten, sagte man. Gold aus der Erde, und er hatte ja auch die kleine Christine.

Das Bronzeschwein

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\AMsection{Das Bronzeschwein}

In der Stadt Florenz, nicht weit von der Piazza del Granduca, liegt eine kleine Querstraße, ich glaube, man nennt sie Porta rossa. In dieser, vor einer Art Grünkramladen, befindet sich ein kunstreich und sorgfältig gearbeitetes Bronzeschwein. Ein frisches, klares Wässerlein rieselt aus dem Maul des Tieres, das vor Alter ganz schwarzgrün aussieht. Nur der Rüssel glänzt, als ob er blankpoliert sei, und das ist er auch, denn die vielen hundert Kinder und Lazzaroni fassen ihn mit ihren Händen an und setzen ihren Mund an sein Maul, um zu trinken. Es gibt ein hübsches Bild, wenn so ein anmutiger halbnackter Knabe das wohlgeformte Tier umarmt und seinen frischen Mund an dessen Rüssel jetzt.

Ein jeder, der nach Florenz kommt, wird wohl dorthin finden, denn er braucht nur den ersten besten Bettler nach dem Bronzeschwein zu fragen.

Er war eines Abends spät im Winter. Auf den Bergen lag Schnee, aber es war Mondschein, und der Mondschein in Italien gibt ein so helles Licht, das man es getrost mit einem dunklen Wintertag im Norden vergleichen kann, ja es ist sogar leuchtender, denn die Luft dort ist klar und verstärkt jeden Schein, während im Norden das kalte, graue Bleidach des Himmels auf uns und die Erde herniederdrückt, die kalte, nasse Erde, die einst unseren Sarg beschweren soll.

Drinnen, in des Herzogs Schloßgarten, unter dem Piniendach, wo tausend und abertausend Rosen zur Winterszeit blühen, hatte ein kleiner zerlumpter Knabe den ganzen Tag gesessen, ein Knabe, der das Sinnbild Italiens darstellen konnte, so hübsch, so lächelnd und doch so leidend! Er war hungrig und durstig. Keiner gab ihm einen Schilling, und als es dunkel wurde und der Garten geschlossen werden sollte, jagte der Pförtner ihn fort. Lange stand er verträumt auf der Brücke, die sich über dem Arno wölbt, und sah zu den Sternen empor, deren Widerspiel im Wasser zwischen ihm und der prächtigen Marmorbrücke ``della Trinità'' blinkte.

Er schlug den Weg zu dem Bronzeschwein ein, kniete halb nieder, schlang seine Arme um dessen Hals, setzte seinen Mund an den glänzenden Rüssel und trank in langen Zügen von dem frischen Wasser. Dicht daneben lagen ein paar Salatblätter und einige Kastanien. Das war seine Abendmahlzeit. Kein Mensch war mehr auf der Straße zu sehen; er war ganz allein, so setzte er sich auf den Rücken des Bronzeschweines, lehnte sich vornüber, daß sein kleiner lockiger Kopf, auf dem des Tieres ruhte, und ehe er es selbst wußte, war er eingeschlafen.

Es war um Mitternacht. Da rührte sich das Bronzeschwein; er hörte es ganz deutlich sagen: ``Du kleiner Knabe, halte Dich fest, denn nun laufe ich!'' Und dann lief es mit ihm fort. Es war ein seltsamer Ritt. --- Zuerst kamen sie über die Piazza del Granduca und das eherne Pferd, das des Herzogs Statue trug, wieherte laut; das farbige Wappen über dem alten Rathaus leuchtete wie ein Transparent und Michel Angelos Dawid schwang seine Schleuder. Es war ein seltsames Leben, das sich hier rührte! Die Gruppen mit Perseus und dem Raub der Sabinerinnen waren nur allzu lebendig; ihr Todesschrei drang laut über den prächtigen, einsamen Platz.

Bei dem Palazzo degli Uffizi, in den Bogengängen, wo der Adel sich zu den Karnevalsfreuden versammelt, machte das Bronzeschwein halt.

``Halte Dich fest!'' sagte das Tier, ``halte Dich fest, denn nun geht es die Treppen hinauf!'' Der Kleine sagte noch immer kein Wort, halb zitterte er, halb war er glückselig.

Sie traten in eine lange Galerie. Er kannte sie wohl, denn er war schon früher hier gewesen. An den Wänden prangten Gemälde, Statuen und Büsten standen umher, alles war herrlich beleuchtet, als ob es heller Tag wäre. Am prächtigsten jedoch war es, als sich die Tür zu einem der Nebenzimmer öffnete. Ja, diese Herrlichkeit erkannte der Kleine wohl wieder. Doch in dieser Nacht prangte alles in seinem schönsten Glanze.

Hier stand eine wunderschöne nackte Frau, so herrlich, wie nur die Natur und der größte Meister des Marmors sie formen konnten. Sie bewegte die anmutigen Glieder, Delphine schnellten zu ihren Füßen empor und die Unsterblichkeit leuchtete aus ihren Augen. Die Welt nannte sie die Mediceische Venus. Ihr zur Seite prangten Marmorbilder, in welchen des Geistes Kraft den Stein bezwungen hatte, nackte, herrliche Männergestalten. Der eine wetzte sein Schwert, man nennt ihn den Schleifer; die andere Gruppe stellte die kämpfenden Gladiatoren dar; das Schwert wird geschliffen und die Helden kämpfen, alles für die Göttin der Schönheit.

Der Knabe war wie geblendet von all dem Glanze. Die Wände strahlten von Farben wieder, und alles war Leben und Bewegung. Zwiefach bot sich das Bild der Venus, der göttlichen, und der irdischen, so schwellend und feurig, wie Titian sie aus seinem Herzen erschaffen. Es war seltsam anzusehen. Die zwei herrlichen Frauen streckten ihre anmutigen unverschleierten Glieder auf den weichen Polstern, ihre Brust hob sich und das Haupt bewegte sich, so daß die reichen Locken auf die runden Schultern herabfielen, während die dunklen Augen von den glühenden Gefühlen des Blutes sprachen; aber doch wagte keines der Bilder, ganz aus dem Rahmen zu treten. Selbst die Göttin der Schönheit, die Gladiatoren und der Schleifer blieben auf ihrem Platze, denn der Glanz, der von der Madonna, von Jesus und Johannes ausstrahlte, hielt sie gebunden. Die Heiligenblider waren keine Bilder mehr, sondern die Heiligen selbst.

Welche Pracht und Schönheit in jedem der Säle, und der Kleine sah alles. Das Bronzeschwein ging ja Schritt vor Schritt durch all die Herrlichkeit. Ein Anblick verdrängte den anderen. Nur ein Bild haftete unverrückbar in seiner Seele, und das geschah wohl zumeist um der frohen, glücklichen Kinder willen, die darauf zu sehen waren und denen der kleine schon einmal bei Tageslicht zugenickt hatte.

Viele wandern sicher gedankenlos an dem Bilde vorbei, und doch umschließt es einen Schatz an Poesie. Es ist Christus, der in die Unterwelt hinabfährt. Aber es sind nicht die Verdammten, die ihn umgeben, sondern die Heiden. Der Florentiner Angiolo Bronzino hat dieses Bild gemalt, und am meisten bezwingend daran ist der Ausdruck der Gewißheit bei den Kindern, daß sie in den Himmel kommen sollen. Zwei der kleinsten umarmen einander bereits, ein anderer Kleiner streckt seine Hand aus zu einem, der noch in der Tiefe steht und zeigt auf sich selbst, als ob er sagen wolle: ``Ich soll in den Himmel!'' Die Älteren stehen unsicher hoffend und beugen sich demütig betend vor dem Herrn Jesus.

Auf dieses Bild schaute der Knabe länger als auf irgend eines von den anderen. Das Bronzeschwein weilte still davor. Ein leiser Seufzer erklang. Kam er von dem Bilde oder aus des Tieres Brust? Der Knabe erhob die Hand zu den lächelnden Kindern --- da Jagte das Tier mit ihm von dannen und hinaus durch den offenen Vorsaal.

``Dank und Segen, Du freundliches Tier!'' sagte der kleine Knabe und streichelte das Bronzeschwein, das bums, bums! die Treppen mit ihm binabsprang.

``Dank und Segen auch für Dich!'' sagte das Bronzeschwein, ``ich habe Dir geholfen und Du hast mir geholfen, denn nur mit einem unschuldigen Kinde auf dem Rücken erhalte ich die Kraft zum Laufen. Ja, siehst Du, ich darf auch in den Strahlenkreis der geweihten Lampe vor den Madonnenbildern treten. Ich kann Dich überall hin tragen, nur nicht in die Kirche! Aber von draußen kann ich, wenn Du bei mir bist, durch die offene Tür hineinsehen. Steige nicht von meinem Rücken herunter! Wenn Du es tust, dann liege ich tot, wie Du mich am Tage in der Porta Rossa liegen siehst''

``Ich bleibe bei Dir, Du freundliches Tier!'' sagte der Kleine, und dann ging es in sausender Fahrt durch die Gassen von Florenz hinaus zu dem Platz vor der Kirche Santa Croce!

Die große Flügeltür sprang auf, die Lichter strahlten vom Altar hernieder durch die ganze Kirche und hinaus auf den einsamen Platz.

Ein seltsamer Lichtschein strömte von einem Grabstein berate, der im linken Seitengange stand. Tausend lebendige Sterne bildeten gleichsam eine Glorie darum. Ein Wappenschild prangte auf dem Grabe, eine rote Leiter in blauem Felde, die wie Feuer glühte. Es war Galileis Grab. Es ist nur ein einfachen Denkstein, aber die rote Leiter im blauen Felde ist ein bedeutungsvolles Wappenzeichen, es ist, als ob es der Kunst selbst zugehöre, denn sie geht allezeit ihren Weg über glühende Leitern empor, aber zum Himmel! Alle Propheten des Geistes fahren gen Himmel wie Elias.

In dem Gange rechts war es, als ob jedes Steinbild auf den reichen Sarkophagen lebendig geworden sei. Hier stand Michel Angelo, Dante mit dem Lorbeerkranz um die Stirn, Alfieri, Macchiavelli. Seite an Seite ruhen hier diese großen Männer, Italiens Stolz! Es ist eine prächtige Kirche, weit schöner, wenn auch nicht so groß, wie die marmorne Domkirche zu Florenz.

Es war, als ob die Marmorgewänder sich bewegten, als ob die großen Gestalten ihre Häupter höher erhöben und unter Gesang und sanften Tönen durch die Nacht empor zu dem farbig erstrahlenden Altar blickten, wo weißgekleidete Knaben die goldenen Räucherfässer schwangen, deren starker Duft aus der Kirche bis auf den offenen Platz strömte.

Der Knabe streckte seine Hand nach dem Lichtglanze aus, und im gleichen Augenblick fegte das Bronzeschwein von dannen. Er mußte sich fest an seinen Leib pressen, der Wind pfiff um seine Ohren, er hörte die Kirchenpforte in den Angeln knarren, während sie sich wieder schloß, aber zugleich schien das Bewußtsein ihn zu verlassen. Er fühlte eine eisige Kälte und schlug die Augen auf.

Es war Morgen. Er saß, halb hinabhängend, auf dem Bronzeschwein, das, wie es immer zu tun pflegte, in der Porta Rossa stand.

Furcht und Angst erfüllten den Knaben bei dem Gedanken an die, die er Mutter nannte, und die ihn gestern fortgeschickt und gesagt hatte; daß er Geld herschaffen solle. Nichts hatte er bekommen, nur hungrig und durstig war er! Noch einmal umhalste er das Bronzeschwein, küßte es auf den Rüssel, nickte ihm zu und wanderte dann von dannen nach einer der engsten Gassen, kaum breit genug für einen wohlbepackten Esel. Eine große, eisenbeschlagene Tür stand halb offen. Hier ging er eine gemauerte Treppe mit schmutzigen Stufen und einem glatten Seil an eines Geländersstatt hinauf und kam auf eine offene mit Lumpen behängte Galerie. Eine Trekke führte von hier aus auf den Hof, wo vom Brunnen dicke Eisendrähte nach allen Etagen des Hauses hinaufgezogen waren, und ein Wassereimer schwebte neben dem anderen, während die Winde knirschte und der Eimer in der Luft tanzte, daß das Wasser hinab in den Hof klatschte. Abermals ging es eine verfallene Steintreppe hinauf. Zwei Matrosen, es waren Russen, sprangen vergnügt herunter und hätten den armen Jungen um ein Haar umgestoßen. Sie kamen von ihrem nächtlichen Bacchanal. Eine nicht mehr junge, aber üppige Frauengestalt mit starkem, schwarzen Haar, folgte. ``Was hast Du nachhause gebracht?'' fragte sie den Knaben.

``Sei nicht böse!'' bat er, ``Ich habe nichts bekommen, gar nichts!'', und er griff nach dem Rock der Mutter, als ob er ihn küssen wolle. Sie traten in die Kammer. Wir wollen sie nicht näher beschreiben, nur soviel sei gesagt, daß dort ein Henkelkrug mit Kohlenfeuer stand, ein marito, wie man ihn nennt, den nahm sie auf ihren Arm, wärmte die Finger und puffte den Knaben mit den Ellenbogen: ``Ja, gewiß hast Du Geld!.'' sagte sie.

Das Kind weinte, sie stieß mit dem Fuße nach ihm, und er jammerte laut. --- ``Willst Du schweigen, oder ich schlage Dir Deinen brüllenden Kopf entzwei!'' Und sie schwang den Feuerkrug, den sie in der Hand hielt. Der Junge duckte sich mit einem Schrei auf die Erde. Da trat die Nachbarsfrau zur Tür herein. Auch sie trug ihren marito auf dem Arm. ``Felicita! Was tust Du mit dem Kinde?''

``Das Kind gehört mir!'' antwortete Felicita. ``Ich kann es ermorden, wenn ich will und Dich dazu, Gianina!'' und sie schwang ihren Feuerkrug. Die andere hob den ihren abwehrend in die Höhe und beide Töpfe fuhren zusammen, daß Scherben, Feuer und Asche im Zimmer umherflogen. Der Knabe aber war im Nu zur Tür hinaus, über den Hof und aus dem Hause. Das arme Kind lief, bis es ganz außer Atem war. Er machte halt vor der Kirche St. Croce, deren Tore sich in der vergangenen Nacht vor ihm geöffnet hatten, und ging hinein; alles strahlte. Er kniete vor dem ersten Grabe zur Rechten nieder, es war Michelangelos Grab, und bald schluchzte er laut. --- Die Menschen kamen und gingen. Die Messe wurde gelesen, niemand nahm Notiz von dem Knaben. Nur ein ältlicher Bürger hielt an, betrachtete ihn --- und ging dann fort, wie die anderen auch.

Hunger und Durst plagten den Kleinen, er war halb ohnmächtig und so schwach. So kroch er in die Ecke zwischen der Wand und dem Marmormonument und fiel in Schlaf. Es war gegen Abend, als er wieder aufwachte. Jemand schüttelte ihn und er fuhr empor. Derselbe alte Bürger stand vor ihm.

``Bist Du krank? Wo gehörst Du denn hin? Bist Du denn hier den ganzen Tag gewesen?'' Das waren ein paar von den vielen Fragen, die der Alte an ihn richtete. Sie wurden beantwortet, und der alte Mann nahm ihn mit sich in sein kleines Haus in einer der Seitenstraßen in der Nähe. Es war eine Handschuhmacherwerkstatt, in die sie hereintraten. Die Frau saß noch fleißig beim Nähen, als sie kamen. Ein kleiner, weißer Bologneser, so kurz abgeschoren, daß man die rosenrote Haut sehen konnte, hüpfte auf den Tisch und sprang dem kleinen Knaben etwas vor. ---

``Die unschuldigen Seelen kennen einander,'' sagte die Frau und streichelte den Hund und den Knaben. Er bekam zu essen und zu trinken bei den guten Leuten, und sie erlaubten ihm auch, die Nacht über hierzubleiben. Am nächsten Tage wollte Vater Guiseppe mit seiner Mutter reden. Er bekam ein kleines ärmliches Bett, aber ihm, der so oft auf dem harten Steinpflaster schlafen mußte, erschien es königlich prächtig. Er schlief gut und träumte von den schönen Bildern und dem Bronzeschwein.

Vater Guiseppe ging am nächsten Morgen aus, und das arme Kind war wenig froh bei dem Gedanken, denn es wußte, daß dieser Gang dem Zwecke diente, es zu seiner Mutter zurückzubringen. Und er weinte und küßte den kleinen lustigen Hund, und die Frau nickte ihnen beiden zu. ---

Und was für einen Bescheid brachte Vater Guiseppe zurück? Er sprach lange mit seiner Frau, und sie nickte und streichelte den Knaben. ``Es ist ein prächtiges Kind!'' sagte sie. ``Er könnte einen eben so guten Handschuhmacher abgeben, wie Du es warst! Und Finger hat er, so fein und geschmeidig. Die Madonna hat ihn zum Handschuhmacher bestimmt!''

Und der Knabe blieb im Hause, und die Frau lehrte ihn selbst das Nähen. Er aß gut, er schlief gut, er wurde munter und begann nun Bellissima, so hieß der kleine Hund, zu necken. Die Frau drohte mit dem Finger und schalt und wurde böse. Und das nahm sich der Junge zu Herzen. Gedankenvoll saß er in seiner kleinen Kammer, die auf die Straße hinausging, wo die Häute getrocknet wurden. Dicke Eisenstangen waren vor den Fenstern. Er konnte nicht schlafen und seine Gedanken waren bei dem Bronzeschwein. Plötzlich hörte er es draußen: Klatsch, klatsch! ja, das mußte es sein! Er sprang ans Fenster, aber da war nichts zu sehen, es war alles vorbei.

``Hilf dem Herrn, seinen Farbenkasten zu tragen!'' sagte die Frau am Morgen zu dem Knaben, als der junge Nachbar, ein Maler, mit dem Kasten und einer zusammengerollten Leinewand beladen daher kam. Und der Knabe nahm den Kasten, folgte dem Maler und sie gingen nach der Galerie und gerade dieselbe Treppe hinauf, die er so gut von jener Nacht her kannte, als er auf dem Bronzeschwein geritten war. Er kannte die Statuen und Bilder, die herrliche Marmorvenus und die gemalte wieder, und er sah die Mutter Gottes, Jesus und Johannes.

Nun hielten sie vor dem Bilde des Bronzino an, wo Christus in die Unterwelt hinabfährt und die Kinder um ihn herum in süßer Erwartung des Himmels lächeln; das arme Kind lächelte auch, denn hier war es in seinem Himmel.

``Nun kannst Du nachhause gehen'' sagte der Maler zu ihm, da er bereits solange dagestanden hatte, wie der Maler seine Staffelei aufgestellt hatte!

``Darf ich Euch beim Malen zusehen?'' fragte der Knabe, ``darf ich sehen, wie Ihr das Bild auf das weiße Stück hier herüber bekommt?''

``Jetzt male ich nicht!'' antwortete der Mann und nahm seine schwarze Kreide hervor. Hurtig bewegte sich die Hand, das Auge maß das große Bild, und trotzdem nur feine Striche erschienen, stand Christus doch bald schwebend, wie auf dem farbigen Bilde, auf der Leinwand.

``Aber so geh doch!'' sagte der Maler, und der Knabe wanderte stille heimwärts, setzte sich auf den Tisch und --- lernte Handschuhe nähen.

Aber den ganzen Tag über waren seine Gedanken in der Bildergalerie, und deshalb stach er sich in den Finger und stellte sich ungeschickt an, aber er neckte auch Bellissima nicht. Als es Abend wurde und die Haustür gerade offenstand, schlich er sich hinaus. Es war kalt aber sternenklar, hell und schön, und er wanderte durch die Straßen, in denen es bereits ruhig war, und bald stand er vor dem Bronzeschwein. Er beugte sich zu ihm nieder, küßte den blanken Rüssel und setzte sich auf seinen Rücken. ``Du freundliches Tier,'' sagte er, ``wie habe ich mich nach Dir gesehnt! Heute Nacht müssen wir einen Ritt machen!''

Das Bronzeschwein lag unbeweglich, und das frische Wasser sprudelte aus seinem Maule. Der Kleine saß wie ein Ritter darauf, da zog ihn jemand an den Kleidern. Er schaute hin --- Bellissima, die kleine nackte, geschorenene Bellissima war es. --- Der Hund war mit aus dem Hause geschlüpft und war dem Kleinen gefolgt, ohne daß er es bemerkt hatte. Bellissima bellte, als ob sie sagen wollte: siehst Du, ich bin mitgekommen. Weshalb hast Du Dich hierher gesetzt? --- Kein feuriger Drache hätte den Knaben mehr erschrecken können, als der kleine Hund an diesem Orte. Bellissima auf der Straße und noch dazu, ohne angezogen zu sein, wie es die alte Mutter nannte! Was sollte daraus nur werden! Der Hund kam niemals zur Winterszeit in die Luft, ohne in ein kleines hübsch für ihn zugeschnittenes und genähtes Lammfellchen gehüllt zu sein. Das Fell konnte mit einem roten Band fest um den Hals gebunden werden, es war mit einer Schleife und einer Klingel geschmückt und es konnte auch unter dem Bauche zugebunden werden. Der Hund sah beinahe wie ein Zicklein aus, wenn er zur Winterszeit in diesem Anzug mit der Signora ausgehen durfte. Bellissima war also mitgekommen und nicht angezogen. Was würde nur daraus werden? Alle Phantasien waren verschwunden, doch küßte der Knabe das Bronzeschwein und nahm dann Bellissima auf den Arm; das Tierehen zitterte vor Kälte deshalb lief der Junge so schnell er nur laufen konnte.

``Womit läufst Du denn da!'' riefen zwei Gendarmen, denen er begegnete, und Bellissima bellte. ``Wo hast Du den schönen Hund gestohlen?'' fragten sie und nahmen ihn dem Knaben weg.

``O, gebt ihn mir wieder!'' jammerte der Knabe.

``Wenn Du ihn nicht gestohlen hast, kannst Du zuhause sagen, daß der Hund auf der Wache abgeholt werden kann!'' und sie nannten ihm den Ort und gingen mit Bellissima davon.

Das war eine Not und ein Jammer! Er wußte nicht, ob er in den Arno springen oder nachhause gehen und dies eingestehen sollte. Sie würden ihn gewiß totschlagen, dachte er. --- ``Aber ich will mich gern totschlagen lassen! Ich will sterben, dann komme ich zu Jesus und der Madonna!'' und er ging heim, hauptsächlich darum, weil er totgeschlagen werden wollte.

Die Tür war geschlossen und er konnte den Klopfer nicht erreichen. Niemand war auf der Straße, aber ein Stein lag lose vor dem Haus. Mit dem donnerte er an die Tür. ``Wer ist das?'' riefen sie von innen. ---

``Ich bin es!'' sagte er, ``Bellissima ist fort! schließt mir auf und schlagt mich tot!''

Das war ein Entsetzen, besonders bei der Frau, über die arme Bellissima! Sie sah sogleich auf die Wand, wo das Umhängefell des Hundes hängen sollte. Das kleine Lammfell hing da.

``Bellissima auf der Wache!'' schrie sie ganz laut. ``Du böses Kind! Wie hast Du ihn denn hier herausbekommen! Er wird totfrieren! Das feine Tier bei den rohen Soldaten!''

Vater mußte gleich gehen! --- und die Frau jammerte und der Knabe weintet --- Alle Leute im Haus liefen zusammen, der Maler auch. Er nahm den Knaben zwischen seine Knie und fragte ihn aus. So erfuhr er stückweise die ganze Geschichte, von dem Bronzeschwein und der Galerie. Es war nicht besonders leicht zu verstehen, aber der Maler tröstete den Kleinen, redete der Alten gut zu, aber sie gab sich nicht zufrieden, ehe Vater mit Bellissima ankam, der so lange zwischen den Soldaten gewesen war. Das war eine Freude! Und der Maler streichelte den armen Jungen und gab ihm ein Handvoll Bilder.

Ach, was waren das für prächtige Dinge! Was für lustige Köpfe! Aber vor allem --- da war springlebendig das Bronzeschwein selbst. Ach, nichts in der Welt konnte herrlicher sein! Mit ein paar Strichen stand es auf dem Papier, und sogar das Haus dahinter war angedeutet.

``Wer doch zeichnen und malen könnte! dann könnte man sich die ganze Welt erobern!''

Am nächsten Tage in dem ersten unbewachten Augenblick griff der Kleine nach dem Bleistift und auf der weißen Seite des einen Bildes versuchte er die Zeichnung des Bronzeschweines wiederzugeben. Und es glückte! --- Ein bißchen schief, ein bißchen verquer, ein Bein dick, das andere dünn, aber es war doch zu erkennen. Er Jubelte hoch auf! Der Bleistift wollte nur noch nicht so recht, wie er sollte, das sah er wohl. Aber am nächsten Tage stand da ein anderes Bronzeschwein neben dem ersten, und das war hundertmal besser; das dritte war so gut, daß jeder es erkennen konnte.

Aber mit dem Handschuhnähen stand es schlimm und die Besorgungen in der Stadt dauerten immer länger, denn das Bronzeschwein hatte ihn jetzt gelehrt, daß sich alle Bilder auf das Papier übertragen lassen können, und die Stadt Florenz ist ein ganzes Bilderbuch, wenn man nur darin blättern mag. Da steht auf der Piazza della Trinità eine schlanke Säule, auf der die Göttin der Gerechtigkeit mit verbundenen Augen und der Wage steht. Bald stand sie auf dem Papier, und es war der kleine Junge bei dem Handschumacher, der sie dahingesetzt hatte. Die Bildersammlung wuchs, aber sie enthielt bisher nur die toten Dinge. Da sprang eines Tages Bellissima vor ihm her; ``Steh still!'' sagte er, ``dann wirst Du hübsch und kommst in meine Bildersammlung!'' Aber Bellissima wollte nicht stillstehen, so mußte er also gebunden werden. Kopf und Schwanz wurden angebunden, er bellte und sprang, die Schnur wurde straff; da kam die Signora.

``Du gottloser Junge! Das arme Tier!'' war alles, was sie auszurufen vermochte. Sie stieß! den Knaben beiseite, trat nach ihm mit dem Fuß und wies ihn aus dem Hause, ihn, den undankbarsten Bösewicht, das gottloseste Kind in der Welt! und weinend küßte sie ihre kleine, halberwürgte Bellissima.

Der Maler kam in diesem Augenblick die Treppe herauf und --- hier ist der Wendepunkt der Geschichte! ---

1834 war in der Academia delle Arte eine Ausstellung in Florenz. Zwei nebeneinander aufgestellte Bilder sammelten eine Menge Beschauer. Auf dem kleinsten Bilde war ein kleiner lustiger Knabe dargestellt, der saß und zeichnete. Als Modell diente ein kleiner weißer, völlig kurz geschorener Mops. Aber das Tier wollte nicht still stehen und war daher mit Bindfaden am Kopfe und Schwanze festgebunden. Es war eine solche Lebenswahrheit darin, daß sie jeden ansprechen mußte. Der Maler war, wie man erzählte, ein junger Florentiner, der als kleines Kind von der Gasse aufgelesen, und dann bei einem alten Handschuhmacher erzogen wurde: Das Zeichnen hatte er sich selbst beigebracht. Ein jetzt berühmter Maler hatte dieses Talent entdeckt, gerade als der Knabe weggejagt werden sollte, weil er den Liebling der Frau, den kleinen Mops, gebunden, und ihn so zwangsweise zum Modell gemacht hatte.

Aus dem Handschuhmacherjungen war ein großer Maler geworden! Das bewies dies Bild, das bewies besonders das daneben hängende größere Gemälde. Dies zeigte nur eine einzige Figur, einen zerlumpten, schönen Knaben, der auf der Straße saß und schlief. Er lehnte sich an das Bronzeschwein in der Straße Porta Rossa. Alle Beschauer kannten den Ort. Des Kindes Arme ruhten auf dem Kopfe des Schweins. Der Kleine schlief ruhig und sorglos, und die Lampe vor dem Madonnenbilde warf einen starken effektvollen Lichtschein auf das bleiche, schöne Antlitz des Kindes. Es war eine prächtige Arbeit. Ein großer vergoldeter Rahmen umschloß es, und über einer Ecke des Rahmens hing ein Lorbeerkranz, aber zwischen die grünen Blätter war ein schwarzes Band gewunden, ein langer Trauerflor hing davon hinunter.

Der junge Künstler war in diesen Tagen gestorben.

Der kleine Klaus und der große Klaus

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\AMsection{Der kleine Klaus und der große Klaus}

In einem Dorfe wohnten zwei Leute, die beide denselben Namen hatten. Beide hießen Klaus, aber der eine besaß vier Pferde und der andere nur ein einziges Pferd. Um sie nun von einander unterscheiden zu können, nannte man den, der vier Pferde besaß, den großen Klaus, und den, der nur ein einziges Pferd hatte, den kleinen Klaus. Nun wollen wir hören, wie es den beiden erging, denn es ist eine wahre Geschichte.

Die ganze Woche hindurch mußte der kleine Klaus für den großen Klaus pflügen und ihm sein einziges Pferd leihen, dann half der große Klaus ihm wieder mit allen seinen vieren, aber nur einmal wöchentlich, und das war des Sonntags. Hussa, wie klatschte der kleine Klaus mit seiner Peitsche über alle fünf Pferde! Sie waren ja nun so gut wie sein an dem einen Tage. Die Sonne schien herrlich und alle Glocken im Kirchturm läuteten zur Kirche, die Leute waren alle geputzt und gingen mit dem Gesangbuche unter dem Arme, den Prediger predigen zu hören, und sie sahen den kleinen Klaus, der mit fünf Pferden pflügte, und er war so vergnügt, daß er wieder mit der Peitsche klatschte und rief: ``Hü, alle meine Pferde!''

``So mußt Du nicht sprechen,'' sagte der große Klaus, ``das eine Pferd ist ja nur Dein!''

Aber als wieder jemand vorbeiging, vergaß der kleine Klaus, daß er es nicht sagen sollte, und da rief er: ``Hü, alle meine Pferde!''

``Nun ersuche ich Dich, dies zu unterlassen,'' sagte der große Klaus; ``denn sagst Du es noch einmal, so schlage ich Dein Pferd vor den Kopf, daß es auf der Stelle tot ist.''

``Ich will es wahrlich nicht mehr sagen!'' sagte der kleine Klaus. Aber als da Leute vorbeikamen und ihm guten Tag zunickten, wurde er sehr erfreut und dachte, es sehe doch recht gut aus, daß er fünf Pferde habe, sein Feld zu pflügen, und da klatschte er mit der Peitsche und rief: ``Hü, alle meine Pferde!''

``Ich werde Deine Pferde hüen!'' sagte der große Klaus, nahm einen Hammer und schlug des kleinen Klaus einziges Pferd vor den Kopf, daß es umfiel und tot war.

``Ach, nun habe ich gar kein Pferd mehr!'' sagte der kleine Klaus und fing an zu weinen. Später zog er dem Pferde die Haut ab und ließ sie gut im Winde trocknen, steckte sie dann in einen Sack, den er auf der Schulter trug, und machte sich nach der Stadt auf den Weg, um seine Pferdehaut zu verkaufen.

Er hatte einen sehr weiten Weg zu gehen, mußte durch einen großen, dunklen Wald, und nun wurde es gewaltig schlechtes Wetter; er verirrte sich gänzlich, und ehe er wieder auf den rechten Weg kam, war es Abend und allzuweit, um zur Stadt oder wieder nach Hause zu gelangen, bevor es Nacht wurde.

Dicht am Wege lag ein großer Bauernhof; die Fensterladen waren draußen vor den Fenstern geschlossen, aber das Licht konnte doch darüber hinausscheinen. ``Da werde ich wohl Erlaubnis erhalten können, die Nacht über zu bleiben,'' dachte der kleine Klaus und klopfte an.

Die Bauerfrau machte auf; als sie aber hörte, was er wollte, sagte sie, er solle weiter gehen, ihr Mann sei nicht zu Hause und sie nehme keine Fremden auf.

``Nun, so muß ich draußen liegen bleiben,'' sagte der kleine Klaus, und die Bauerfrau schlug ihm die Thür vor der Nase zu.

Dicht daneben stand ein großer Heuschober, und zwischen diesem und dem Hause war ein kleiner Schuppen mit einem flachen Strohdache gebaut.

``Da oben kann ich liegen,'' sagte der kleine Klaus, als er das Dach erblickte; ``das ist ja ein herrliches Bett. Der Storch fliegt wohl nicht herunter und beißt mich in die Beine.'' Denn ein Storch stand auf dem Dache, wo er sein Nest hatte.

Nun kroch der kleine Klaus auf den Schuppen hinauf, wo er lag und sich drehte, um recht gut zu liegen. Die hölzernen Laden vor den Fenstern schlossen oben nicht zu, und so konnte er gerade in die Stube hineinblicken.

Da war ein großer Tisch gedeckt, mit Wein und Braten und einem herrlichen Fisch darauf; die Bauerfrau und der Küster saßen bei Tische und sonst niemand anders, sie schenkte ihm ein und er gabelte in den Fisch, denn das war sein Leibgericht.

``Wer doch etwas davon abbekommen könnte!'' dachte der kleine Klaus und streckte den Kopf gerade gegen das Fenster. Einen herrlichen Kuchen sah er auch im Zimmer stehen! Ja, das war ein Fest!

Nun hörte er jemand von der Landstraße her gegen das Haus geritten kommen; das war der Mann der Bauerfrau, der nach Hause kam.

Das war ein ganz guter Mann, aber er hatte die wunderliche Eigenheit, daß er es nie ertragen konnte, einen Küster zu sehen; kam ihm ein Küster vor die Augen, so wurde er ganz rasend. Deshalb war es auch, daß der Küster zu seiner Frau hineingegangen war, um ihr guten Tag zu sagen, weil er wußte, daß der Mann nicht zu Hause sei, und die gute Frau setzte ihm dafür das herrlichste Essen vor, was sie hatte. Als sie nun den Mann kommen hörten, erschraken sie sehr und die Frau bat den Küster, in eine große, leere Kiste hineinzukriegen, denn er wußte ja, daß der arme Mann es nicht ertragen konnte, einen Küster zu sehen. Die Frau versteckte geschwind all' das herrliche Essen und den Wein in ihrem Backofen, denn hätte der Mann das zu sehen bekommen, so hätte er sicher gefragt, was es zu bedeuten habe.

``Ach ja!'' seufzte der kleine Klaus oben auf seinem Schuppen, als er all' das Essen verschwinden sah.

``Ist jemand dort oben?'' fragte der Bauer und sah nach dem kleinen Klaus hinauf. ``Warum liegst Du dort? Komm lieber mit in die Stube.''

Nun erzählte der kleine Klaus, wie er sich verirrt habe, und bat, daß er die Nacht über bleiben dürfe.

``Ja freilich,'' sagte der Bauer, ``aber wir müssen zuerst etwas zu leben haben!''

Die Frau empfing beide sehr freundlich, deckte einen langen Tisch und gab ihnen eine große Schüssel voll Grütze. Der Bauer war hungrig und aß mit rechtem Appetit, aber der kleine Klaus konnte nicht unterlassen, an den herrlichen Braten, Fisch und Kuchen, welche er im Ofen wußte, zu denken.

Unter den Tisch zu seinen Füßen hatte er den Sack mit der Pferdehaut gelegt, denn wir wissen ja, daß er ihretwegen ausgegangen war, um sie in der Stadt zu verkaufen. Die Grütze wollte ihm nicht schmecken, da trat er auf seinen Sack, und die trockene Haut im Sacke knarrte laut.

``St!'' sagte der kleine Klaus zu seinem Sacke, trat aber zu gleicher Zeit wieder darauf; da knarrte es weit lauter als zuvor.

``Ei, was hast Du in Deinem Sacke?'' fragte der Bauer darauf.

``O, es ist ein Zauberer,'' sagte der kleine Klaus; ``er sagt, wir sollen doch keine Grütze essen, er habe den ganzen Ofen voll Braten, Fische und Kuchen gehext.''

``Ei der tausend!'' sagte der Bauer und machte schnell den Ofen auf, wo er all' die prächtigen, leckern Speisen erblickte, welche die Frau dort verborgen hatte, die aber nach seiner Meinung der Zauberer im Sack für sie gehext hatte. Die Frau durfte nichts sagen, sondern setzte sogleich die Speisen auf den Tisch, und so aßen beide vom Fische, vom Braten und von dem Kuchen. Nun trat der kleine Klaus wieder auf seinen Sack, daß die Haut knarrte.

``Was sagt er jetzt?'' fragte der Bauer.

``Er sagt,'' erwiderte der kleine Klaus, ``daß er auch drei Flaschen Wein für uns gehext hat; sie stehen dort in der Ecke beim Ofen!'' Nun mußte die Frau den Wein hervorholen, den sie verborgen hatte und der Bauer trank und wurde lustig. Einen solchen Zauberer, wie der kleine Klaus im Sacke hatte, hätte er gar zu gern gehabt.

``Kann er auch den Teufel hervorhexen?'' fragte der Bauer. ``Ich möchte ihn wohl sehen, denn nun bin ich lustig!''

``Ja,'' sagte der kleine Klaus, ``mein Zauberer kann alles, was ich verlange. Nicht wahr Du?'' fragte er und trat auf den Sack, daß es knarrte. ``Hörst Du? Er sagt ja! Aber der Teufel sieht häßlich aus, wir wollen ihn lieber nicht sehen!''

``O, mir ist gar nicht bange; wie mag er wohl aussehen?''

``Ja, er wird sich ganz leibhaftig als ein Küster zeigen!''

``Hu!'' sagte der Bauer, ``daß ist häßlich! Ihr müßt wissen, ich kann nicht ertragen, einen Küster zu sehen! Aber es macht nichts, ich weiß ja, daß es der Teufel ist, so werde ich mich wohl leichter darein finden! Nun habe ich Mut, aber er darf mir nicht zu nahe kommen.''

``Nun, ich werde meinen Zauberer fragen,'' sagte der kleine Klaus, trat auf den Sack und hielt sein Ohr hin.

``Was sagt er?''

``Er sagt, Ihr könnt hingehen und die Kiste aufmachen, die dort in der Ecke steht, so werdet Ihr den Teufel sehen, wie er darin kauert; aber Ihr müßt den Deckel halten, daß er nicht entwischt.''

``Wollt Ihr mir helfen, ihn zu halten?'' bat der Bauer und ging zu der Kiste hin, wo die Frau den Küster verborgen hatte, der darin saß und sich sehr fürchtete.

Der Bauer öffnete den Deckel ein wenig und sah unter denselben hinein. ``Hu!'' schrie er und sprang zurück. ``Ja, nun habe ich ihn gesehen, er sah ganz aus wie unser Küster! Das war schrecklich!''

Darauf mußte getrunken werden, und so tranken sie denn noch bis lange in die Nacht hinein.

``Den Zauberer mußt Du mir verkaufen,'' sagte der Bauer; ``verlange dafür, was Du willst! Ja, ich gebe Dir gleich einen ganzen Scheffel Geld!''

``Nein, das kann ich nicht!'' sagte der kleine Klaus. ``Bedenke doch, wieviel Nutzen ich von diesem Zauberer haben kann.''

``Ach, ich möchte ihn sehr gern haben,'' sagte der Bauer und fuhr fort zu bitten.

``Ja,'' sagte der kleine Klaus zuletzt, ``da Du so gut gewesen bist, mir diese Nacht Obdach zu gewähren, so mag es sein. Du sollst den Zauberer für einen Scheffel Geld haben, aber ich will den Scheffel gehäuft voll haben.''

``Das sollst Du bekommen,'' sagte der Bauer, ``aber die Kiste dort mußt Du mit Dir nehmen; ich will sie nicht eine Stunde länger im Hause behalten; man kann nicht wissen, vielleicht sitzt er noch darin.''

Der kleine Klaus gab dem Bauer seinen Sack mit der trocknen Haut darin und bekam einen ganzen Scheffel Geld gehäuft gemessen dafür. Der Bauer schenkte ihm sogar noch einen großen Karren, um das Geld und die Kiste darauf fortzufahren.

``Lebe wohl!'' sagte der kleine Klaus, und dann fuhr er mit seinem Gelde und der großen Kiste, worin noch der Küster saß, davon.

Auf der andern Seite des Waldes war ein großer, tiefer Fluß, das Wasser floß so reißend darin, daß man kaum gegen den Strom anschwimmen konnte; man hatte eine große, neue Brücke darüber geschlagen; der kleine Klaus hielt mitten auf derselben an und sagte ganz laut, damit der Küster in der Kiste es hören könne:

``Was soll ich doch mit der dummen Kiste machen? Sie ist so schwer, als ob Steine d'rin wären! Ich werde nur müde davon, sie weiter zu fahren; ich will sie daher in den Fluß werfen; schwimmt sie zu mir nach Hause, so ist es gut, wo nicht, so hat es auch nichts zu sagen.''

Darauf faßte er die Kiste mit der einen Hand an und hob sie ein wenig auf, gerade als ob er sie in das Wasser werfen wollte.

``Nein, laß das sein!'' rief der Küster innerhalb der Kiste. ``Laß mich erst heraus!''

``Hu!'' sagte der kleine Klaus und that, als fürchte er sich. ``Er sitzt noch darin! Da muß ich ihn geschwind in den Fluß werfen, damit er ertrinkt!''

``O nein, o nein!'' sagte der Küster; ``ich will Dir einen ganzen Scheffel Geld geben, wenn Du mich gehen läßt!''

``Ja, das ist etwas anderes!'' sagte der kleine Klaus und machte die Kiste auf. Der Küster kroch schnell heraus, stieß die leere Kiste in das Wasser hinaus und ging nach seinem Hause, wo der kleine Klaus einen ganzen Scheffel Geld bekam; einen hatte er von dem Bauer erhalten, nun hatte er also seinen ganzen Karren voll Geld.

``Sieh, das Pferd erhielt ich ganz gut bezahlt!'' sagte er zu sich selbst, als er zu Hause in seiner eigenen Stube war und alles Geld auf einen Berg mitten in der Stube ausschüttete. ``Das wird den großen Klaus ärgern, wenn er erfährt, wie reich ich durch mein einziges Pferd geworden bin; aber ich will es ihm doch nicht gerade heraus sagen!''

Nun sandte er einen Knaben zum großen Klaus hin, um sich ein Scheffelmaß zu leihen.

``Was mag er wohl damit machen wollen?'' dachte der große Klaus und schmierte Theer unter den Boden desselben, damit von dem, was gemessen wurde, etwas daran hängen bleiben könnte. Und so kam es auch, denn als er das Scheffelmaß zurückerhielt, hingen drei Thaler daran.

``Was ist das?'' sagte der große Klaus und lief sogleich zu dem kleinen. ``Wo hast Du all' das Geld bekommen?''

``O, das ist für meine Pferdehaut! Ich verkaufte sie gestern Abend.''

``Das war wahrlich gut bezahlt!'' sagte der große Klaus, lief geschwind nach Hause, nahm eine Axt und schlug alle seine vier Pferde vor den Kopf, zog ihnen die Haut ab und fuhr mit diesen Häuten zur Stadt.

``Häute! Häute! Wer will Häute kaufen?'' rief er durch die Straßen.

Alle Schuhmacher und Gerber kamen gelaufen und fragten, was er dafür haben wolle.

``Einen Scheffel Geld für jede,'' sagte der große Klaus.

``Bist Du toll?'' riefen alle. ``Glaubst Du, wir haben das Geld scheffelweise?''

``Häute! Häute! Wer will Häute kaufen?'' rief er wieder, aber allen denen, welche ihn fragten, was die Häute kosten sollten, erwiderte er: ``Einen Scheffel Geld.''

``Er will uns foppen,'' sagten alle, und da nahmen die Schuhmacher ihre Spannriemen und die Gerber ihre Schurzfelle und fingen an auf den großen Klaus loszuprügeln.

``Häute! Häute!'' riefen sie ihm nach; ``ja, wir wollen Dir die Haut gerben! Hinaus aus der Stadt mit ihm!'' riefen sie, und der große Klaus mußte laufen, was er nur konnte. So war er noch nie durchgeprügelt worden.

``Na,'' sagte er, als er nach Hause kam, ``dafür soll der kleine Klaus bestraft werden! Ich will ihn totschlagen!''

Zu Hause beim kleinen Klaus war die alte Großmutter gestorben; sie war freilich recht böse und schlimm gegen ihn gewesen, aber er war doch betrübt, nahm die tote Frau und legte sie in ein warmes Bett, um zu sehen, ob sie nicht zum Leben zurückkehren werde. Da sollte sie die ganze Nacht liegen, er selbst wollte im Winkel sitzen und auf einem Stuhle schlafen; das hatte er schon früher gethan.

Als er nun da in der Nacht saß, ging die Thüre auf und der große Klaus kam mit einer Axt herein; er wußte wohl, wo des kleinen Klaus Bett stand, ging gerade darauf los und schlug nun die alte Großmutter vor den Kopf, indem er glaubte, daß es der kleine Klaus sei.

``Sieh,'' sagte er, ``nun sollst Du mich nicht mehr zum besten haben!'' Und dann ging er wieder nach Hause.

``Das ist doch ein recht böser Mann!'' sagte der kleine Klaus; ``da wollte er mich totschlagen! Es war doch gut für die alte Mutter, daß sie schon tot war, sonst hätte er ihr das Leben genommen!''

Nun legte er der alten Großmutter Sonntagskleider an, lieh sich von dem Nachbar ein Pferd, spannte es vor den Wagen und setzte die alte Großmutter auf den hintersten Sitz, sodaß sie nicht hinausfallen konnte, wenn er fuhr, und so rollten sie von dannen durch den Wald. Als die Sonne aufging, waren sie vor einem großen Wirtshause, da hielt der kleine Klaus an und ging hinein, um etwas zu genießen.

Der Wirt hatte sehr viel Geld, er war auch ein recht guter, aber hitziger Mann, als wären Pfeffer und Tabak in ihm.

``Guten Morgen!'' sagte er zum kleinen Klaus. ``Du bist heute früh ins Zeug gekommen!''

``Ja,'' sagte der kleine Klaus, ``ich will mit meiner alten Großmutter zur Stadt; sie sitzt da draußen auf dem Wagen, ich kann sie nicht in die Stube hereinbringen. Wollt Ihr derselben nicht ein Glas Meth geben? Aber Ihr müßt recht laut sprechen, denn sie hört nicht gut.''

``Ja, das will ich thun!'' sagte der Wirt und schenkte ein großes Glas Meth ein, mit dem er zur toten Großmutter hinausging, welche in dem Wagen aufrecht gesetzt war.

``Hier ist ein Glas Meth von Ihrem Sohne!'' sagte der Wirt, aber die tote Frau erwiderte kein Wort, sondern saß ganz still.

``Hört Ihr nicht?'' rief der Wirt, so laut er konnte. ``Hier ist ein Glas Meth von Ihrem Sohne!''

Noch einmal rief er dasselbe und dann noch einmal, aber da sie sich durchaus nicht von der Stelle rührte, wurde er ärgerlich und warf ihr das Glas in das Gesicht, sodaß ihr der Meth gerade über die Nase lief und sie hintenüber fiel, denn sie war nur aufgesetzt und nicht festgebunden.

``Heda!'' rief der kleine Klaus, sprang zur Thür heraus und packte den Wirt an der Brust, ``da hast Du meine Großmutter erschlagen! Siehst Du, da ist ein großes Loch in ihrer Stirn!''

``O, das ist ein Unglück!'' rief der Wirt und schlug die Hände über dem Kopfe zusammen; ``das kommt alles von meiner Heftigkeit! Lieber, kleiner Klaus, ich will Dir einen Scheffel Geld geben und Deine Großmutter begraben lassen, als wäre es meine eigene, aber schweige nur still, sonst wird mir der Kopf abgeschlagen, und das wäre doch zu arg!''

So bekam der kleine Klaus einen ganzen Scheffel Geld, und der Wirt begrub die alte Großmutter so, als ob es seine eigene gewesen wäre.

Als nun der kleine Klaus wieder mit dem vielen Gelde nach Hause kam, schickte er gleich seinen Knaben hinüber zum großen Klaus, um ihn bitten zu lassen, ihm ein Scheffelmaß zu leihen.

``Was ist das?'' sagte der große Klaus. ``Habe ich ihn nicht totgeschlagen? Da muß ich selbst nachsehen!'' Und so ging er selbst mit dem Scheffelmaß zum kleinen Klaus.

``Wo hast Du doch all' das Geld bekommen?'' fragte er und riß die Augen auf, als er alles das erblickte, was noch hinzugekommen war.

``Du hast meine Großmutter, aber nicht mich erschlagen!'' sagte der kleine Klaus. ``Die habe ich nun verkauft und einen Scheffel Geld dafür bekommen!''

``Das ist wahrlich gut bezahlt!'' sagte der große Klaus, eilte nach Hause, nahm eine Axt und schlug seine alte Großmutter tot, legte sie auf den Wagen, fuhr mit ihr zur Stadt, wo der Apotheker wohnte, und fragte, ob er einen toten Menschen kaufen wollte.

``Wer ist es und woher habt Ihr ihn?'' fragte der Apotheker.

``Es ist meine Großmutter!'' sagte der große Klaus. ``Ich habe sie totgeschlagen, um einen Scheffel Geld dafür zu bekommen!''

``Gott bewahre uns!'' sagte der Apotheker. ``Ihr redet irre! Sagt doch nicht dergleichen, sonst könnt Ihr den Kopf verlieren!'' Und nun sagte er ihm gehörig, was das für eine böse That sei, die er begangen habe, und was für ein schlechter Mensch er sei und daß er bestraft werden müsse. Da erschrak der große Klaus so sehr, daß er von der Apotheke gerade in den Wagen sprang, und auf die Pferde schlug und nach Hause fuhr; aber der Apotheker und alle Leute glaubten, er sei verrückt, und deshalb ließen sie ihn fahren, wohin er wollte.

``Das sollst Du mir bezahlen!'' sagte der große Klaus, als er draußen auf der Landstraße war, ``ja, ich will Dich bestrafen, kleiner Klaus!'' Sobald er nach Hause kam, nahm er den größten Sack, den er finden konnte, ging hinüber zum kleinen Klaus und sagte: ``Nun hast Du mich wieder gefoppt; erst schlug ich meine Pferde tot, dann meine alte Großmutter; das ist alles Deine Schuld; aber Du sollst mich nie mehr foppen!'' Da packte er den kleinen Klaus um den Leib und steckte ihn in seinen Sack, nahm ihn so auf seinen Rücken und rief ihm zu: ``Nun gehe ich und ertränke Dich!''

Es war ein weiter Weg, den er zu gehen hatte, bevor er zu dem Flusse kam, und der kleine Klaus war nicht leicht zu tragen. Der Weg ging dicht bei der Kirche vorbei; die Orgel ertönte und die Leute sangen schön darinnen. Da setzte der große Klaus seinen Sack mit dem kleinen Klaus darin dicht bei der Kirchthür nieder und dachte, es könne wohl ganz gut sein, hineinzugehen und einen Psalm zu hören, ehe er weiter gehe; der kleine Klaus konnte ja nicht herauskommen und alle Leute waren in der Kirche. So ging er denn hinein.

``Ach Gott, ach Gott!'' seufzte der kleine Klaus im Sack und drehte und wandte sich, aber es war ihm nicht möglich, das Band aufzulösen. Da kam ein alter, alter Viehtreiber daher, mit schneeweißem Haare und einem großen Stab in der Hand; er trieb eine ganze Herde Kühe und Stiere vor sich her, die liefen an den Sack, in dem der kleine Klaus saß, so daß er umgeworfen wurde.

``Ach Gott!'' seufzte der kleine Klaus, ``ich bin noch so jung und soll schon ins Himmelreich!''

``Und ich Armer,'' sagte der Viehtreiber, ``bin schon so alt und kann noch immer nicht dahin kommen!''

``Mache den Sack auf!'' rief der kleine Klaus. ``Krieche statt meiner hinein, so kommst Du sogleich ins Himmelreich!''

``Ja, das will ich herzlich gern,'' sagte der Viehtreiber und band den Sack auf, aus dem der kleine Klaus sogleich heraussprang.

``Willst Du nun auf das Vieh Acht geben?'' sagte der alte Mann und kroch dann in den Sack hinein, den der kleine Klaus zuband und dann mit allen Kühen und Stieren seines Weges zog.

Bald darauf kam der große Klaus aus der Kirche. Er nahm seinen Sack wieder auf den Rücken, obgleich es ihm schien, als sei derselbe leichter geworden, denn der alte Viehtreiber war nur halb so schwer, als der kleine Klaus. ``Wie leicht ist er doch zu tragen geworden! Ja, das kommt daher, daß ich einen Psalm gehört habe!'' So ging er nach dem Flusse, welcher tief und groß war, warf den Sack mit dem alten Viehtreiber ins Wasser und rief hinterdrein, denn er glaubte ja, daß es der kleine Klaus sei: ``Sieh, nun sollst Du mich nicht mehr foppen!''

Darauf ging er nach Hause; aber als er an die Stelle kam, wo der Weg sich kreuzte, begegnete er dem kleinen Klaus, welcher mit all' seinem Vieh dahertrieb.

``Was ist das?'' sagte der große Klaus. ``Habe ich Dich nicht ertränkt?''

``Ja,'' sagte der kleine Klaus, ``Du warfst mich ja vor einer kleinen halben Stunde in den Fluß hinunter!''

``Aber wo hast Du all' das herrliche Vieh bekommen?'' fragte der große Klaus.

``Das ist Seevieh!'' sagte der kleine Klaus. ``Ich will Dir die Geschichte erzählen und Dir Dank sagen, daß Du mich ertränktest, denn nun bin ich wahrlich reich! Mir war bange, als ich im Sacke steckte, und der Wind pfiff mir um die Ohren, als Du mich von der Brücke hinunter in das kalte Wasser warfst. Ich sank sogleich zu Boden, aber ich stieß mich nicht, denn da unten wächst das schönste, weiche Gras. Darauf fiel ich, und sogleich wurde der Sack geöffnet, und das lieblichste Mädchen, in schneeweißen Kleidern und mit einem grünen Kranz um das nasse Haar, nahm mich bei der Hand und sagte: `Bist Du da, kleiner Klaus? Da hast Du zuerst einiges Vieh; eine Meile weiter auf dem Wege steht noch eine ganze Herde, die ich Dir schenken will!' Nun sah ich, daß der Fluß eine große Landstraße für das Meervolk bildete. Unten auf dem Grunde gingen und fuhren sie gerade von der See her und ganz hinein in das Land, bis wo der Fluß endet. Da waren die schönsten Blumen und das frischeste Gras; die Fische, welche im Wasser schwammen, schossen mir an den Ohren vorüber, gerade so wie hier die Vögel in der Luft. Was gab es da für hübsche Leute und was war da für Vieh, das an Gräben und Wällen weidete!''

``Aber warum bist Du gleich wieder zu uns heraufgekommen?'' fragte der große Klaus. ``Das hätte ich nicht gethan, wenn es so schön dort unten ist!''

``Ja,'' sagte der kleine Klaus, ``das ist gerade klug von mir gehandelt. Du hörst ja wohl, daß ich Dir erzähle: die Seejungfrau sagte mir, eine Meile weiter auf dem Wege --- und mit dem Wege meint sie ja den Fluß, denn sie kann nirgends anders hinkommen --- stehe noch eine ganze Herde Vieh für mich. Aber ich weiß, was der Fluß für Krümmungen macht, bald hier, bald dort, das ist ein weiter Umweg. Nein, so macht man es kürzer ab, wenn man hier auf das Land kommt und treibt querüber wieder zum Flusse; dabei spare ich eine halbe Meile und komme schneller zu meinem Vieh!''

``O, Du bist ein glücklicher Mann!'' sagte der große Klaus. ``Glaubst Du, daß ich auch Seevieh erhielte, wenn ich auf den Grund des Flusses käme?''

``Ja, das denke ich wohl,'' sagte der kleine Klaus, ``aber ich kann Dich nicht im Sacke bis zum Flusse tragen, Du bist mir zu schwer! Willst Du selbst dahin gehen und dann in den Sack kriechen, so werde ich Dich mit dem größten Vergnügen hineinwerfen.''

``Ich danke Dir,'' sagte der große Klaus. ``Aber erhalte ich kein Seevieh, wenn ich hinunterkomme, so glaube mir, werde ich Dich tüchtig prügeln!''

``O nein, mache es nicht so schlimm!'' Und da gingen sie zum Flusse hin. Als das Vieh, welches durstig war, das Wasser erblickte, lief es, so schnell als es nur konnte, um hinunter zum Trinken zu gelangen.

``Sieh, wie es sich sputet!'' sagte der kleine Klaus. ``Es verlangt darnach, wieder auf den Grund zu kommen!''

``Ja, hilf mir nur erst,'' sagte der große Klaus, ``sonst bekommst Du Prügel!'' Und so kroch er in den großen Sack, der quer über dem Rücken eines der Stiere gelegen hatte. ``Lege einen Stein hinein, ich fürchte, daß ich sonst nicht untersinke,'' sagte der große Klaus.

``Es geht schon!'' sagte der kleine Klaus, legte aber doch einen großen Stein in den Sack, knüpfte das Band fest zu und dann stieß er daran. Plumps! da lag der große Klaus in dem Flusse und sank sogleich hinunter auf den Grund.

``Ich fürchte, er wird das Vieh nicht finden!'' sagte der kleine Klaus und trieb dann heim mit dem, was er hatte.

Des Junggesellen Nachtmütze

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\AMsection{Des Junggesellen Nachtmütze}

Da gibt es in Kopenhagen eine Gasse, die den wunderlichen Namen ``Hyskengasse'' trägt. Und weshalb heißt sie so, was hat es zu bedeuten? Es soll deutsch sein, aber damit tut man den Deutschen unrecht. ``Häuschen'' müßte es heißen und das bedeutet: kleine Häuser. Diese hier waren damals, und das ist viele Jahre her, eigentlich nichts anderes als hölzerne Buden, fast wie man sie heutzutage auf den Märkten aufgestellt sieht. Ein wenig größer waren sie wohl und mit Fenstern versehen, aber die Scheiben waren aus Horn oder Blasenhaut, denn in jener Zeit waren gläserne Scheiben zu teuer für die Häuser. Aber die Zeit liegt so weit zurück, daß Urgroßvaters Urgroßvater, wenn er davon sprach, es auch schon die alten Zeiten nannte. Es ist mehrere hundert Jahre her. Damals trieben die reichen Kaufleute in Bremen und Lübeck den Handel in Kopenhagen. Sie selbst kamen nicht herauf, sie sandten nur ihre Handlungsgehülfen, und diese wohnten in den Holzbuden der ``Kleinhäuschengasse'' und besorgten den Verkauf von Bier und Gewürz. Das deutsche Bier war so gut, und es gab so viele Sorten: Bremer, Prysinger, Emser Bier --- ja, Braunschweiger Mumme, und dann alle die Gewürze wie Safran, Anis, Ingwer und besonders Pfeffer. Dieser spielte die Hauptrolle hier, und daher trug er auch den deutschen Handlungsgehülfen in Dänemark den Namen ``Pfefferschwengel'' ein. Sie mußten sich zuhause sonderbarerweise verpflichten, sich hier oben nicht zu verheiraten. Viele von ihnen wurden hier alt; selbst mußten sie für sich sorgen, im Hause umherpusseln und kramen, selbst ihr Feuer machen --- daher wurden einige ganz eigenartige alte Burschen mit wunderlichen Gedanken und Gewohnheiten. Nach ihnen nannte man bald jede unverheiratete Mannsperson, die in ein gesetzteres Alter kam, einen ``Pfefferschwengel''. Alles dies muß man wissen, um die Geschichte zu verstehen.

Man macht sich über den Junggesellen lustig und sagt, er solle sich seine Nachtmütze über die Ohren ziehen und zu Bett gehen:

\AMquote{
        ``Schneidet Holz zu Schwellen, \\
        Ihr alten Junggesellen. \\
        Die Nachtmütz liegt bei Euch im Bett, \\
        Doch kein Feinsliebchen weich und nett.''
}

Ja, so singt man von ihnen! Man verspottet den Junggesellen und seine Nacht\-müt\-ze --- just weil man ihn und sie so wenig kennt --- ach, die Nacht\-müt\-ze soll man sich nie herbeiwünschen! Und weshalb nicht? Ja, hört nur! Die Kleinhäuschengasse war in jenen früheren Zeiten nicht gepflastert, die Leute traten von einem Loch in das andere; es war so enge dort, und die Häuser lehnten sich über die Gasse hinweg so dicht zueinander, daß oft von einem Haus zum anderen ein Seil gespannt wurde, und immer war in dieser Enge ein gewürziger Geruch von Pfeffer, Safran und Ingwer. Hinter dem Tische standen nicht viel junge Leute, meist waren es alte Burschen, doch waren sie nicht, wie wir sie uns denken, mit Perücke oder Nachtmütze bekleidet oder mit Kniehosen und hoch hinaufgeknöpften Westen und Röcken, nein, so ging Urgroßvaters Urgroßvater gekleidet, und so steht er noch heute auf dem gemalten Bilde, die Pfefferschwengel hatten nicht die Mittel, sich malen zu lassen, und doch wären sie es wert gewesen, daß man von ihnen ein Bild aufbewahrt hätte, so wie sie dort hinter den Tischen standen und im Feiertagsrocke zur Kirche wanderten. Der Hut war breitkrempig und hatte einen hohen Kopf, oft schmückte ein junger Gesell ihn mit einer Feder. Das wollene Hemd war von einem heruntergeklappten Leinenkragen bedeckt, das Wams war eng anliegend und fest zugeknöpft, der Mantel hing lose darüber und die Hosen reichten bis in die breiten Schnabelschuhe hinab, denn Strümpfe trugen sie nicht. Im Gürtel steckten Messer und Löffel und meist noch ein großes Messer, um sich damit wehren zu können, davon mußte man in jenen Zeiten oft Gebrauch machen. Ganz, wie eben beschrieben, ging an den Feiertagen der alte Anton, einer der ältesten Pfefferschwengel der Kleinhäuschengasse, gekleidet, nur hatte er nicht den hochköpfigen Hut, sondern eine Kapuze auf, und unter dieser noch eine gestrickte Mütze, eine richtige Nachtmütze. An die hatte er sich so gewöhnt, daß sie immer auf seinem Kopfe sitzen blieb. Er besaß zwei Stück davon. Er war zum Malen wie geschaffen; dürr wie ein Stock, mit tiefen Runzeln um Mund und Augen, hatte er lange, knochige Finger und buschige, graue Augenbrauen. Über dem linken Auge hing ein zottiges Büschel Haare, schön war es nicht, aber man konnte ihn sogleich daran erkennen. Man wußte von ihm, daß er aus Bremen war, und doch kam er eigentlich nicht daher, nur sein Herr wohnte dort. Er selbst stammte aus Thüringen, aus der Stadt Eisenach, dicht unter der Wartburg. Davon pflegte der alte Anton nicht viel zu sprechen, desto mehr dachte er daran.

Die alten Handlungsgehülfen in der Gasse kamen selten zusammen, jeder blieb in seinem Laden, der zeitig am Abend geschlossen wurde. Dann sah es dort düster aus, nur ein matter Lichtschein drang durch das kleine Hornfenster am Dache hinaus, hinter dem gewöhnlich der alte Gesell mit seinem deutschen Gesangbuche auf dem Bettrand saß und sein Abendlied sang. Mitunter ging er auch bis tief in die Nacht hinein im Hause umher und pusselte allerlei Kram zurecht, kurzweilig war es sicherlich nicht. Fremd im fremden Lande leben zu müssen ist ein bitteres Los, niemand bekümmert sich um einen, außer, wenn man jemandem im Wege steht.

Oft, wenn draußen die Nacht so recht dunkel war und der Regen herniederströmte, konnte es hier gar schauerlich und öde sein. Laternen gab es nicht, außer einer einzigen, die sehr klein war; sie hing gerade vor dem Bilde der heiligen Jungfrau, das an dem einen Ende der Gasse an die Wand gemalt war. Man hörte nur das Regenwasser laufen und die Tropfen gegen das Balkenwerk schlagen. Solche Abende waren lang und einsam, wenn man sich nicht etwas vornahm. Auspacken und einpacken, Tüten drehen und die Waagschale putzen ist nicht jeden Tag notwendig, aber dann nimmt man etwas anderes vor, und das tat der alte Anton. Er nähte sich selbst seine Sachen zurecht oder Dickte seine Schuhe. Wenn er dann endlich ins Bett kam, so behielt er nach seiner Gewohnheit seine Nachtmütze auf, zog sie noch ein wenig tiefer über den Kopf, aber sogleich schob er sie wieder hinauf, um zu sehen, ob auch das Licht gut gelöscht wäre. Er befühlte es, drückte noch einmal auf den Docht, legte sich dann auf die andere Seite und zog die Nachtmütze wieder herab. Doch oft kam ihm im gleichen Augenblick der Gedanke, ob wohl auch unten im Laden jede Kohle in dem kleinen Öfchen ganz ausgebrannt und gut abgedämpft sei. Ein kleiner Funke könne vielleicht doch zurückgeblieben sein, sich entzünden und Schaden anrichten. Und so kroch er wieder aus seinem Bette heraus und kletterte die Leiter hinunter, denn eine Treppe konnte man es nicht nennen. Kam er dann zum Ofen, so war dort kein Fünkchen mehr zu sehen, und er konnte wieder umkehren. Doch oft mußte er auf halbem Wege stehen bleiben, denn plötzlich war es ihm ungewiß, ob er auch die eiserne Stange vor die Tür gelegt und die Fensterläden verriegelt habe. Ja, dann mußte er auf seinen dünnen Beinen wieder hinab. Er fror und die Zähne klapperten ihm, wenn er wieder ins Bett kroch, denn die Kälte tritt erst dann richtig zutage, wenn sie weiß, daß sie nun fort soll. Er zog das Bett höher hinauf, die Nachtmütze tiefer über die Augen und wandle die Gedanken fort von des Tages Werk und Beschwer. Aber zu einer richtigen Behaglichkeit kam es doch nicht, denn nun kamen die alten Erinnerungen und hingen ihre Gardinen auf, darinnen stecken manchmal Stecknadeln, an denen man sich sticht, daß einem die Tränen in die Augen treten. Und so geschah es auch dem alten Anton oft; es kamen ihm heiße Tränen, die klarsten Perlen. Sie fielen auf die Bettdecke oder auf den Fußboden nieder und erklangen schmerzlich wie eine zerspringende Herzenssaite. Sie verdunsteten und loderten dabei zu einer hellen Flamme empor, die ein Lebensbild beleuchteten, das nie aus seinem Herzen schwand. Trocknete er dann seine Augen mit der Nachtmütze, so wunden Träne und Bild zerdrückt; doch die Quellen versiegten nicht, sie lagen in seinem Herzen. Die Bilder kamen nicht, wie sie in der Wirklichkeit aufeinander gefolgt waren. Oft kamen allein die schmerzlichen, oft aber leuchteten auch die wehmütig frohen auf, aber just diese waren es, die die stärksten Schatten warfen.

``Schön sind die Buchenwälder Dänemarks'' hieß es, doch schöner noch erhoben sich vor Antons innerem Auge die Buchenwälder um die Wartburg. Mächtiger und ehrwürdiger erschienen ihm die alten Eichen droben um die stolze Ritterburg, wo die Schlingpflanzen über Felsen und Steinblöcke hinabhingen. Süßer dufteten dort des Apfelbaumes Blüten als im dänischen Land; lebhaft fühlte und empfand er es noch immer. Eine Träne rollte, erklang und leuchtete auf. Deutlich konnte er in dem klaren Schein zwei kleine Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, spielen sehen. Der Knabe hatte rote Wangen, blondes Lockenhaar und ehrliche blaue Augen, das war des reichen Krämers Sohn, der kleine Anton, er selbst; das kleine Mädchen hatte braune Augen und schwarzes Haar; keck und klug sah sie aus, es war des Bürgermeisters Tochter, Molly. Die beiden spielten mit einem Apfel, sie schüttelten ihn und horchten, wie innen die Kerne klapperten. Dann schnitten sie ihn mitten durch, und jedes bekam ein Stück. Die Kerne teilten sie zwischen sich und aßen sie auf bis auf einen, der sollte in die Erde gelegt werden, meinte das kleine Mädchen.

``Dann sollst Du einmal sehen, was daraus wird; es wird etwas daraus, was Du Dir gar nicht denken kannst! Ein ganzer Apfelbaum wird daraus, aber nicht gleich.''

Den Kern pflanzten sie in einen Blumentopf, beide waren sehr eifrig bei der Sache. Der Knabe bohrte mit seinem Finger ein Loch in die Erde, das kleine Mädchen legte den Kern hinein und beide bedeckten ihn mit Erde.

``Nun darfst Du ihn aber morgen nicht wieder herausnehmen, um zu sehen, ob er Wurzeln bekommen hat,'' sagte sie, ``das darf man nicht. Ich habe es mit meinen Blumen auch getan, aber nur zweimal, ich wollte sehen, ob sie wüchsen. Damals wußte ich es nicht besser, und die Blumen starben!''

Der Blumentopf blieb bei Anton, und jeden Morgen, den ganzen Winter lang, sah er nach ihm, doch es war nur die schwarze Erde zu sehen. Nun kam das Frühjahr, die Sonne schien warm, da sproßten aus dem Blumentopf zwei kleine grüne Blättchen hervor.

``Das bin ich und Molly!'' sagte Anton, ``ist das hübsch, ach, ist das einzigschön!''

Bald kam auch ein drittes Blatt; wen sollte das bedeuten? Da kam wieder eins und noch eins. Jeden Tag und jede Woche wurde das Pflänzchen größer und schließlich wurde es ein ganzer Baum. Alles spiegelte sich in der einen Träne ab, die zerdrückt wurde und verschwand. Aber sie konnte wieder hervorquellen --- aus des alten Antons Herzen.

Dicht bei Eisenach dehnt sich eine Kette steiniger Berge aus, einer von ihnen ist stumpf und rund und trägt weder Baum noch Strauch noch Gras, er wird der Venusberg genannt. In seinem Innern wohnt Frau Venus, eine Göttin aus heidnischer Zeit, die auch Frau Holle genannt wird; das wußte und weiß noch jetzt jedes Kind in Eisenach. Zu sich hinein hatte sie den Ritter Tannhäuser gelockt, den Minnesänger aus der Wartburg Sängerkreis.

Die kleine Molly und Anton standen oft an dem Berge, da sagte sie einmal: ``Getraust Du Dich anzuklopfen und zu rufen: Frau Holle, Frau Holle, mach auf, hier ist Tannhäuser'' Doch das wagte Anton nicht. Molly wagte es. Doch nur die Worte: ``Frau Holle! Frau Holle'' rief sie laut und deutlich, den Rest ließ sie im Winde verfliegen, so undeutlich, daß Anton überzeugt war, daß sie eigentlich gar nichts gesagt habe. So keck sah sie dabei aus, so keck wie zuweilen, wenn sie mit anderen Mädchen ihm im Garten begegnete, die ihn alle küssen wollten, gerade weil sie wußten, daß er nicht geküßt sein wollte und um sich schlug; sie allein wagte es.

``Ich darf ihn küssen!'' sagte sie stolz und nahm ihn um den Hals; darin lag ihre Eitelkeit, und Anton fand sich darein und dachte nicht weiter darüber nach. Wie reizend sie war und wie keck! Frau Holle im Berge sollte auch schön sein, aber ihre Schönheit, sagte man, sei die verführerische Schönheit des Bösen. Die höchste Schönheit dagegen sei die der heiligen Elisabeth, der Schutzheiligen des Landes, der frommen thüringischen Fürstin, deren gute Taten in Sage und Legende so manchen Ort hier umraunten. In der Kapelle hing ihr Bild von silbernen Lampen umgeben; --- doch sie glich Molly nicht im entferntesten.

Der Apfelbaum, den die beiden Kinder gepflanzt hatten, wuchs Jahr für Jahr; er wurde so groß, daß er in den Garten in die frische Luft gepflanzt werden mußte, wo der Tau fiel, die Sonne warm herniederstrahlte und er Kräfte bekam, um dem Winter zu widerstehen. Nach des Winters Drangsal war es im Frühjahr gleichsam, als setze er vor Freude Blüten an, und im Herbst trug er zwei Äpfel, einen für Molly, einen für Anton, weniger hätten es auch nicht sein dürfen.

Der Baum war lustig emporgeschossen, und Molly hielt es wie der Baum, sie war frisch wie eine Apfelblüte; aber nicht lange durfte er die Blüte schauen. Die Zeiten wechseln, alles wechselt! Mollys Vater verließ die alte Heimat, und Molly zog mit ihm, weit fort. Ja, in unserer Zeit ist es nur eine Reise von wenigen Stunden, doch damals brauchte man mehr als Nacht und Tag, um so weit östlich von Eisenach, ganz an die äußerste Grenze von Thüringen nach der Stadt, die noch jetzt Weimar genannt wird, zu gelangen.

Und Molly weinte und Anton weinte; --- alle die Tränen rannen in einer einzigen Träne zusammen, und diese hatte den rötlichen, lieblichen Schimmer der Freude. Molly hatte ihm gesagt, sie mache sich mehr aus ihm als aus aller Herrlichkeit Weimars.

Es verging ein Jahr, es vergingen zwei, drei Jahre, und in dieser ganzen Zeit kamen zwei Briefe, den einen brachte ein Fuhrmann, den anderen hatte ein Reisender mitgenommen. Sie hatten einen langen, beschwerlichen Weg, mit vielen Umwegen an Städten und Dörfern vorbei, hinter sich.

Wie oft hatten nicht Anton und Molly zusammen die Geschichte von Tristan und Isolde gehört, und ebenso oft hatte er dabei an sich selbst und Molly gedacht, obwohl der Name Tristan bedeuten sollte, daß ``er mit Trauer geboren war'', und das paßte nicht auf Anton. Niemals wollte er auch, gleichwie Tristan, den Gedanken hegen müssen, ``sie hat mich vergessen.'' Doch auch Isolde vergaß ja nicht den Freund ihres Herzens, und als sie beide gestorben und einzeln zu beiden Seiten der Kirche begraben waren, wuchsen die Lindenbäume aus ihren Gräbern über das Kirchendach hin und trafen einander dort blühend. Das erschien Anton so schön und doch zugleich so traurig --- aber mit ihm und Molly konnte es nicht traurig ausgehen, und deshalb flötete er ein Lied des Minnesängers Walther von der Vogelweide:

\AMquote{
        ``Unter der Linden. \\
        An der Heide.''
}

Und so besonders schön erklang es darin:

\AMquote{
        ``Vor dem Wald mit süßem Schall \\
        Tandaradei. \\
        Sang im Tal die Nachtigall.''
}

Die Weise lag ihm immerfort auf der Zunge, und er sang sie und flötete sie in der mondhellen Nacht, als er zu Pferde durch den tiefen Hohlweg ritt, um nach Weimar zu kommen und Molly zu besuchen. Er wollte unerwartet kommen, und er kam unerwartet.

Wohl empfing ihn ein freundliches Willkommen, ein voller Becher Weins, eine muntere Gesellschaft, ja eine vornehme Gesellschaft, eine gemütliche Stube und ein gutes Bett, und doch war es nicht, wie er sich gedacht und erträumt hatte. Er verstand nicht sich, verstand nicht die anderen; aber wir verstehen es. Man kann in einem Hause, in einer Familie sein, und doch nicht festen Fuß fassen, man plaudert miteinander, wie man in einem Postwagen plaudert, kennt einander, wie man im Postwagen sich kennt, geniert einander und wünscht sich selbst oder den guten Nachbar Meilen weit fort. Und so erging es Anton.

``Ich bin ein ehrliches Mädchen,'' sagte Molly zu ihm, ``ich will es Dir selber sagen. Vieles hat sich verändert, seit wir als Kinder zusammen waren. Äußerlich und innerlich ist es anders geworden, Gewohnheit und Willen haben keine Macht über unser Herz. Anton. Ich will nicht, daß Du unfreundlich an mich zurückdenkst, jetzt, wo ich bald so weit fort von hier sein werde. Glaube mir, ich werde Dir stets ein gutes Gedenken bewahren, aber geliebt, wie ich nun weiß, daß man einen anderen Menschen lieben kann, habe ich Dich nie. Darein mußt Du Dich finden. Lebe wohl, Anton!''

Und Anton sagte auch Lebewohl; nicht eine Träne kam in seine Augen, doch er fühlte, daß keine Liebe zu Molly mehr in seinem Herzen war. Die glühende

Eisenstange wie die gefrorene Eisenstange reißen die Haut mit der gleichen Empfindung für uns von den Lippen, wenn wir sie küssen, und er küßte gleich stark in Liebe wie in Haß.

Nicht einen Tag gebrauchte Anton, um wieder heim nach Eisenach zu kommen, doch das Pferd, das er ritt, war zugrunde gerichtet.

``Was will das sagen'' rief er, ``ich bin zugrunde gerichtet, und ich will alles vernichten, was mich an sie erinnern kann. Frau Holle, Frau Venus, Du heidnisches Weib! --- Den Apfelbaum will ich zerbrechen und zerstampfen, mit Stumpf und Stiel soll er ausgerissen werden, nie soll er mehr blühen und Frucht tragen!''

Aber der Baum wurde nicht vernichtet; er selbst war innerlich vernichtet und lag fiebernd auf dem Bette. Was konnte ihm wieder aufhelfen? Eine Medizin kam, die es vermochte, die bitterste, die sich finden läßt, um den siechen Körper und die verkrampfte Seele wieder aufzurütteln: Antons Vater war nicht mehr der reiche Kaufmann. Schwere Tage, Tage der Prüfung, standen vor der Tür. Das Unglück wälzte sich heran, in großen Wogen drang es in das einst reiche Haus. Der Vater war ein armer Mann, die Sorgen und das Unglück lähmten ihn völlig. Da hatte Anton an anderes zu denken, als an Liebeskummer und seinen Zorn gegen Molly. Er mußte ordnen, helfen, tüchtig zupacken, selbst in die weite Welt hinaus mußte er, um sein Brot zu verdienen.

Er kam nach Bremen, machte Not und schwere Tage durch; das macht den Sinn entweder hart oder weich, oft allzu weich. So ganz anders waren Welt und Menschen, als er sie sich in seiner Kindheit gedacht hatte! Was waren ihm nun der Minnesänger Lieder: Kling und Klang, leere Worte. Ja, das war seine Meinung zuzeiten, doch ein andermal klangen ihn die Weisen zu Herzen und ihm ward fromm zu Sinn.

``Gottes Wille ist der beste!'' sagte er dann wohl. ``Gut war es, daß der liebe Gott Mollys Herz nicht an mich band. Wozu hätte es wohl geführt, da sich das Glück so gewendet hat. Sie ließ von mir, bevor sie noch etwas wußte oder nur ahnte, daß solch ein Umschlag vom Wohlstand in sein Gegenteil bevorstand. Gott in seiner Gnade hat es so gefügt, und er hat es zum Besten gefügt. Alles geschieht nach seinem weisen Willen. Sie konnte nichts dafür, und doch war ich ihr so bitter feind!''

Und Jahre vergingen. Antons Vater war tot, Fremde wohnten in seinem Vaterhause. Doch Anton sollte es wiedersehen. Sein reicher Herr sandte ihn auf eine Geschäftsreise, die ihn durch seine Geburtsstadt Eisenach führte. Die alte Wartburg stand unverändert droben auf den Felsen, mit den versteinerten Gestalten des ``Mönches und der Nonne''. Die mächtigen Eichen bildeten noch immer den gleichen Umriß, wie in seiner Kindheit. Der Venusberg schimmerte nackt und grau aus dem Tale herauf. Gern hätte er gesagt: ``Frau Holle, Frau Holle! Schließ auf den Berg, dann bleibe ich doch im Boden der Heimat!''

Das war ein sündhafter Gedanke, und er bekreuzigte sich. Da sang ein kleiner Vogel aus dem Gebüsch, und das alte Minnelied kam ihm in den Sinn:

\AMquote{
        ``Vor dem Wald mit süßem Schall \\
        Tandaradei. \\
        Sang im Tal die Nachtigall.''
}

So vieles fiel ihm wieder ein hier, in der Stadt seiner Kindheit, die er durch Tränen wiedersah. Sein Vaterhaus stand wie zuvor, aber der Garten war umgelegt. Ein Feldweg führte über eine Ecke des alten Gartenlandes, und der Apfelbaum, den er damals nicht zerstört hatte, stand noch dort, aber draußen vor dem Garten auf der anderen Seite des Weges. Doch die Sonne beschien ihn noch wie früher, er trug reiche Frucht, und seine Zweige bogen sich unter ihrer Last zu Boden.

``Er gedeiht!'' sagte er, ``er kann es.''

Einer von seinen großen Zweigen war abgebrochen; leichtfertige Hände hatten es getan, der Baum stand ja am offenen Fahrweg.

``Man bricht seine Blüten ohne einen Dank, man stiehlt seine Früchte und knickt seine Zweige; hier kann man sagen, wenn man von einem Baume wie von einem Menschen sprechen kann: Es ist ihm nicht an der Wiege gesungen worden, daß er einst so dastehen würde. Seine Geschichte begann so schön, und was ist nun daraus geworden? Verlassen und vergessen, ein Gartenbaum am Graben beim Felde an der Landstraße. Dort steht er ohne Schutz, zerzaust und geknickt. Er verdorrt zwar nicht davon, doch mit den Jahren werden die Blüten weniger, die Früchte bleiben aus und zuletzt --- Ja, dann ist seine Geschichte aus.''

Das waren Antons Gedanken dort unter dem Baume, und das dachte er noch manche Nacht in der kleinen einsamen Kammer seiner Holzhütte im fremden Lande in der Kleinhäuschengasse in Kopenhagen, wohin ihn sein reicher Herr, der Kaufmann in Bremen, gesandt hatte unter der Bedingung, daß er sich nicht verheirate.

``Sich verheiraten! Ho, ho'' lachte er so tief und seltsam.

Der Winter war zeitig gekommen, es fror hart. Draußen pfiff ein solcher Schneesturm, daß jeder, der irgend konnte, in seinen vier Wänden blieb. Daher kam es auch, daß Antons Gegenüber es nicht bemerkte, daß sein Laden zwei ganze Tage nicht geöffnet wurde und er selbst sich gar nicht zeigte, denn wer ging aus in dem Wetter, der es nicht mußte?

Es waren graue, dunkle Tage, und im Laden, dessen Fenster ja nicht aus Glas waren, wechselten nur Dämmerlicht und stockfinstere Nacht. --- Der alte Anton hatte seit zwei Tagen sein Bett nicht verlassen, er hatte nicht mehr die Kraft dazu. Das harte Wetter draußen hatte er lange schon in seinen Gliedern gespürt. Verlassen lag der alte Junggeselle und konnte sich nicht helfen; kaum konnte er den Wasserkrug erreichen, den er neben das Bett gestellt hatte; nun war der letzte Tropfen auch ausgetrunken. Es war weder Fieber noch Krankheit, es war das Alter, das ihn lähmte. Es war fast wie eine beständige Nacht um ihn dort oben, wo er lag. Eine kleine Spinne, die er nicht sehen konnte, spann zufrieden und emsig ihr Netz über ihn hin, als sollte hier doch wenigstens ein klein wenig neuer frischer Trauerflor wehen, falls der Alte seine Augen schlösse.

So lang und schleppend leer war die Zeit; Tränen hatte er nicht mehr, Schmerzen auch nicht; Molly lebte nicht mehr in seinen Gedanken. Er hatte ein Gefühl, als versänken die Welt und ihr Treiben vor ihm, als läge er schon außerhalb der Grenze; niemand dachte ja an ihn. Einen Augenblick meinte er Hunger zu fühlen, auch Durst --- ja, er fühlte es. Aber niemand kam, ihn zu erquicken, niemand wollte kommen. Er dachte an die heilige Elisabeth, seiner Heimat und Kindheit Heilige, Thüringens edle Herzogin, die hochvornehme Frau, die, als sie noch hier auf Erden wandelte, selbst in die Hütten der Armen stieg und den Kranken Hoffnung und Erquickung brachte, ihre frommen Taten standen licht vor seiner Seele. Er dachte daran, wie sie für alle, die litten, Worte des Trostes fand, wie sie der Kranken Wunden wusch und den Hungernden Speise brachte, ob auch ihr gestrenger Gemahl ihr darob zürnte. Er entsann sich der Sage, wie einmal, als sie mit ihrem mit Wein und Brot gefüllten Korbe daherkam, ihr Gemahl, der ihre Schritte bewachte, hervortrat und zornig fragte, was sie im Korbe trüge, und wie sie da voller Schrecken antwortete, es seien Rosen, die sie im Garten gepflückt habe, wie er dann das Tuch vom Korbe riß und das Wunder um der frommen Frau willen geschah, daß Wein und Brot, ja alles, was im Korbe lag, sich in Rosen verwandelte.

So lebte die Heilige in den Gedanken des alten Anton, so stand sie leibhaftig vor seinem matten Blick vor dem Bette in der geringen Holzhütte im dänischen Land. Er entblößte sein Haupt, sah in ihre milden Augen, und alles ringsum war voller Glanz und Rosen, die sich immer duftender ausbreiteten. Da drang auch ein lieblicher Äpfelduft zu ihm; ein blühender Apfelbaum streckte seine Zweige über ihn hin, es war der Baum, den er mit Molly einst als kleinen Kern gepflanzt hatte.

Und der Baum streute seine duftenden Blüten auf seine heiße Stirn nieder und kühlte sie; sie fielen auf seine verschmachtenden Lippen und taten ihm wohl wie stärkender Wein und Brot, sie fielen auf seine Brust, und er fühlte sich so leicht, so wohlig wie zum schlummern.

``Nun schlafe ich'' flüsterte er stille; ``der Schlaf tut wohl. Morgen bin ich wieder richtig frisch und kann aufstehen. Herrlich, herrlich! Den Apfelbaum, in Liebe gepflanzt, sehe ich in all seiner Pracht.''

Und er schlief.

Am Tage darauf, es war der dritte Tag, seit der Laden geschlossen blieb --- der Schnee fegte nicht mehr vom Himmel --- suchte der Nachbar nach dem alten Anton, der sich noch immer nicht zeigte. Er lag ausgestreckt, tot, seine alte Nachtmütze fest zwischen die Hände gedrückt. Im Sarge bekam er sie nicht auf, er hatte ja noch eine, rein und weiß.

Wo waren jetzt die Tränen, die er geweint hatte? Wo waren die Perlen? In der Nachtmütze blieben sie --- die echten gehen in der Wäsche nicht aus --- mit der Mütze wurden sie verwahrt und vergessen. --- Die alten Gedanken, die alten Träume sind noch immer in des Junggesellen Nachtmütze. Wünsch sie Dir nicht. Sie würde Dir den Kopf allzu heiß machen, den Puls stärker schlagen lassen, Dir Träume bringen, schwer, als seien sie Wirklichkeit. Das erlebte der Erste, der sie aufsetzte, und doch war es ein halbes Jahrhundert später und der Bürgermeister selber, der mit einer Frau und elf Kindern wohlversorgt zwischen seinen vier Wänden saß. Er träumte sogleich von unglücklicher Liebe, Fallit und Nahrungssorgen.

``Puh! wie die Nachtmütze einheizt!'' sagte er und riß sie vom Kopfe, und es rollte eine Perle und noch eine Perle zu Boden, sie erklangen und leuchteten. ``Das ist die Gicht!'' sagte der Bürgermeister, ``die mir vor den Augen flimmert!''

Es waren Tränen, vor einem halben Jahrhundert geweint, geweint von dem alten Anton aus Eisenach.

Wer auch später die Nachtmütze aufsetzte, immer bekam er Gesichte und Träume, seine eigene Geschichte verwandelte sich in die Geschichte Antons. Es wurde ein ganzes Märchen, es wurden viele daraus, die mögen andere erzählen. Nun haben wir die erste erzählt, und das ist unser letztes Wort: Wünsche Dir nie des Junggesellen Nachtmütze.

Der Schatten

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\AMsection{Der Schatten}

In den heißen Ländern brennt die Sonne ganz gewaltig, die Leute werden ganz mahagonibraun, ja in den allerheißesten Ländern werden sie zu Negern gebrannt. Aber es war bloß nach den heißen Ländern, wohin ein gelehrter Mann von den kalten gelangt war; der glaubte nun, daß er dort ebenso herumgehen könne, als daheim, das wurde ihm aber bald abgewöhnt. Er und alle vernünftigen Leute mußten zu Hause bleiben, die Fensterladen und Thüren waren den ganzen Tag über geschlossen; es sah aus, als ob das ganze Haus schlafe oder niemand zu Hause sei. Die schmale Straße mit den hohen Gebäuden, wo er wohnte, war nun auch so gebaut, daß die Sonne vom Morgen bis Abend hineinschien; es war wirklich nicht auszuhalten! --- Der gelehrte Mann aus dem kalten Lande war ein junger, ein kluger Mann, es kam ihm vor, als säße er in einem glühenden Ofen; das griff ihn so an, daß er ganz mager wurde, selbst sein Schatten schrumpfte zusammen, der wurde viel kleiner, als er daheim war, die Sonne nahm auch den mit. --- Sie lebten erst am Abend auf, wenn die Sonne untergegangen war.

Es war eine Freude, es mit anzusehen. Sobald das Licht in das Zimmer gebracht wurde, streckte der Schatten sich ganz gegen die Wand hinauf, so lang machte er sich; er mußte sich strecken, um wieder zu Kräften zu gelangen. Der Gelehrte trat auf den Altan, um sich dort zu strecken, und sobald die Sterne in der herrlichen Luft erschienen, dann war es ihm, als ob er wieder auflebte. Auf allen Altanen in der Straße --- und in den warmen Ländern hat jedes Fenster einen Altan --- kamen Leute zum Vorschein, denn Luft muß man haben, selbst wenn man gewöhnt ist, mahagonibraun zu sein! Es wurde lebendig oben und unten. Schuhmacher und Schneider, alle Leute zogen auf die Straße, da kamen Tisch und Stuhl, und das Licht brannte, ja über tausend Lichter brannten, und der eine sprach zum andern und sang, und die Leute spazierten, die Wagen fuhren, Maultiere gingen: klingelingeling, denn sie trugen Glocken. Da wurden Leichen mit Gesang begraben, die Straßenjungen brannten Sprühteufelchen ab, und die Glocken läuteten, ja es war recht lebendig unten auf der Straße. Nur in dem einen Hause, welches dem, worin der fremde, gelehrte Mann wohnte, gerade gegenüber lag, war es ganz stille, und doch wohnte da jemand, denn es standen Blumen auf dem Altan, die wuchsen üppig in der Sonnenhitze, und das konnten sie nicht, wenn sie nicht begossen werden, und jemand mußte sie doch begießen; Leute mußten also da sein. Die Thür da drüben wurde auch gegen Abend geöffnet, aber es war finster da drinnen, wenigstens im vordersten Zimmer, tiefer hinein ertönte Musik. Dem fremden, gelehrten Mann schien dieselbe außerordentlich schön zu sein, aber es war auch möglich, daß er sich das nur einbildete, denn er fand alles vortrefflich da draußen in den warmen Ländern, wenn nur die Sonne nicht so sehr gebrannt hätte. Der Wirt des Fremden sagte, daß er nicht wisse, wer das gegenüberliegende Haus gemietet habe, man erblicke ja keine Leute, und die Musik hielt er für langweilig. Es sei gerade, als ob jemand säße und ein Stück übe, das er doch nicht herausbringen könne, immer dasselbe Stück. ``Ich bekomme es doch heraus!'' meint er, aber es gelingt nicht, so lange er auch spielt.

Einmal nachts erwachte der Fremde, er schlief bei offener Altanthür, der Vorhang vor derselben wurde durch den Wind gelüftet, und es war ihm, als ob ein wunderbarer Glanz vom gegenüberliegenden Altan käme, alle Blumen leuchteten wie Flammen in den herrlichsten Farben, und mitten unter den Blumen stand eine schlanke, liebliche Jungfrau, es war, als ob sie auch leuchtete. Es blendete ihm förmlich die Augen, er riß sie aber auch gewaltig weit auf und kam eben aus dem Schlaf. Mit einem Sprung stand er auf dem Fußboden, ganz leise schlich er hinter den Vorhang, aber die Jungfrau war fort, der Glanz war fort; die Blumen leuchteten gar nicht, sondern standen sehr gut, wie immer, die Thür war angelehnt und tief aus dem Innern erklang Musik, so lieblich und schön, daß man wirklich in süße Gedanken dadurch versenkt werden konnte. Es war doch wie ein Zauber, und wer wohnte da? Wo war der eigentliche Eingang? Im ganzen Erdgeschoß war Laden an Laden, und da konnten die Leute doch nicht immer hindurchlaufen.

Eines Abends saß der Fremde draußen auf seinem Altan, im Zimmer hinter ihm brannte Licht, und deshalb war es ganz natürlich, daß sein Schatten auf die gegenüberliegende Wand fiel, ja, da saß er gerade drüben zwischen den Blumen auf dem Altan; und wenn der Fremde sich bewegte, so bewegte sich der Schatten auch, denn das thut er. ---

``Ich glaube, mein Schatten ist das einzige Lebendige, was man da drüben erblickt!'' sagte der gelehrte Mann. ``Sieh, wie hübsch er zwischen den Blumen sitzt, die Thür ist halb angelehnt, und nun sollte der Schatten so pfiffig sein und hineingehen, und dann zurückkehren und mir erzählen, was er dort erblickt hat! Ja, Du solltest Dich nützlich machen!'' sagte er im Scherz. ``Gehe gefälligst hinein! Nun, wirst Du gehen?'' und dann nickte er dem Schatten zu, und der Schatten nickte wieder. ``Nun so gehe, aber bleibe nicht ganz fort!'' Der Fremde erhob sich, und sein Schatten auf dem gegenüberliegenden Altan erhob sich auch, der Fremde kehrte sich um, und der Schatten kehrte sich auch um, ja, wenn jemand genau darauf geachtet hätte, so würde er deutlich haben sehen können, daß der Schatten in die halb offene Altanthür des gegenüberliegenden Hauses hineinging, gerade wie der Fremde in sein Zimmer hineintrat und den langen Vorhang hinter sich fallen ließ.

Am folgenden Morgen ging der gelehrte Mann aus, um Kaffee zu trinken und Zeitungen zu lesen. ``Was ist das?'' sagte er, als er in den Sonnenschein kam, ``ich habe ja keinen Schatten! Also ist er wirklich gestern Abend fortgegangen und nicht zurückgekehrt; das ist doch recht unangenehm!''

Und es ärgerte ihn, doch nicht so sehr, daß der Schatten fort war, sondern weil er wußte, daß es eine Geschichte giebt von einem Manne ohne Schatten, diese kannten ja alle Leute daheim in den kalten Ländern, und käme nun der gelehrte Mann dorthin und erzählte die seine, so würde man sagen, daß er nur nachzuahmen suche und das brauchte er nicht. Deshalb wollte er gar nicht davon sprechen, und das war vernünftig gedacht.

Am Abend ging er wieder auf seinen Altan hinaus, das Licht hatte er ganz richtig hinter sich gestellt, denn er wußte, daß der Schatten immer seinen Herrn zum Schirm haben will, aber er konnte ihn nicht hervorlocken. Er machte sich klein, er machte sich groß, aber es kam kein Schatten wieder. Er sagte: ``Hm! hm!'' aber es half nichts.

Ärgerlich war es, aber in den warmen Ländern wächst alles geschwind, und nach Verlauf von acht Tagen bemerkte er zu seinem großen Vergnügen, daß ihm ein neuer Schatten von den Beinen aus wuchs, sobald er in den Sonnenschein kam; die Wurzel mußte sitzen geblieben sein. Nach drei Wochen hatte er einen ganz leidlichen Schatten, der, als er sich heim nach den nördlichen Ländern begab, auf der Reise mehr und mehr wuchs, sodaß er zuletzt so lang und so groß war, daß es an der Hälfte genug gewesen wäre.

So kam der gelehrte Mann nach Hause, und er schrieb Bücher über das, was wahr ist in der Welt, und über das, was gut und was schön ist, und so verstrichen Tage und Jahre; es vergingen viele Jahre.

Da sitzt er eines Abends in seinem Zimmer und da klopft es ganz sacht an die Thür.

``Herein!'' sagt er, aber es kommt niemand, da öffnet er die Thür, und da stand ein außerordentlich magerer Mensch vor ihm, sodaß es ihm ganz sonderbar wurde. Übrigens war der Mensch sehr fein gekleidet, es mußte ein vornehmer Mann sein.

``Mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?'' fragte der Gelehrte.

``Ja, das dachte ich wohl,'' sagte der feine Mann, ``daß Sie mich nicht erkennen würden! Ich bin so viel Körper geworden, ich habe ordentlich Fleisch und Kleider bekommen! Sie haben wohl nie daran gedacht, mich in solchem Wohlstand zu erblicken. Kennen Sie ihren alten Schatten nicht? Ja, Sie haben sicher nicht geglaubt, daß ich je wiederkommen würde. Mir ist es außerordentlich wohl ergangen, seitdem ich das letzte Mal bei Ihnen war, ich bin in jeder Hinsicht sehr vermögend geworden. Wenn ich mich vom Dienst freikaufen will, so kann ich es!'' Dabei klapperte er mit einem ganzen Bund kostbarer Petschafte, die an der Uhr hingen, und er steckte seine Hand in die dicke, goldene Kette, die er um den Hals trug; wie blitzten alle Finger von Diamantringen! Und das war alles echt.

``Nein, ich kann mich gar nicht erholen!'' sagte der gelehrte Mann, ``was bedeutet dieses alles?''

``Ja, es ist nichts Gewöhnliches!'' sagte der Schatten, ``aber Sie gehören ja selbst nicht zu den Gewöhnlichen, und ich, das wissen Sie wohl, bin von Kindesbeinen an in Ihre Fußtapfen getreten. Sobald Sie fanden, daß ich reif war, um allein in die Welt hinauszugehen, ging ich meinen eigenen Weg. Ich befinde mich in der besten Lage, aber es befiel mich eine Art von Sehnsucht, Sie einmal zu sehen, bevor Sie sterben, Sie müssen ja sterben! Auch wollte ich diese Länder gern wiedersehen, denn man liebt das Vaterland doch immer! --- Ich weiß, Sie haben einen andern Schatten wieder erhalten, habe ich demselben oder Ihnen etwas zu bezahlen? Haben Sie nur die Güte, es zu sagen.''

``Nein, bist Du es wirklich?'' sagte der gelehrte Mann, ``das ist doch höchst merkwürdig! Nie hätte ich geglaubt, daß ein alter Schatten als Mensch wiederkommen könne!''

``Sagen Sie mir, was ich zu bezahlen habe!'' sagte der Schatten, ``denn ich will nicht gern jemandes Schuldner sein.''

``Wie kannst Du so sprechen!'' sagte der gelehrte Mann, ``von Schuld kann hier nicht die Rede sein! Sei so frei wie irgend einer! Ich freue mich außerordentlich über Dein Glück! Setze Dich, alter Freund, und erzähle mir nur, wie sich alles zugetragen, und was Du dort in den warmen Ländern in dem gegenüberliegenden Hause erblickt hast!''

``Ja, das werde ich Ihnen erzählen,'' sagte der Schatten, und setzte sich nieder, ``aber dann müssen Sie mir auch versprechen, daß Sie nie jemand hier in der Stadt, wo Sie mich auch treffen mögen, sagen, daß ich Ihr Schatten gewesen bin! Ich beabsichtige mich zu verloben; ich kann mehr als eine Familie ernähren!'' ---

``Sei ganz ruhig,'' sagte der gelehrte Mann, ``ich werde niemand sagen, wer Du eigentlich bist! Hier ist meine Hand! Ich verspreche es, und ein Mann, ein Wort!''

``Ein Wort, ein Schatten!'' sagte der Schatten, denn so mußte er sprechen.

Es war übrigens wirklich merkwürdig, wie sehr er Mensch war. Er war ganz schwarz gekleidet und in das allerfeinste schwarze Tuch, hatte glänzende Stiefel und einen Hut, den man zusammendrücken konnte, sodaß er nichts als Deckel und Krempe war, nicht zu gedenken, was wir schon wissen, der Petschafte, der goldenen Halskette und der Diamantringe; ja, der Schatten war außerordentlich gut gekleidet, und das war es gerade, was ihn zu einem ganzen Menschen machte.

``Nun werde ich erzählen!'' sagte der Schatten, und dann setzte er seine Beine mit den Stiefeln, so fest er konnte, auf den Arm des neuen Schattens des gelehrten Mannes nieder, der wie ein Pudel zu seinen Füßen lag, und das geschah nun entweder aus Hochmut, oder vielleicht, daß derselbe daran hängen bleiben sollte. Aber der liegende Schatten verhielt sich ganz still und ruhig, um recht zuzuhören, er wollte wohl auch wissen, wie man so loskommen und sich zu seinem eigenen Herrn aufdienen könne.

``Wissen Sie, wer in dem gegenüberliegenden Hause wohnte?'' sagte der Schatten, ``es war das Schönste von allem, es war die Poesie! Ich war dort drei Wochen, und das ist ebenso wirksam, als ob man dreitausend Jahre lebte, und alles lesen würde, was gedichtet und geschrieben ist, das behaupte ich, und das ist richtig. Ich habe alles gesehen, und ich weiß alles!''

``Die Poesie!'' rief der gelehrte Mann, ``ja, --- sie ist oft Einsiedlerin in den großen Städten! Die Poesie! Ja, ich habe sie einen einzigen, kurzen Augenblick gesehen, aber ich hatte die Augen voll Schlaf! Sie stand auf dem Altan und leuchtete, wie das Nordlicht leuchtet. Erzähle, erzähle! Du warst auf dem Altan, Du gingst zur Thür hinein und dann --- --- !''

``Dann befand ich mich im Vorzimmer!'' sagte der Schatten. ``Sie saßen stets und sahen nach dem Vorgemach hinüber. Da war gar kein Licht, dort herrschte eine Art Dämmerung, aber in einer langen Reihe von Zimmern und Sälen standen die einander gegenüberliegenden Thüren offen; da war es erhellt, ich wäre vom Licht völlig erschlagen worden, wenn ich ganz bis zur Jungfrau hineingekommen wäre; aber ich war besonnen, ich nahm mir Zeit, und das muß man thun!''

``Und was erblicktest Du dann?'' fragte der gelehrte Mann.

``Ich sah alles, und ich werde es Ihnen erzählen, aber --- es ist durchaus kein Stolz von meiner Seite --- als freier Mann und bei den Kenntnissen, die ich besitze, meine gute Stellung und meine ausgezeichneten Vermögensverhältnisse nicht zu erwähnen, so wünschte ich wohl, daß Sie mich Sie nennen möchten!''

``Ich bitte um Verzeihung,'' sagte der gelehrte Mann, ``es ist eine alte, eingewurzelte Gewohnheit! --- Sie haben vollkommen recht und ich werde daran denken; aber nun erzählen Sie mir alles, was Sie gesehen haben.''

``Alles,'' sagte der Schatten, ``denn ich sah alles, und weiß alles!''

``Wie sah es in den innersten Sälen aus?'' fragte der gelehrte Mann. ``War es dort wie in dem frischen Walde? War es dort wie in einer Kirche? Waren die Säle wie der sternenhelle Himmel, wenn man auf den hohen Bergen steht?''

``Alles war da!'' sagte der Schatten. ``Ich ging ja nicht ganz hinein, ich blieb im vordersten Zimmer in der Dämmerung, aber da stand ich sehr gut, ich sah alles, und ich weiß alles! Ich bin am Hofe der Poesie im Vorgemach gewesen.''

``Aber was sahen Sie? Gingen durch die großen Säle alle Götter der Vorzeit? Kämpften dort die alten Helden? Spielten dort liebliche Kinder und erzählten ihre Träume?''

``Ich sage Ihnen, daß ich dort war, und Sie begreifen wohl, daß ich alles sah, was dort zu sehen war! Wären Sie hinübergekommen, so wären Sie nicht Mensch geblieben, aber das wurde ich, und zugleich lernte ich meine innerste Natur, mein Angeborenes, die Verwandtschaft, die ich mit der Poesie hatte, kennen. Ja, damals, als ich bei Ihnen war, dachte ich nicht darüber nach, aber immer, das wissen Sie, wenn die Sonne auf- und unterging, wurde ich so wunderbar groß, im Mondschein war ich fast noch deutlicher, als Sie selbst. Ich verstand damals meine Natur nicht, im Vorgemach der Poesie wurde es mir klar. --- Ich wurde Mensch! --- Reif ging ich daraus hervor, aber Sie waren nicht mehr in den warmen Länderr; ich schämte mich, als Mensch zu gehen, wie ich ging, ich bedurfte der Stiefel, der Kleider, dieses ganzen Menschenfirnisses, welches den Menschen kenntlich macht. --- Ich suchte Schutz, ja, Ihnen sage ich es, Sie setzen es ja in kein Buch, ich suchte Schutz im Rock der Kuchenfrau, darunter versteckte ich mich. Die Frau dachte gar nicht daran, wieviel sie verberge; erst am Abend ging ich aus, ich lief im Mondschein auf der Straße herum, ich streckte mich lang gegen die Mauer, das kitzelte so schön den Rücken, ich lief hinauf und hinab, schaute durch die höchsten Fenster in die Säle und aufs Dach, ich sah hin, wohin niemand sehen konnte, und ich erblickte, was kein anderer sah, was niemand sehen sollte. Es ist im Grunde eine böse Welt! Ich möchte nicht Mensch sein, wenn es nicht einmal angenommen wäre, daß es etwas bedeute, es zu sein! Ich sah das Allerunglaublichste bei den Frauen, bei den Männern, bei den Eltern und bei den unvergleichlich lieben Kindern; --- ich sah,'' sagte der Schatten, ``was kein Mensch wissen sollte, was sie aber alle so gern wissen möchten, das Böse bei den Nachbarn. --- Hätte ich eine Zeitung geschrieben, die wäre gelesen worden! Aber ich schrieb gerade an die Personen selbst, und es entstand Schrecken in allen Städten, in die ich kam. Sie wurden bange für mich, und sie hatten mich außerordentlich lieb. Die Lehrer machten mich zum Lehrer, die Schneider gaben mir neue Kleider, ich bin gut versorgt; der Münzmeister schlug Münzen für mich, und die Frauen sagten, ich sei schön! --- So wurde ich der Mann der ich bin, und nun sage ich Ihnen Lebewohl; hier ist meine Karte, ich wohne auf der Sonnenseite und bin bei Regenwetter immer zu Hause!'' Damit ging der Schatten.

``Das war doch merkwürdig!'' sagte der gelehrte Mann.

Es verstrichen Jahr und Tag, dann kam der Schatten wieder.

``Wie geht es?'' fragte er.

``Ach!'' sagte der gelehrte Mann, ``ich schreibe über das Wahre, und das Gute, und das Schöne, aber niemand mag dergleichen hören, ich bin ganz verzweifelt, denn ich nehme mir das so zu Herzen!''

``Das thue ich nicht,'' sagte der Schatten, ``ich werde fett, und das muß man zu werden trachten! Ja, Sie verstehen sich nicht auf die Welt. Sie werden krank dabei. Sie müssen reisen! Ich mache im Sommer eine Reise, wollen Sie mitkommen? Ich möchte wohl einen Reisekameraden haben, wollen Sie als Schatten mitreisen? Es wird mir sehr viel Vergnügen machen, Sie mitzunehmen, ich bezahle die Reise!''

``Das geht zu weit!'' sagte der gelehrte Mann.

``Das ist gerade, wie man es nimmt!'' sagte der Schatten. ``Eine Reise wird Ihnen außerordentlich wohl thun! Wollen Sie mein Schatten sein, so sollen Sie auf der Reise alles frei haben!''

``Das ist zu toll!'' sagte der gelehrte Mann.

``Aber die Welt ist nun so,'' sagte der Schatten, ``und so bleibt sie auch!'' und dann ging der Schatten.

Dem gelehrten Mann ging es gar nicht gut, Sorgen und Plagen verfolgten ihn; und was er über das Wahre, und das Gute und das Schöne sagte, das war für die meisten gerade wie die Rosen für eine Kuh! --- Er ward zuletzt krank.

``Sie sehen wirklich wie ein Schatten aus!'' sagten die Leute zu ihm, und es schauderte den gelehrten Mann, wenn er darüber nachdachte.

``Sie müssen in ein Bad reisen,'' sagte der Schatten, der ihn zu besuchen kam, ``da hilft nichts weiter! Ich will Sie aus alter Bekanntschaft mitnehmen, ich bezahle die Reise, und Sie machen die Beschreibung und belustigen mich ein wenig unterwegs! Ich will nach einem Bade, mein Bart wächst nicht hervor, wie er sollte, das ist auch eine Krankheit, und einen Bart muß man haben! Seien Sie nun vernüftig, und nehmen Sie mein Anerbieten an, wir reisen ja wie Kameraden!''

Und dann reisten sie, der Schatten war Herr, und der Herr war Schatten. Sie fuhren mit einander, sie ritten und gingen zusammen, Seite an Seite, vor und hintereinander, je nachdem die Sonne stand. Der Schatten wußte sich immer auf dem Herrenplatz zu halten, und das fiel dem gelehrten Manne nicht weiter auf; er war sehr gutmütig und sehr sanft und freundlich, und da sagte er eines Tages zum Schatten: ``Da wir nun so Reisekameraden geworden, wie wir jetzt sind, und wir zugleich von der Kindheit an zusammen aufgewachsen sind, wollen wir da nicht Brüderschaft trinken? Das ist doch weit traulicher!''

``Sie sagen da etwas,'' sagte der Schatten, welcher ja nun der eigentliche Herr war, ``das ist recht gerade heraus und wohlgemeint gesprochen. Sie, als gelehrter Mann, wissen sicher, wie sonderbar die Natur ist. Manche Menschen können es nicht ertragen, graues Papier anzufassen, dann wird ihnen unwohl; andern geht es durch alle Glieder, wenn man mit einem Nagel gegen eine Glasscheibe reibt; ich habe ein eben solches Gefühl, wenn ich höre, daß Sie Du zu mir sagen, ich fühle mich gleichsam zu Boden gedrückt, wie in meiner ersten Stellung bei Ihnen. Sie sehen, es ist ein Gefühl, es ist nicht Stolz; ich kann Sie nicht Du zu mir sagen lassen, aber ich werde gern Du zu Ihnen sagen, dann ist die Hälfte Ihres Wunsches erfüllt!''

Und dann sagte der Schatten Du zu seinem früheren Herrn.

``Das ist doch wahrhaft toll,'' dachte er, ``daß ich Sie sagen muß, und er Du sagt!'' aber nun mußte er aushalten.

Dann kamen sie nach einem Bade, wo viele Fremde waren, und unter diesen eine schöne Königstochter, welche die Krankheit hatte, daß sie allzu scharf sah, und das war höchst ängstlich.

Sie merkte sogleich, daß der, welcher angekommen war, eine ganz andere Person sei, als alle die andern. ``Er ist hier, um seinen Bart zum Wachsen zu bringen, sagte man, aber ich erkenne die rechte Ursache, er kann keinen Schatten werfen.''

Sie war neugierig geworden, und daher ließ sie sich sogleich auf der Promenade mit dem fremden Herrn in ein Gespräch ein. Als Königstochter brauchte sie nicht viel Umstände zu machen, und deshalb sagte sie: ``Ihre Krankheit ist, daß Sie keinen Schatten werfen können.''

``Ihre königliche Hoheit müssen sich bedeutend in der Besserung befinden!'' sagte der Schatten. ``Ich weiß, daß Ihr Übel darin besteht, daß Sie allzu scharf sehen, das hat sich aber verloren, Sie sind geheilt. Ich habe gerade einen ganz ungewöhnlichen Schatten! Sehen Sie nicht die Person, welche immer mit mir geht? Andere Menschen haben einen gewöhnlichen Schatten, ich liebe aber das Gewöhnliche nicht. Man giebt oft seinen Dienern feineres Tuch, als man selbst trägt, und so habe ich meinen Schatten zum Menschen aufputzen lassen! Ja, Sie sehen, daß ich ihm sogar einen Schatten gegeben habe. Das ist etwas Kostbares, aber ich liebe es, etwas für mich allein zu haben.''

``Was?'' dachte die Prinzessin, ``sollte ich mich wirklich erholt haben! Dieses Bad ist das beste von allen! Das Wasser hat in unserer Zeit ganz erstaunliche Kräfte. Aber ich reise nicht ab, denn jetzt wird es hier unterhaltend; der Fremde gefällt mir. Wenn nur sein Bart nicht wächst, denn sonst reist er ab!''

Am Abend in dem großen Ballsaal tanzten die Königstochter und der Schatten. Sie war leicht, aber er war noch leichter, einen solchen Tänzer hatte sie noch nie gehabt. Sie sagte ihm, aus welchem Lande sie sei, und er kannte das Land, er war dort gewesen, aber damals war sie nicht zu Hause gewesen, er hatte in die Fenster geschaut, sowohl oben wie unten, er hatte sowohl das eine wie das andere erblickt, und daher konnte er der Königstochter antworten und Andeutungen machen, daß sie ganz erstaunt wurde. Er mußte der weiseste Mann auf der ganzen Erde sein! Sie bekam große Achtung vor seinem Wissen, und als sie dann wieder tanzten, da wurde sie verliebt, und das konnte der Schatten recht gut merken, denn sie hätte ihn fast durch und durch gesehen. Dann tanzten sie noch einmal, und da war sie nahe daran, es zu sagen, aber sie war besonnen, sie dachte an ihr Land und an ihr Reich, und an die vielen Menschen, die sie zu regieren hatte. ``Ein weiser Mann ist er,'' sagte sie zu sich selbst, ``das ist gut, und herrlich tanzt er, das ist auch gut. Ob er aber gründliche Kenntnisse hat, das muß untersucht werden.'' Nun fing sie an, ihn nach etwas von dem Allerschwierigsten zu fragen, sie hätte es selbst nicht beantworten können, und der Schatten machte ein ganz sonderbares Gesicht.

``Das können Sie nicht beantworten!'' sagte die Königstochter.

``Es gehört zu meiner Schulgelehrsamkeit,'' sagte der Schatten, ``ich glaube sogar, mein Schatten dort bei der Thür kann es beantworten!''

``Ihr Schatten,'' sagte die Königstochter, ``das würde höchst merkwürdig sein!''

``Ja, ich sage nicht mit Bestimmtheit, daß er es kann,'' sagte der Schatten, ``aber ich möchte es glauben, er ist mir nun viele Jahre lang gefolgt, und hat mich gehört, ich möchte es wohl glauben. Aber Ew.\ königliche Hoheit erlauben, daß ich Sie darauf aufmerksam mache, daß er so stolz ist, um für einen Menschen gelten zu wollen, daß er, wenn er bei guter Laune sein soll, und das muß er sein, um gut zu antworten, ganz wie ein Mensch behandelt werden muß.''

``Das gefällt mir!'' sagte die Königstochter.

So ging sie zu dem gelehrten Mann bei der Thür, und sprach mit ihm von Sonne und Mond, und von den äußern und innern Menschen, und er antwortete klug und gut.

``Was muß das für ein Mann sein, der einen so weisen Schatten hat!'' dachte sie. ``Es würde ein wahrer Segen für mein Volk und Reich sein, wenn ich ihn zum Gemahl erwählte; --- ich thue es!''

Und sie waren bald einig, sowohl die Königstochter wie der Schatten, aber niemand sollte davon etwas erfahren, bevor sie in ihr eigenes Reich zurück kam.

``Niemand, nicht einmal mein Schatten!'' sagte der Schatten, und da hatte er nun seine eigenen Gedanken dabei! ---

Dann kamen sie in das Land, wo die Königstochter regierte, wenn sie zu Hause war.

``Höre, mein guter Freund,'' sagte der Schatten zu dem gelehrten Manne, ``jetzt bin ich so glücklich und mächtig geworden, wie nur jemand sein kann, nun will ich auch etwas Außerordentliches für Dich thun. Du sollst immer bei mir auf dem Schlosse wohnen, mit mir in meinem königlichen Wagen fahren und jährlich hunderttausend Reichsthaler haben; aber dann mußt Du Dich von allen und jeden Schatten nennen lassen; Du mußt nicht sagen, daß Du je Mensch gewesen bist und einmal des Jahres, wenn ich auf dem Altan im Sonnenschein sitze, und mich sehen lasse, mußt Du zu meinen Füßen liegen, wie es einem Schatten gebührt! Ich will Dir sagen, ich heirate die Königstochter, heute soll die Hochzeit gefeiert werden.''

``Nein, das ist doch zu toll,'' sagte der gelehrte Mann, ``das will ich nicht, das thue ich nicht; das heißt das ganze Land betrügen und die Königstochter dazu! Ich sage alles, daß ich ein Mensch bin und daß Du ein Schatten bist, Du bist nur angekleidet!''

``Das glaubt niemand!'' sagte der Schatten, ``sei vernünftig, oder ich rufe die Wache!'' ---

``Ich gehe gerade zur Königstochter!'' sagte der gelehrte Mann. ``Aber ich gehe zuerst,'' sagte der Schatten, ``und Du gehst in das Gefängnis!'' --- und das mußte er, denn die Schildwachen gehorchten ihm, von dem sie wußten, daß die Königstochter ihn heiraten wollte.

``Du bebst,'' sagte die Königstochter, als der Schatten zu ihr hineinkam, ``ist etwas vorgefallen? Du mußt zu heute Abend nicht krank werden, jetzt, wo wir Hochzeit halten wollen.''

``Ich habe das Gräulichste erlebt, was man erleben kann!'' sagte der Schatten, ``denke Dir, --- ja, solch ein armes Schattengehirn kann nicht viel aushalten, --- denke Dir, mein Schatten ist verrückt geworden, er glaubt, er sei ein Mensch, und daß ich --- denke nur --- daß ich sein Schatten sei!''

``Das ist doch fürchterlich,'' sagte die Prinzessin, ``er ist doch eingesperrt?''

``Das ist er! Ich fürchte, er wird sich nie wieder erholen.''

``Der arme Schatten,'' sagte die Prinzessin, ``er ist sehr unglücklich; es ist eine wahre Wohlthat, ihn von dem bißchen Leben, was er hat, zu befreien, und wenn ich recht darüber nachdenke, so glaube ich, es wird notwendig sein, daß man es in aller Stille mit ihm abmacht!''

``Das ist freilich hart,'' sagte der Schatten, ``denn er war ein treuer Diener!'' Und dann that er, als ob er seufzte.

``Sie sind ein edler Mann!'' sagte die Königstochter.

Am Abend war die ganze Stadt erleuchtet, und die Kanonen gingen los: bum! --- und die Soldaten präsentierten das Gewehr. Das war eine Hochzeit! Die Königstochter und der Schatten traten auf den Altan hinaus, um sich sehen zu lassen und noch einmal ein Hurra zu bekommen.

Der gelehrte Mann hörte nichts von diesen Herrlichkeiten --- --- denn ihm hatten sie das Leben genommen.

Suppe von einem Wurstspeiler

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\AMsection{Suppe von einem Wurstspeiler}

``Das war gestern ein ausgezeichnetes Mittagessen'' sagte eine alte Mäusedame zu einer anderen, die nicht mit dabei gewesen war. ``Ich saß auf dem einundzwanzigsten Platz von dem alten Mäusekönig ab gerechnet, das ist etwas nichts Geringes. Über die Gänge kann ich Ihnen nur sagen, daß sie ausgezeichnet zusammengesetzt waren! Verschimmeltes Brot, Speckschwarte, Talglichte und Wurst und dann dasselbe noch einmal von vorne an. Es war ebensogut, als hätten wir zweimal Mahlzeit gehalten. Es war eine behagliche Stimmung und ein gemütlicher Wirrwar wie in einem Familienkreise. Nichts ist übrig geblieben außer den Wurstspeilern. Darüber wurde natürlich gesprochen und jemand meinte sogar, man könne aus einem Wurstspeiler Suppe kochen. Gehört hatte ja schon jeder davon, aber niemand hatte solche Suppe je gekostet, geschweige denn, daß er sie zu bereiten verstünde. Es wurde ein sehr hübsches Wohl auf den Erfinder der Suppe ausgebracht, er verdiene, Armenhausvorstand zu werden. War das nicht witzig? Und der alte Mäusekönig erhob sich und gelobte, daß diejenige von den jungen Mäuschen, die die besprochene Suppe am wohlschmeckendsten herzustellen verstünde, seine Königin werden sollte. Jahr und Tag sollten sie Bedenkzeit haben.''

``Das wäre gar nicht so übel!'' sagte die andere Maus, ``aber wie bereitet man die Suppe zu?''

``Ja, wie bereitet man sie zu?'' Danach fragten alle kleinen Mäuschen, die jungen und die alten. Jede wollte gern Königin werden, aber keine wollte die Unbequemlichkeit auf sich nehmen, in die weite Welt hinauszugehen, um es zu erlernen, aber es würde wohl doch notwendig werden. Doch es ist nicht jedem gegeben, die Familie und die alten traulichen Ecken und Winkel zu verlassen. Da draußen geht man nicht jeden Tag über Käserinden und riecht Speckschwarten, nein, man kann sogar dazu kommen, zu hungern, vielleicht auch dazu, lebendigen Leibes von einer Katze gefressen zu werden.

Diese Gedanken waren es wohl auch, die die meisten davon abschreckten, auf Kundschaft auszuziehen. Endlich fanden sich zur Abreise nur vier Mäusejungfrauen, jung und heiter, aber arm, bereit. Jede wollte an eine der vier Ecken der Welt ziehen; nun kam es nur darauf an, welcher das Glück folgte. Jede nahm einen Wurstspeiler mit, um nicht zu vergessen, weshalb sie reiste; er sollte ihr Wanderstab sein.

Anfang Mai zogen sie von dannen, und in den ersten Maitagen, nach einem Jahre, kamen sie zurück, doch nur drei von ihnen, die vierte meldete sich nicht und ließ auch nichts von sich hören. Und nun war der Tag der Entscheidung.

``Daß doch immer ein bitterer Tropfen im Freudenbecher sein muß'' sagte der Mäusekönig, gab aber doch Befehl, alle Mäuse viele Meilen im Umkreise einzuladen: sie sollten sich in der Küche versammeln. Die drei weitgereisten Mäusejungfrauen standen für sich in einer Reihe; für die vierte, die fehlte, war ein Wurstspeiler mit schwarzem Flor hingestellt worden. Niemand wagte seine Meinung zu sagen, ehe die drei gesprochen und der Mäusekönig gesagt haben würde, was weiter geschehen solle.

Nun werden wir hören.

\AMsubsection{Was das erste Mäuschen auf der Reise gesehen und gelernt hatte}

``Als ich in die weite Welt hinauszog,'' sagte das Mäuschen, ``glaubte ich wie so viele in meinem Alter, daß ich alle Weisheit der Welt in meinem Kopfe hätte. Ich ging sogleich zur See, und zwar mit einem Schiffe, das nach Norden steuerte. Ich hatte gehört, daß der Koch auf See es verstehen müsse, sich zu helfen. Aber es ist leicht, sich zu helfen, wenn alles mit Speckseiten, Pökelfleisch und stockigem Mehl gefüllt ist; man lebt ausgezeichnet! Aber man lernt nicht, wie man aus einem Wurstspeiler Suppe bereitet. Wir segelten viele Tage und Nächte lang, bald schlingerte das Schiff, bald hatten wir mit eindringendem Wasser zu kämpfen. Als wir an Ort und Stelle ankamen, verließ ich das Schiff; es war hoch oben im Norden.

Es ist ein wunderlich Ding, aus dem heimatlichen Winkel auf ein Schiff zu kommen, das auch eine Art Winkel ist, und sich dann plötzlich über hundert Meilen entfernt im fremden Lande zu finden. Dort gab es wilde Tannen- und Birkenwälder; sie dufteten so stark. Aber ich mag das nicht. Die wilden Kräuter rochen so gewürzig, daß ich niesen und an Wurst denken mußte. Dort waren große Waldseen, in der Nähe sah ihr Wasser so klar aus, aber aus einigem Abstand gesehen war es schwarz wie Tinte. Da schwammen weiße Schwäne, ich hielt sie zuerst für Schaum, so stille lagen sie auf dem Wasser, doch dann sah ich sie fliegen und gehen und erkannte sie. Sie gehören zum Geschlecht der Gänse, das Blut läßt sich nicht verleugnen! Ich hielt mich zu meiner Art und schloß mich den Wald- und Feldmäusen an, die übrigens, besonders was feine Bewirtung angeht, blutig unwissend sind. Und das war es ja einzig und allein, wofür ich ins Ausland gereist war. Allein die Möglichkeit, aus einem Wurstspeiler Suppe zu kochen, schien ihnen ein so außerordentlicher Gedanke, daß es sich wie ein Lauffeuer durch den ganzen Wald verbreitete. Aber die Aufgabe zu lösen, rechneten sie durchaus zur Unmöglichkeit, und ich hätte am allerwenigsten gedacht, daß ich hier und noch in derselben Nacht in deren Zubereitung eingeweiht werden würde. Es war um Mittsommer; deshalb röche auch der Wald so stark, meinten sie, und deswegen seien auch die Kräuter so gewürzig, die Seen so klar und doch so dunkel mit den weißen Schwänen auf ihrem Wasser. Am Waldessaum, zwischen drei, vier Häusern war eine Stange aufgestellt, hoch wie ein Mastbaum, daran hingen Kränze und Bänder. Das war die Maistange. Mädchen und Burschen tanzten rund herum und sangen mit der Geige des Spielmanns um die Wette. Da ging es lustig zu beim Sonnenuntergang und im Mondenschein, aber ich ging nicht mit, was soll ein Mäuschen beim Ball im Walde! Ich saß in dem weichen Moos und hielt meinen Wurstspeiler in der Hand. Der Mond schien vor allem auf eine Stelle, wo ein Baum mit dem feinsten Moos unter sich stand, ein Moos so fein, ja, ich erkühne mich zu sagen, so fein, wie unseres Mäusekönigs Fell, aber es war von grüner Farbe, so daß es für die Augen eine Wohltat war. Da kamen auf einmal die niedlichsten kleinen Personen aufmarschiert, nicht größer, als daß sie gerade bis zu meinen Knien reichten. Sie sahen wie Menschen aus, aber besser proportioniert, sie nannten sich Elfen und trugen die feinsten Kleider aus Blumenblättern mit Fliegen- und Mückenflügelbesatz, es sah gar nicht übel aus. Bald schien es mir, als suchten sie etwas, ich wußte nicht was. Doch dann kamen ein paar von ihnen auf mich zu, der vornehmste zeigte auf meinen Wurstspeiler und sagte: ``Das ist gerade so einer, wie wir ihn brauchen! Er ist zugespitzt, das ist ausgezeichnet!'' Und er wurde immer entzückter, während er meinen Wanderstab betrachtete.

``Nur leihen, aber nicht behalten!'' sagte ich.

``Nicht behalten'' sagten alle, ergriffen den Wurstspeiler, den ich losließ, und tanzten damit zu dem feinen Moosfleckchen. Dort richteten sie den Wurstspeiler mitten im Grünen auf. Sie wollten auch eine Maistange haben, und die, die sie nun hatten, war ja auch wie dafür geschaffen. Nun wurde sie geschmückt; ja, da bekam sie ein Aussehen!

Kleine Spinnen spannen Goldfäden darum und hängten wehende Schleier und Fahnen daran, so feingewebt, so schneeweiß im Mondenschein gebleicht, daß mir ordentlich die Augen schmerzten. Sie nahmen Farbe von den Schmetterlingsflügeln und streuten sie auf das weiße Linnen, da erschienen Blumen und Diamanten darauf, ich erkannte meinen Wurstspeiler nicht wieder. Solch eine Maistange fand gewiß nicht ihresgleichen in der Welt. Und nun kam erst die richtige große Elfengesellschaft, ganz ohne Kleider, das war das Feinste, und ich wurde eingeladen, den Staat mit anzusehen, aber aus einem gewissen Abstand, denn ich war ihnen zu groß.

Nun begann ein Musizieren. Es war, als ob tausend gläserne Glöckchen erklängen, so voll und lieblich tönte es; ich glaubte, es wären Schwäne, die dort sängen, ja, mir war fast, als hörte ich den Kuckuck und die Drossel heraus. Zuletzt war es gar, als erklänge der ganze Wald mit. Kinderstimmen, Glockenklang und Vogelsang verschmolzen zu einer einzigen lieblichen Melodie, und all die Herrlichkeit erklang aus der Maistange heraus wie aus einem Glockenspiel, und doch war es nur mein Wurstspeiler. Nie hätte ich geglaubt, daß so viel da herauskommen könnte, aber es kommt wohl immer darauf an, in welche Hände man gerät. Ich wurde wirklich ganz bewegt, ich weinte, wie nur ein Mäuschen weinen kann vor lauter Freude.

Die Nacht war allzu kurz! Aber sie ist nun einmal dort zu jener Zeit nicht länger. Beim Tagesgrauen wehte ein Lüftchen, der Wasserspiegel auf dem Waldsee kräuselte sich, all die feinen, schwebenden Schleier und Fahnen flogen durch die Luft dahin; die schaukelnden Lauben aus Spinneweb, die Hängebrücken und Balustraden oder wie sie nun heißen mögen, die dort von Blatt zu Blatt gespannt waren, verflogen wie nichts. Sechs Elfen kamen und brachten mir meinen Wurstspeiler, während sie fragten, ob ich irgend einen Wunsch hätte, den sie mir erfüllen könnten. Da bat ich sie, mir zu sagen, wie man Suppe aus einem Wurstspeiler bereiten könne.

``Wie wir das machen,'' sagte der Vornehmste und lachte ``ja, das hast Du ja eben gesehen! Du kanntest wohl Deinen Wurstspeiler kaum wieder?''

``Also so meinen Sie es!'' sagte ich und erzählte geradeheraus, weshalb ich auf Reisen wäre, und was man sich zuhause davon verspräche. ``Welchen Gewinn,'' fragte ich, ``hat der Mäusekönig und unser ganzes mächtiges Reich davon, daß ich all diese Herrlichkeit gesehen habe! Ich kann sie nicht aus dem Wurstspeiler herausschütteln und sagen: Seht, hier ist der Speiler, nun kommt die Suppe! Das wäre doch immerhin eine Art Nachgericht, wenn man satt wäre.''

Da tauchte der Elf seinen kleinen Finger in die blaue Blüte eines Veilchens und sagte zu mir: ``Gib acht, ich bestreiche Deinen Wanderstab, und wenn Du heim zum Schlosse des Mäusekönigs kommst, so berühre mit dem Stabe Deines Königs warme Brust. Dann werden Veilchen aus dem Stabe hervorblühen selbst in der kältesten Winterszeit, sieh, dann bringst Du doch etwas mit heim von uns, und nun bekommst Du noch etwas dazu.'' Aber bevor das Mäuschen sagte, was dieses Etwas wäre, richtete es den Stab gegen des Königs Brust, und wirklich, es sprang der herrlichste Blumenstrauß aus dem Stabe hervor. Er duftete so stark, daß der Mäusekönig den Mäusen, die am dichtesten am Schornstein standen, befahl, schnellsten ihre Schwänze über das Feuer zu halten, damit es ein bißchen angebrannt rieche, denn der Veilchenduft war nicht auszuhalten; er war nicht von der Art, wie man ihn hier schätzte.

``Aber was war das für ein Etwas dazu, von dem Du eben sprachst?'' fragte der Mäusekönig.

``Ja,'' sagte das Mäuschen, ``das ist das, was man den Knalleffekt nennt'' und es drehte den Wurstspeiler um; da waren es keine Blumen mehr, nur den nackten Speiler hielt es in der Hand und erhob ihn wie einen Taktstock.

``Veilchen sind für die Augen, die Nase und das Herz,'' sagte der Elf zu mir, ``doch es fehlt noch etwas für Ohren und Zunge.'' Dabei schlug es Takt und eine Musik setzte ein, nicht wie sie im Walde beim Fest der Elfen erklang, sondern wie sie in der Küche laut wird. Na, das war ein Tumult! Urplötzlich kam es, sauste wie der Wind durch alle Schornsteinrohre, Kessel und Töpfe kochten über, der Feuerhaken donnerte an den Messingkessel, und dann, ebenso plötzlich, war es wieder stille. Man hörte des Teekessels gedämpften Gesang, ganz wunderlich, man wußte nicht, wollte er beginnen oder aufhören. Und der kleine Topf kochte und der große Topf kochte, der eine kümmerte sich nicht um den anderen, es war, als habe der Topf seine Gedanken nicht beisammen. Und das kleine Mäuschen schwang seinen Taktstock wilder und wilder --- die Töpfe schäumten, brodelten, kochten über, der Wind sauste, der Schornstein pfiff --- hu ha, es wurde so grauenerregend, daß das kleine Mäuschen selbst den Stock fallen ließ.

``Das war eine schwierige Suppe'' sagte der alte Mäusekönig, ``wird sie nun angerichtet?''

``Das war alles!'' sagte das Mäuschen und verneigte sich.

``Alles! Ja, dann wollen wir hören, was die nächste zu sagen hat'', sagte der Mäusekönig.

\AMsubsection{Was das zweite Mäuschen zu erzählen wußte}

``Ich bin in der Schloßbibliothek geboren,'' sagte die zweite Maus. ``Ich und noch mehrere andere Mitglieder meiner Familie haben nie das Glück kennen gelernt, in ein Speisezimmer, geschweige denn in eine Speisekammer zu kommen. Als ich abreiste und dabei diesen Raum hier betrat, sah ich zum ersten Male eine Küche. Wir litten wirklich Hunger auf der Bibliothek, doch dafür eigneten wir uns mancherlei Kenntnisse an. Dort oben erreichte uns das Gerücht von dem königlichen Preise, der für die Bereitung einer Suppe aus einem Wurstspeiler ausgesetzt war. Nach einigem Nachdenken zog meine alte Großmutter ein Manuskript hervor, das sie zwar nicht lesen konnte, aber sie hatte es einst lesen hören. Darin stand: Ist man ein Dichter, so kann man selbst aus einem Wurstspeiler Suppe kochen. Sie fragte mich, ob ich Dichterin wäre. Ich wußte mich frei davon, und sie sagte mir, daß ich eben sehen müsse, eine zu werden. Ich erkundigte mich, was dazu nötig sei, denn es schien mir ebenso schwierig zu sein, wie das Suppe kochen. Doch meine Großmutter war wohlunterrichtet; sie sagte, daß drei Dinge dazu notwendig wären: Verstand, Fantasie und Gefühl! Könnte ich mir diese zu eigen machen, so wäre ich eine Dichterin und würde auch die Sache mit dem Wurstspeiler ins rechte Lot bringen. Und so zog ich nach Westen in die weite Welt hinaus, um Dichterin zu werden.

Verstand, das wußte ich, ist das Wichtigste bei jedem Dinge, die beiden anderen Teile genießen nicht die gleiche Achtung. So ging ich also zunächst auf den Verstand aus. Ja, wo mochte er wohnen? Geh zur Ameise und werde weise! hat einst ein großer König der Juden gesagt. Und ich ruhte und rastete nicht, bis ich einen großen Ameisenhaufen gefunden hatte. Dort legte ich mich auf die Lauer, um weise zu werden.

Die Ameisen sind ein sehr respektables Volk, sie sind nur auf Verstand eingestellt. Alles ist bei ihnen ein Rechenstück, bei dem die Probe aufs Exempel gemacht ist; es geht auf. Arbeiten und Eier legen, sagen sie, ist in der Zeit leben und für die Zukunft sorgen, und danach handeln sie. Sie scheiden sich in reine und unreine Ameisen, der Rang besteht in einer Nummer. Die Ameisenkönigin ist Nummer eins, und ihre Meinung ist die einzig richtige. Sie hatte alle Weisheit gepachtet und das zu wissen war für mich von Wichtigkeit. Sie sagte vieles, was so klug war, daß es mir dumm vorkam. Sie sagte auch, ihr Haufen sei das Höchste in dieser Welt. Aber dicht bei dem Haufen stand ein Baum, der höher war, viel höher, das ließ sich nicht ableugnen, deshalb sprach man nicht davon. Eines Abends hatte sich eine Ameise dorthin verirrt, war den Stamm hinaufgekrochen, nicht einmal bis zur Krone, aber doch höher, als je eine Ameise gekommen war. Und als sie umgekehrt und wieder nachhause gekommen war, erzählte sie im Haufen, daß es etwas weit Höheres draußen gäbe. Doch das hatten alle Ameisen als Beleidigung des ganzen Gemeinwesens aufgefaßt, und so wurde die Ameise zum Maulkorb und lebenslänglicher Einsamkeit verurteilt. Aber kurze Zeit darauf kam eine andere Ameise zu dem Baum und machte die gleiche Reise und Entdeckung. Sie sprach auch davon, jedoch, wie man sagte, mit Besonnenheit und in unklaren Ausdrücken, und da sie außerdem eine geachtete Ameise, eine von den reinen war, so glaubte man ihr, und als sie starb, wurde ihr eine Eierschale als Monument für ihre Verdienste um die Wissenschaften gesetzt. Ich sah,'' sagte das Mäuschen, ``daß die Ameisen häufig mit ihren Eiern auf dem Rücken umherliefen. Eine von ihnen verlor das ihre und machte große Anstrengungen, es wieder aufzuladen, doch wollte es ihr nicht glücken. Zwei andere kamen Ihr mit allen Kräften zu Hülfe, so daß sie fast ihre eigenen Eier verloren hätten, da ließen sie es augenblicklich sein, denn jeder ist sich selbst der Nächste, und die Ameisenkönigin äußerte darüber, daß hierbei sowohl Herz als Verstand bewiesen worden wären. `Diese beiden Eigenschaften stellen uns Ameisen an die Spitze der Vernunftswesen. Der Verstand soll und muß das Überwiegende sein, und ich habe den größten!' sagte sie und erhob sich auf den Hinterbeinen. Sie machte sich dadurch so deutlich erkennbar --- ich konnte gar nicht fehl gehen --- und so verschluckte ich sie. Geh zur Ameise und werde weise! Nun hatte ich die Königin!

Ich ging nun näher an den besprochenen Baum heran; es war eine Eiche mit hohem Stamm und mächtiger Krone, die sehr alt war. Ich wußte, daß hier ein lebendiges Geschöpf, eine Frau, wohne, die Dryade genannt wurde. Sie wird mit dem Baume zugleich geboren und stirbt mit ihm. Ich hatte davon auf der Bibliothek gehört. Nun sah ich solch einen Baum, sah solch ein Lebewesen. Sie stieß einen furchtbaren Schrei aus, als sie mich so nahe erblickte; sie hatte, wie alle Frauenzimmer, die größte Angst vor einer Maus, doch sie hatte dazu mehr Ursache als die anderen, denn ich hätte ja den Baum durchnagen können, an dem ihr Leben hing. Ich redete freundlich und herzlich mit ihr, sprach ihr Mut zu, und sie nahm mich auf ihre feine Hand. Als sie erfuhr, weshalb ich in die weite Welt hinausgegangen war, versprach sie mir, daß ich vielleicht schon am gleichen Abend einen der beiden Schätze, nach denen ich suchte, erhalten solle. Sie erzählte mir, das Phantasus ein recht guter Freund von ihr und schön wie der Liebesgott sei. Er pflege manche Stunde der Ruhe hier unter des Baumes dichtbelaubten Zweigen, die dann noch voller über ihnen beiden rauschten. Er nenne sie seine Dryade, und den Baum seinen Baum. Die knorrige, mächtige schöne Eiche sei gerade nach seinem Sinne, die Wurzeln klammerten sich tief und fest in die Erde, Stamm und Krone erhöben sich hoch in die frische Luft und kannten den fegenden Schnee, die scharfen Winde und den warmen Sonnenschein, wie sie gekannt werden sollen. Und die Vögel sängen dort oben und erzählten von den fremden Ländern. Auf dem einzigen verdorrten Zweige habe der Storch sein Nest gebaut, das schmücke so hübsch, und man erfahre doch einiges vom Lande der Pyramiden. ``All dies hört Phantasus so gern,'' sagte sie, ``es ist ihm sogar nicht genug, ich selbst muß ihm noch vom Leben im Walde erzählen von der Zeit an, wo ich noch klein war und der Baum so zart, daß eine Nessel ihn verbergen konnte, bis auf den heutigen Tag, wo er so groß und mächtig dasteht. Setz Dich nun hier unter den Waldmeister und gib acht: wenn Phantasus kommt, werde ich wohl Gelegenheit finden, ihn am Flügel zu zupfen und ihm dabei eine kleine Feder auszureißen. Die nimm dann, eine bessere bekam kein Dichter; --- dann hast Du genug.''

``Und Phantasus kam, die Feder wurde ihm ausgerissen und ich nahm sie,'' sagte das Mäuschen, ``ich mußte sie aber erst in Wasser legen, damit sie weich würde, sie war immer noch sehr schwer verdaulich, aber ich knabberte sie doch auf. Es ist gar nicht leicht, sich durchzubeißen, bis man ein Dichter ist, es ist gar viel, was man in sich aufnehmen muß. Nun hatte ich schon zwei von den Dingen, Verstand und Fantasie, und durch diese beiden wußte ich, daß das dritte auf der Bibliothek zu finden sei, denn ein großer Mann hat gesagt und geschrieben, daß es Romane gäbe, die nur dazu da seien, die Menschen von den überflüssigen Tränen zu befreien, sie seien so eine Art Schwamm, um die Gefühle aufzusaugen. Ich entsann mich ein paar dieser Bücher, sie waren mir immer ganz appetitlich vorgekommen, sie waren so zerlesen, so fettig, sie mußten ja ganze Gefühlsströme in sich aufgenommen haben.

Ich kehrte wieder nachhause in die Bibliothek zurück, aß sogleich ziemlich einen ganzen Roman auf, das heißt also das Weiche, das Eigentliche, die Rinde dagegen, den Einband, ließ ich liegen. Als ich ihn nun verdaut hatte und noch einen zweiten dazu, verspürte ich schon, wie es sich in mir regte; ich aß ein wenig von dem dritten, da war ich Dichterin. Das sagte ich mir selbst und den anderen auch. Ich hatte Kopfschmerzen, Leibschmerzen, ich weiß nicht mehr alle die Schmerzen, die ich hatte. Ich dachte nun darüber nach, welche Geschichte in Verbindung mit einem Wurstspeiler gesetzt werden könnte, und bald wimmelte es von Speilern in meinen Gedanken; die Ameisenkönigin hat einen ungewöhnlichen Verstand gehabt. Ich entsann mich des Mannes, der ein weißes Hölzchen in den Mund nahm, wodurch beide unsichtbar wurden, und so gingen über diese Geschichte meine Gedanken über alle Hölzchen und Speiler, von denen je eine Geschichte gehandelt hatte, sie gingen völlig in Speilern auf. Daraus müßte sich ein Gedicht machen lassen, wenn man Dichterin ist, und das bin ich, ich habe es mir sauer werden lassen. So werde ich nun jeden Tag mit einem Speiler, einer Geschichte, aufwarten können, ja, das ist eine Suppe.''

``Nun wollen wir also die dritte hören'' sagte der Mäusekönig.

``Piep, piep'' sagte es in der Küchentür, eine kleine Maus, es war die vierte von ihnen, die totgeglaubte, eilte herein und rannte dabei den Wurstspeiler mit dem Trauerflor um. Sie war Tag und Nacht gelaufen, war auf der Eisenbahn mit einem Güterzug gefahren, wozu sie Gelegenheit gefunden hatte, und wäre doch fest zu spät gekommen. Sie drängte sich vor, sah ganz zerzaust aus und hatte wohl ihren Wurstspeiler, aber nicht ihre Sprache verloren; sie erzählte sogleich darauf los, als ob man nur auf sie gewartet hatte, das alles kam so unerwartet, daß niemand Zeit fand, sich über sie oder ihre Rede aufzuhalten, bevor sie damit fertig war. Nun wollen wir hören:

\AMsubsection{Was die vierte Maus, die die Rede an sich riß, ehe die dritte Maus gesprochen hatte, zu erzählen wußte}

``Ich ging gleich in die Großstadt,'' sagte sie, ``auf den Namen besinne ich mich nicht mehr, ich kann so schlecht Namen behalten. Von der Eisenbahn kam ich mit konfiszierten Gütern nach dem Rathause, und dort lief ich zu dem Kerkermeister. Er erzählte von seinen Gefangenen, besonders von einem, der unbesonnene Worte hatte fallen lassen, die dann weitererzählt worden waren. Er habe gesagt, daß das Ganze nur eine Suppe aus Wurstspeilern wäre, und diese Suppe könne ihn leicht den Kopf kosten. Das weckte mein Interesse für den Gefangenen,'' sagte die kleine Maus, ``und so nahm ich die Gelegenheit wahr und schlüpfte zu ihm hinein. Hinter verschlossene Türen führt immer ein Mauseloch. Er sah bleich aus, hatte einen großen Bart und große, leuchtende Augen. Die Lampe rußte und die Wände waren daran gewöhnt, sie wurden nicht schwärzer. Der Gefangene ritzte Bilder und Verse hinein, Weiß auf Schwarz, aber ich las sie nicht. Ich glaube, er langweilte sich, und so war ich ein willkommener Gast. Er lockte mich mit Brotkrumen, mit Pfeifen und sanften Worten; er war so froh über mich! Da faßte ich Vertrauen, und wir wurden Freunde. Er teilte Brot und Wasser mit mir und gab mir Käse und Wurst. Ich lebte flott; aber es war hauptsächlich der gute Umgang, der mich fesselte. Er ließ mich auf seiner Hand und seinem Arm umherlaufen, bis ganz hinauf in den Ärmel. Er ließ mich in seinen Bart kriechen und nannte mich seine kleine Freundin, ich gewann ihn ordentlich lieb, so etwas ist eben gegenseitig. Ich vergaß mein Geschäft draußen in der Welt und vergaß meinen Wurstspeiler in einer Fußbodenritze, wo er heute noch liegt. Ich wollte bleiben, wo ich war. Wenn ich ging, so hatte ja der arme Gefangene gar niemanden, und das ist zu wenig in dieser Welt! Ich blieb also, aber er blieb nicht. Das letzte Mal sprach er so traurig mit mir; er gab mir doppelt soviel Brot und Käserinde und warf mir noch eine Kußhand zu; er ging und kam niemals wieder. Ich kenne seine Geschichte nicht. `Suppe aus einem Wurstspeiler' sagte der Kerkermeister, und zu ihm ging ich, aber ihm hätte ich nicht trauen sollen. Wohl nahm er mich auf seine Hand, aber er setzte mich in einen Käfig, in eine Tretmühle. Das ist etwas Grauenhaftes. Man läuft und läuft und kommt nicht weiter und wird obendrein ausgelacht!

Des Kerkermeisters Enkelin war ein liebes kleines Ding, mit goldblondem Lockenhaar, fröhlichen Augen und einem lachenden Mund. `Armes kleines Mäuschen', sagte sie, guckte in meinen häßlichen Käfig hinein, schob den eisernen Riegel zurück --- und ich sprang hinab auf das Fensterbrett und in die Dachrinne hinaus. Frei, frei! Daran allein dachte ich, und nicht an meinen Reisezweck.

Es war dunkel, und es ging auf die Nacht zu. In einem alten Turm nahm ich Herberge; dort wohnte ein Wächter und eine Eule. Ich traute keinem von ihnen über den Weg, am wenigsten der Eule. Sie gleicht einer Katze und hat den großen Fehler, daß sie Mäuse frißt. Doch man kann sich irren, und das tat ich. Es war eine respektable, überaus gebildete alte Eule, sie wußte mehr als der Wächter und ebensoviel wie ich. Die jungen Eulen machten um jede Kleinigkeit ein großes Geschrei. `Kocht keine Suppe aus einem Wurstspeiler' sagte sie, das war das Härteste, was sie ihnen sagen konnte, sie hatte soviel Gefühl für ihre eigene Familie. Ich faßte ein solches Vertrauen zu ihr, daß ich von der Spalte aus, wo ich saß, Piep sagte. Dies Zutrauen gefiel ihr, und sie versicherte mir, daß ich jetzt unter ihrem Schutze stände. Kein Tier dürfe mir ein Leides tun, das wolle sie selbst im Winter tun, wenn es mit der Kost knapp würde.

Sie war in allen Dingen gleich beschlagen; sie bewies mir, daß der Wächter ohne Horn nicht tuten könne, er bilde sich schrecklich viel darauf ein und glaube, er sei Eule im Turm! Etwas Großes solle es sein und sei doch nur etwas ganz Geringes, Suppe aus einem Wurstspeiler! Ich bat sie um das Rezept, und darauf erklärte sie mir folgendes: Suppe aus einem Wurstspeiler sei nur eine menschliche Redensart, der verschiedener Sinn untergelegt werden könne. Jeder glaube, seine Auslegung sei die rechte. Doch sei das Ganze eigentlich nichts!

Nichts? fragte ich; ich war tief betroffen. Die Wahrheit ist nicht immer angenehm, aber sie ist das Höchste, das sagte auch die alte Eule, Ich dachte darüber nach und sah ein, wenn ich das Höchste brächte, so brächte ich weit mehr, als die Suppe aus einem Wurstspeiler. Und so eilte ich davon, um noch rechtzeitig nachhause zu kommen und das Höchste und Beste hierher zu bringen: die Wahrheit! Die Mäuse sind ein aufgeklärtes Volk und der König ist es vor ihnen allen. Er ist imstande, mich um der Wahrheit willen zur Königin zu machen!''

``Deine Wahrheit ist Lüge!'' sagte das Mäuschen, das noch keine Erlaubnis zum sprechen bekommen hatte. ``Ich kann die Suppe bereiten und werde es tun!''

\AMsubsection{Wie es gemacht wird}

``Ich bin nicht gereist,'' sagte die vierte Maus, ``ich blieb im Lande, das ist das einzig Richtige! Man braucht nicht zu reisen, man kann ebenso gut alles hier bekommen. Ich blieb! Ich habe meine Weisheit nicht von übernatürlichen Wesen bekommen, habe sie auch nicht gefressen oder habe mit Eulen gesprochen. Ich habe es durch eigenes Denken erreicht. Wollen Sie jetzt den Kessel aufsetzen und mit Wasser füllen, ganz bis zum Rand! Machen Sie Feuer darunter! So, und nun lassen Sie das Wasser kochen, bis es brodelt. Nun werfen Sie den Speiler hinein! Darauf wollen Seine Majestät der Mäusekönig allerhöchst seinen Schwanz in das kochende Wasser tauchen und damit umrühren! Je länger er rührt, umso kräftiger wird die Suppe. Das kostet nichts, und man braucht keine Zutaten, nur umrühren!''

``Kann es nicht ein anderer tun?'' fragte der Mäusekönig.

``Nein!'' sagte die Maus, ``die Kraft ist nur im Schwanze des Mäusekönigs!''

Und das Wasser brodelte und der Mäusekönig stellte sich daneben, es war ein ganz gefährlicher Anblick! Er streckte seinen Schwanz aus, wie die Mäuse es in der Milchkammer tun, wenn sie die Sahne von einer Schüssel schöpfen und sich dann den Schwanz lecken. Doch er brachte ihn nur bis in den heißen Dampf, da sprang er eiligst wieder hinab und sagte: ``Natürlich wirst Du meine Königin! Mit der Suppe wollen wir bis zur goldenen Hochzeit warten, dann haben die Armen in meinem Reiche etwas, worauf sie sich freuen können, das wird eine lange Freude!''

Und so hielten sie Hochzeit; aber einige der Mäuse sagten, als sie nachhause kamen, das könne man doch nicht eine Suppe aus einem Wurstspeiler nennen, es wäre eher Mauseschwanzsuppe! Ein und das andere von dem, was erzählt worden war, fanden sie ganz gut aber das Ganze hatte anders sein müssen. ``Ich würde es so oder so erzählt haben.''

Das war die Kritik, und die ist immer so klug, hinterher.

Die Geschichte ging durch die ganze Welt, die Meinungen darüber waren geteilt, aber die Geschichte selbst blieb ganz. Und das ist das Wichtigste im großen wie im kleinen, auch für die Suppe aus einem Wurstspeiler. Doch soll man nie auf Dank rechnen!

Der Garten des Paradieses

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\AMsection{Der Garten des Paradieses}

Da war einmal ein Königssohn, niemand hatte so viele und so schöne Bücher als er; alles, was in dieser Welt geschehen, konnte er darin lesen und die Abbildungen in prächtigen Bildern bewundern. Von jedem Volke und jedem Lande konnte er Auskunft erhalten, aber wo der Garten des Paradieses zu finden sei, davon stand kein Wort darin, und der gerade war es, an den er am meisten dachte.

Seine Großmutter hatte ihm erzählt, als er noch ganz klein war, aber anfangen sollte zur Schule zu gehen, daß jede Blume im Garten des Paradieses der süßeste Kuchen, die Staubfäden der beste Wein sei; auf einem stehe Geschichte, auf einem andern Geographie, man brauche nur Kuchen zu essen, so kenne man seine Aufgabe; je mehr man speise, um so mehr Geschichte und Geographie habe man inne.

Das glaubte er damals; aber als er ein größerer Knabe wurde, mehr lernte und klüger war, begriff er wohl, daß eine ganz andere Herrlichkeit im Garten des Paradieses sein müsse.

``O, weshalb pflückte doch Eva vom Baume der Erkenntnis? Warum aß Adam von der verbotenen Frucht? Das sollte ich gewesen sein, so wäre es nicht geschehen! Nie wäre die Sünde in die Welt gekommen!''

Das sagte er damals, und das sagte er noch, als er siebzehn Jahre alt war. Der Garten des Paradieses erfüllte alle seine Sinne.

Eines Tages ging er im Wald allein, denn das war sein größtes Vergnügen.

Der Abend brach an, die Wolken zogen sich zusammen, es wurde ein Regenwetter, als ob der ganze Himmel eine einzige Schleuße wäre, aus der das Wasser stürzte; es war so dunkel, wie im tiefsten Brunnen. Bald glitt er in dem nassen Grase aus, bald fiel er über die nackten Steine, welche aus dem Felsengrunde hervorragten. Alles triefte vom Wasser, es war nicht ein trockener Faden an dem armen Prinzen. Er mußte über große Steinblöcke klettern, wo das Wasser aus dem hohen Moose quoll. Er war nahe daran, kraftlos umzusinken, da hörte er ein sonderbares Sausen, und vor sich sah er eine große, erleuchtete Höhle. Mitten in derselben brannte ein Feuer, sodaß man einen Hirsch daran braten konnte, und das geschah auch; der prächtigste Hirsch mit seinem stolzen Geweihe war auf einen Spieß angesteckt und wurde langsam zwischen zwei abgehauenen Tannenbäumen herumgedreht. Eine ältliche Frau, groß und stark, als wäre sie eine verkleidete Mannsperson, saß am Feuer und warf ein Stück Holz nach dem andern dazu.

``Komm nur näher!'' sagte sie. ``Setze Dich an das Feuer, damit Deine Kleider trocknen.''

``Hier zieht es arg!'' sagte der Prinz und setzte sich auf den Fußboden nieder.

``Das wird noch ärger werden, wenn meine Söhne nach Hause kommen!'' erwiderte die Frau. ``Du bist hier in der Höhle der Winde, meine Söhne sind die vier Winde der Welt. Kannst Du das verstehen?''

``Wo sind Deine Söhne?'' fragte der Prinz.

``Ja, es ist schwer zu antworten, wenn man dumm fragt,'' sagte die Frau. ``Meine Söhne treiben es auf eigene Hand, sie spielen Federball mit den Wolken dort oben im Königssaal!'' Und dabei zeigte sie in die Höhe hinauf.

``Ach so,'' sagte der Prinz. ``Ihr sprecht übrigens ziemlich barsch und seid nicht so sanft wie die Frauenzimmer, die ich sonst um mich habe!''

``Ja, die haben wohl nichts anderes zu thun! Ich muß hart sein, wenn ich meine Knaben in Gehorsam erhalten will; aber das kann ich, obgleich sie steife Nacken haben! Siehst Du die vier Säcke, die an der Wand hängen? Die fürchten sie ebenso wie Du früher die Ruthe hinter dem Spiegel. Ich kann die Knaben zusammenbiegen, sag' ich Dir, und dann müssen sie in den Sack; da machen wir keine Umstände! Da sitzen sie und dürfen nicht eher wieder heraus und herumstreifen, als bis ich es für gut erachte. Da haben wir den einen!''

Das war der Nordwind, der mit einer eisigen Kälte hereintrat; große Hagelkörner hüpften auf dem Fußboden hin und Schneeflocken stöberten umher. Er war in Bärenbeinkleidern und Jacke; eine Mütze von Seehundsfell ging über die Ohren hinab; lange Eiszapfen hingen ihm am Barte, und ein Hagelkorn nach dem andern glitt ihm vom Jackenrock hinunter.

``Gehen Sie nicht sogleich an das Feuer!'' sagte der Prinz. ``Sie können sonst leicht Frost in das Gesicht und die Hände bekommen.''

``Frost,'' sagte der Nordwind und lachte laut auf. ``Frost! Das ist ja gerade mein größtes Vergnügen! Was bist Du übrigens für ein Klapperbein! Wie kommst Du in die Höhle der Winde?''

``Er ist mein Gast,'' sagte die Alte, ``und bist Du mit dieser Erklärung nicht zufrieden, so kannst Du in den Sack kommen! Verstehst Du mich nun?''

Sieh, das half, und der Nordwind erzählte, von wo er kam und wo er fast einen ganzen Monat gewesen.

``Vom Polarmeer komme ich,'' sagte er; ``ich bin auf dem Bäreneilande mit den russischen Walroßfängern gewesen. Ich saß und schlief auf dem Steuer, als sie vom Nordkap wegsegelten; wenn ich mitunter ein wenig erwachte, flog mir der Sturmvogel um die Beine. Das ist ein lustiger Vogel; er macht einen raschen Schlag mit den Flügeln, dann hält er sie unbeweglich ausgestreckt und fliegt doch fort.''

``Mache es nur nicht so weitläufig,'' sagte die Mutter der Winde, ``dann kamst Du nach dem Bäreneilande?''

``Dort ist es schön! Da ist ein Fußboden zum Tanzen, flach wie ein Teller, halbgetauter Schnee mit wenig Moos; scharfe Steine und Knochengerippe von Walrossen und Eisbären lagen da wie Riesenarme und Beine mit verschimmeltem Grün. Man möchte glauben, daß die Sonne nie darauf geschienen hätte. Ich blies ein wenig in den Nebel, damit man den Schuppen sehen konnte. Das war ein Haus von Wrackholz erbaut und mit Walroßhäuten überzogen; die Fleischseite war nach außen gekehrt, sie war rot und grün; auf dem Dache saß ein Eisbär und brummte. Ich ging nach dem Strande, sah nach den Vogelnestern, erblickte die nackten Jungen, die schrieen und den Schnabel aufsperrten; da blies ich in ihre Kehlen hinab, und sie lernten den Schnabel schließen. Weiterhin wälzten sich Walrosse wie lebende Eingeweide oder Riesenmaden mit Schweinsköpfen und ellenlangen Zähnen!''

``Du erzählst gut, mein Sohn,'' sagte die Mutter. ``Das Wasser läuft mir im Munde zusammen, wenn ich Dir zuhöre!''

``Dann ging es auf den Fang! Die Harpune wurde in die Brust des Walrosses geworfen, sodaß der dampfende Blutstrahl einem Spingbrunnen gleich über das Eis spritzte. Da gedachte ich auch meines Spieles; ich blies auf und ließ meine Segler, die klippenhohen Eisberge, die Boote einklemmen. Hui! wie man pfiff und wie man schrie, aber ich pfiff lauter; die toten Walroßkörper, Kisten und Tauwerk mußten sie auf das Eis auspacken; ich schüttelte die Schneeflocken über sie und ließ sie in den eingeklemmten Fahrzeugen mit ihrem Fang nach Süden treiben, um dort Salzwasser zu kosten. Sie kommen nie mehr nach dem Bäreneilande!''

``So hast Du ja Böses gethan!'' sagte die Mutter der Winde.

``Was ich Gutes gethan habe, mögen die andern erzählen!'' sagte er. ``Aber da haben wir meinen Bruder vom Westen, ihn mag ich von allen am besten leiden, er schmeckt nach der See und führt eine herrliche Kälte mit sich!''

``Ist das der kleine Zephir?'' fragte der Prinz.

``Ja wohl ist das Zephir!'' sagte die Alte, ``aber er ist doch nicht so klein. Früher war es ein hübscher Knabe, aber das ist nun vorbei!''

Er sah aus wie ein wilder Mann, aber er hatte einen Fallhut auf, um nicht zu Schaden zu kommen. In der Hand hielt er eine Mahagonikeule, in den amerikanischen Mahagoniwäldern gehauen. Das war nichts Geringes.

``Woher kommst Du?'' fragte die Mutter.

``Von den Urwäldern,'' sagte er, ``wo die dornigen Lianen eine Hecke zwischen jedem Baume bilden, wo die Wasserschlange in dem nassen Grase liegt und die Menschen unnötig zu sein scheinen!''

``Was triebst Du dort?''

``Ich sah in den tiefen Fluß, sah, wie er von den Klippen stürzte, Staub wurde und gegen die Wolken flog, um den Regenbogen zu tragen. Ich sah den wilden Büffel im Flusse schwimmen, aber der Strom riß ihn mit sich fort; er trieb mit dem Schwarm der wilden Enten, welche in die Höhe flogen, wo das Wasser stürzte; der Büffel mußte hinunter; das gefiel mir, und ich blies einen Sturm, daß uralte Bäume zersplitterten und zu Spänen wurden.''

``Weiter hast Du nichts gethan?'' fragte die Alte.

``Ich habe in den Savannen Purzelbäume geschossen, ich habe die wilden Pferde gestreichelt und Kokosnüsse geschüttelt! Ja, ja, ich habe Geschichten zu erzählen; aber man muß nicht alles sagen, was man weiß. Das weißt Du wohl, Alte!'' Und dann küßte er seine Mutter, sodaß sie fast hintenüber gefallen wäre; er war wahrlich ein wilder Mann.

Nun kam der Südwind mit einem Turban und fliegendem Beduinenmantel.

``Hier ist es recht kalt, hier draußen!'' sagte er und warf Holz zum Feuer; ``man kann merken, daß der Nordwind zuerst gekommen ist!''

``Es ist hier so heiß, daß man einen Eisbären braten kann!'' sagte der Nordwind.

``Du bist selbst ein Eisbär!'' antwortete der Südwind.

``Wollt Ihr in den Sack gesteckt sein?'' fragte die Alte. ``Setze Dich auf den Stein dort und erzähle, wo Du gewesen bist.''

``In Afrika, meine Mutter!'' erwiderte er. ``Ich war mit den Hottentotten auf der Löwenjagd im Lande der Kaffern! Welches Gras wächst dort in den Ebenen, grün wie eine Olive! Da lief der Strauß mit mir um die Wette, aber ich bin doch rascher zu Fuß. Ich kam nach der Wüste zu dem gelben Sande, da sieht es aus wie auf dem Grunde des Meeres. Ich traf eine Karawane; sie schlachteten ihr letztes Kameel, um Trinkwasser zu erhalten, aber es war nur wenig, was sie bekamen. Die Sonne brannte von oben und der Sand von unten. Keine Grenze hatte die ausgedehnte Wüste. Da wälzte ich mich in dem feinen, losen Sande und wirbelte ihn in große Säulen auf. Das war ein Tanz! Du hättest sehen sollen, wie verlegen das Dromedar stand und der Kaufmann den Kaftan über den Kopf zog. Er warf sich vor mir nieder, wie vor Allah, seinem Gott. Nun sind sie begraben, es steht eine Pyramide von Sand über ihnen allen; wenn ich den einmal fortblase, dann wird die Sonne ihre Knochen bleichen; da können die Reisenden sehen, daß hier früher Menschen gewesen sind. Sonst kann man das in der Wüste nicht glauben!''

``Du hast also nur Böses gethan!'' sagte die Mutter. ``Marsch in den Sack!'' Und ehe er es wußte, hatte sie den Südwind um den Leib gefaßt und in den Sack gesteckt; er wälzte sich rings herum auf dem Fußboden, aber sie setzte sich darauf, und da mußte er liegen.

``Das sind muntere Knaben, die Du hast!'' sagte der Prinz.

``Ja wahrlich,'' sagte sie, ``und züchtigen kann ich sie! Da haben wir den vierten!''

Das war der Ostwind; er war wie ein Chinese gekleidet.

``Nun, kommst Du von der Seite?'' sagte die Mutter. ``Ich glaubte, Du seiest im Garten des Paradieses gewesen.''

``Dahin fliege ich erst morgen!'' sagte der Ostwind. ``Morgen sind es hundert Jahre, seitdem ich dort war! Ich komme jetzt von China, wo ich um den Porzellanturm tanzte, daß alle Glocken klingelten. Unten auf der Straße bekamen die Beamten Prügel, das Bambusrohr wurde auf ihren Schultern verbraucht, und das waren Leute vom ersten bis zum neunten Grade; sie schrieen: `Vielen Dank, mein väterlicher Wohlthäter!' aber sie meinten nichts damit, und ich klingelte mit den Glocken und sang: Tsing tsang tsu!''

``Du bist mutwillig!'' sagte die Alte. ``Es ist gut, daß Du morgen nach dem Garten des Paradieses kommst, das trägt immer zu Deiner Bildung bei! Trinke dann tüchtig aus der Weisheitsquelle und nimm eine kleine Flasche voll für mich mit nach Hause!''

``Das werde ich thun!'' sagte der Ostwind. ``Aber warum hast Du meinen Bruder vom Süden in den Sack gesteckt? Hervor mit ihm! Er soll mir vom Vogel Phönix erzählen, davon will die Prinzessin im Garten des Paradieses immer hören, wenn ich jedes hundertste Jahr meinen Besuch abstatte. Mache den Sack auf, dann bist Du meine süßeste Mutter, und ich schenke Dir zwei Taschen voll Thee, so grün und frisch, wie ich ihn an Ort und Stelle gepflückt habe!''

``Nun, des Thees wegen und weil Du mein Herzensjunge bist, will ich den Sack öffnen!'' Das that sie und der Südwind kroch heraus, aber er sah ganz niedergeschlagen aus, weil der fremde Prinz es gesehen hatte.

``Da hast Du ein Palmenblatt für die Prinzessin!'' sagte der Südwind. ``Dieses Blatt hat der alte Vogel Phönix, der einzige, der in der Welt war, mir gegeben! Er hat mit seinem Schnabel seine ganze Lebensbeschreibung, die hundert Jahre, die er lebte, hineingeritzt; nun kann sie es selbst lesen, wie der Vogel Phönix sein Nest in Brand steckte und darin saß und verbrannte, wie die Frau eines Hindu. Wie knisterten doch die trockenen Zweige! Es war ein Rauch und ein Duft! Zuletzt schlug alles in Flammen auf, der alte Vogel Phönix wurde zu Asche, aber sein Ei lag glühend rot im Feuer, es barst mit einem großen Knall und das Junge flog heraus; nun ist dieses Herrscher über alle Vögel und der einzige Vogel Phönix in der Welt. Er hat ein Loch in das Palmenblatt, welches ich Dir gab, gebissen; das ist sein Gruß an die Prinzessin!''

``Laßt uns nun etwas zu uns nehmen!'' sagte die Mutter der Winde, und so setzten sie sich alle heran, um von dem gebratenen Hirsch zu speisen; der Prinz saß zur Seite des Ostwindes und deshalb wurden sie bald gute Freunde.

``Höre, sage mir einmal,'' fing der Prinz an, ``was ist das für eine Prinzessin, von der hier soviel die Rede ist, und wo liegt der Garten des Paradieses?''

``Hoho!'' sagte der Ostwind, ``willst Du dahin, ja, dann fliege morgen mit mir; aber das muß ich Dir sagen, da ist kein Mensch seit Adams und Evas Zeiten gewesen. Die kennst Du ja wohl aus der biblischen Geschichte?''

``Ja!'' sagte der Prinz.

``Damals, als sie verjagt wurden, versank der Garten des Paradieses in die Erde, aber er behielt seinen warmen Sonnenschein, seine milde Luft und alle seine Herrlichkeit. Die Feenkönigin wohnt darin, da liegt die Insel der Glückseligkeit, wohin der Tod nie kommt, wo es herrlich ist! Setze Dich morgen auf meinen Rücken, dann werde ich Dich mitnehmen; ich denke, es wird sich wohl thun lassen! Aber nun mußt Du nicht mehr sprechen, denn ich will schlafen!''

Und dann schliefen sie allesamt.

In der frühen Morgenstunde erwachte der Prinz und war nicht wenig erstaunt, sich schon hoch über den Wolken zu finden. Er saß auf dem Rücken des Ostwindes, der ihn noch treulich hielt; sie waren so hoch in der Luft, daß Wälder und Felder, Flüsse und Seen sich wie auf einer Landkarte darstellten.

``Guten Morgen!'' sagte der Ostwind. ``Du könntest übrigens recht gut noch ein bißchen schlafen, denn es ist nicht viel auf dem flachen Lande unter uns zu sehen. Ausgenommen Du hättest Lust, die Kirchen zu zählen; sie stehen gleich Kreidepunkten auf dem grünen Brette.'' Das waren Felder und Wiesen, die er das grüne Brett nannte.

``Es ist unartig, daß ich von Deiner Mutter und Deinen Brüdern nicht Lebewohl gesagt habe!'' meinte der Prinz.

``Wenn man schläft, ist man entschuldigt!'' sagte der Ostwind, und darauf flogen sie noch rascher von dannen. Man konnte es in den Wipfeln der Bäume hören; wenn sie darüber hinfuhren, rasselten alle Zweige und Blätter; man konnte es auf dem Meere und den Seen hören, denn wo sie flogen, erhoben sich die Wogen höher, und die großen Schiffe neigten sich tief in das Wasser hinunter, gleich schwimmenden Schwänen.

Gegen Abend, als es dunkel wurde, sahen die großen Städte hübsch aus; die Lichter brannten dort unten, bald hier, bald da; es war gerade, als wenn man ein Stück Papier verbrannt hat und alle die kleinen Feuerfunken sieht, wie sie einer nach dem andern verschwinden. Der Prinz klatschte in die Hände, aber der Ostwind bat ihn, das zu unterlassen und sich lieber fest zu halten, sonst könne er leicht hinunter fallen und an der Spitze eines Kirchturms hängen bleiben.

Der Adler in den dunkeln Wäldern flog zwar leicht, doch der Ostwind flog noch leichter. Der Kosak auf seinem kleinen Pferde jagte über die Ebenen davon, doch der Prinz jagte noch schneller.

``Nun kannst Du den Himalaya sehen!'' sagte der Ostwind. ``Das ist der höchste Berg in Asien, und bald werden wir nach dem Garten des Paradieses gelangen!'' Sie wandten sich mehr südlich und bald duftete es dort von Gewürzen und Blumen. Feigen und Granatäpfel wuchsen wild, und die wilde Weinranke hatte blaue und rote Trauben. Hier ließen sich beide nieder und streckten sich in das weiche Gras, wo die Blumen dem Winde zunickten, als wollten sie sagen: ``Willkommen hier!''

``Sind wir nun im Garten des Paradieses?'' fragte der Prinz.

``Nein, noch nicht!'' erwiderte der Ostwind; ``aber nun werden wir bald dorthin kommen. Siehst Du die Felsenmauer dort und die große Höhle, wo die Weinranken gleich einer großen grünen Gardine hängen? Da hindurch werden wir hineingelangen! Wickle Dich in Deinen Mantel; hier brennt die Sonne, aber einen Schritt weiter ist es eisig kalt. Der Vogel, welcher an der Höhle vorbeistreift, hat den einen Flügel hier draußen in dem warmen Sommer und den andern drinnen in dem kalten Winter!''

``So, das ist also der Weg zum Garten des Paradieses?'' fragte der Prinz.

Nun gingen sie in die Höhle hinein. Hu, wie war es dort eisig kalt! Aber es währte doch nicht lange. Der Ostwind breitete seine Flügel aus, und sie leuchteten gleich dem hellsten Feuer. Welche Höhle! Die großen Steinblöcke, von denen das Wasser träufelte, hingen über ihnen in den wunderbarsten Gestalten; bald war es da so eng, daß sie auf Händen und Füßen kriechen mußten, bald so hoch und ausgedehnt, wie in der freien Luft. Es sah aus, wie Grabkapellen mit stummen Orgelpfeifen und versteinerten Orgeln.

``Wir gehen wohl den Weg des Todes zum Garten des Paradieses?'' fragte der Prinz, aber der Ostwind antwortete keine Silbe, zeigte vorwärts, und das schönste blaue Licht strahlte ihnen entgegen. Die Steinblöcke über ihnen wurden mehr und mehr ein Nebel, der zuletzt so klar war, wie eine weiße Wolke im Mondenschein. Nun waren sie in der herrlichsten, milden Luft, so frisch wie auf den Bergen, so duftend, wie bei den Rosen des Thales. Da strömte ein Fluß, so klar, als die Luft selbst, und die Fische waren wie Silber und Gold; purpurrote Aale, die bei jeder Bewegung blaue Feuerfunken sprühten, spielten da unten im Wasser, und die breiten Seerosenblätter hatten des Regenbogens Farben, die Blume selbst war eine rotgelbe, brennende Flamme, der das Wasser Nahrung gab, gleichwie das Öl die Lampe beständig im Brennen erhält. Eine feste Brücke von Marmor, aber so künstlich und fein ausgeschnitten, als wäre sie von Spitzen und Glasperlen gemacht, führte über das Wasser zur Insel der Glückseligkeit, wo der Garten des Paradieses blühte.

Der Ostwind nahm den Prinzen auf seine Arme und trug ihn hinüber. Da sangen die Blumen und Blätter die schönsten Lieder aus seiner Kindheit, aber so lieblich, wie keine menschliche Stimme singen kann.

Waren das Palmenbäume oder riesengroße Wasserpflanzen, die hier wuchsen? So saftige und große Bäume hatte der Prinz noch nie gesehen; in langen Kränzen hingen da die wunderlichsten Schlingpflanzen, wie man sie nur mit Farben und Gold auf dem Rande alter Gebetbücher, oder sich durch die Anfangsbuchstaben schlingend, abgebildet findet. Das waren die seltsamsten Zusammensetzungen von Vögeln, Blumen und Schnörkeln. Dicht daneben im Grase stand ein Schwarm Pfauen mit entfalteten, strahlenden Schweifen. Doch als der Prinz daran rührte, merkte er, daß es keine Tiere, sondern Pflanzen waren; es waren die großen Kletten, die hier gleich des Pfaues herrlichem Schweif strahlten. Der Löwe und der Tiger sprangen gleich geschmeidigen Katzen zwischen den grünen Hecken, die wie die Blumen des Ölbaumes dufteten, und der Löwe und der Tiger waren zahm; die wilde Waldtaube glänzte wie die schönste Perle und schlug mit ihren Flügeln den Löwen an die Mähne, und die Antilope, die sonst so scheu ist, stand und nickte mit dem Kopfe, als ob sie auch mitspielen wollte.

Nun kam die Fee des Paradieses; ihre Kleider strahlten wie die Sonne, und ihr Antlitz war mild, wie das einer frohen Mutter, wenn sie recht glücklich über ihr Kind ist. Sie war jung und schön, und die hübschesten Mädchen, jedes mit einem leuchtenden Stern im Haar, folgten ihr. Der Ostwind gab ihr das beschriebene Blatt vom Vogel Phönix und ihre Augen funkelten vor Freude; sie nahm den Prinzen bei der Hand und führte ihn in ihr Schloß hinein, wo die Wände Farben wie das prächtigste Tulpenblatt, wenn es gegen die Sonne gehalten wird, hatten; die Decke selbst war eine große, strahlende Blume, und je mehr man in dieselbe hinaufsah, desto tiefer erschien deren Becher. Der Prinz trat an das Fenster und sah durch eine der Scheiben; da sah er den Baum der Erkenntnis mit der Schlange, und Adam und Eva standen dicht dabei. ``Sind die nicht fortgejagt?'' fragte er, und die Fee lächelte und erklärte ihm, daß die Zeit auf jeder Scheibe so ihr Bild eingebrannt habe, aber nicht, wie man es zu sehen gewohnt, nein, es war Leben darin, die Blätter der Bäume bewegten sich, die Menschen kamen und gingen wie in einem Spiegelbilde. Er sah durch eine andere Scheibe, und da war Jakobs Traum, wo die Leiter gerade bis in den Himmel ging, und die Engel mit großen Schwingen schwebten auf und nieder. Ja, alles, was auf dieser Erde geschehen war, lebte und bewegte sich in den Glasscheiben; so künstliche Gemälde konnte nur die Zeit einbrennen.

Die Fee lächelte und führte ihn in einen großen und hohen Saal, dessen Wände durchscheinend erschienen, mit Bildern, wo das eine Gesicht schöner, als das andere war. Da waren Millionen Glückliche, die lächelten und sangen, sodaß es in eine Melodie zusammenfloß; die allerobersten waren so klein, daß sie kleiner erschienen, als die kleinste Rosenknospe, wenn sie wie ein Punkt auf dem Papier gezeichnet wird. Mitten im Saale stand ein großer Baum mit hängenden, üppigen Zweigen; goldene Äpfel, große und kleine, hingen wie Apfelsinen zwischen den grünen Blättern. Das war der Baum der Erkenntnis, von dessen Frucht Adam und Eva gegessen hatten. Von jedem Blatte tröpfelte ein glänzender, roter Tautropfen; es war, als ob der Baum blutige Thränen weinte.

``Laß uns nun in das Bot steigen!'' sagte die Fee; ``da wollen wir Erfrischungen auf dem schwellenden Wasser genießen! Das Bot schaukelt, kommt aber nicht von der Stelle, doch alle Länder der Erde gleiten an unseren Augen vorbei.'' Es war eigentümlich zu sehen, wie sich die ganze Küste bewegte. Da kamen die hohen, schneebedeckten Alpen mit Wolken und schwarzen Tannen, das Horn erklang wehmütig und der Hirt jodelte hübsch im Thale. Nun bogen die Bananenbäume ihre langen, hängenden Zweige über das Bot nieder, kohlschwarze Schwäne schwammen auf dem Wasser und die seltsamsten Tiere und Blumen zeigten sich am Ufer; das war Australien, der fünfte Erdteil, der mit einer Aussicht auf die blauen Berge vorbeiglitt. Man hörte den Gesang der Priester und sah den Tanz der Wilden zum Schall der Trommeln und der knöchernen Trompeten. Ägyptens Pyramiden, die bis in die Wolken ragten, umgestürzte Säulen und Sphinxe, halb im Sande begraben, segelten vorbei. Die Nordlichter flammten über ausgebrannte Vulkane des Nordens; das war ein Feuerwerk, was niemand nachmachen konnte. Der Prinz war glücklich, ja er sah wohl hundertmal mehr, als wir hier erzählen.

``Kann ich immer hier bleiben?'' fragte er.

``Das kommt auf Dich selbst an!'' erwiderte die Fee. ``Wenn Du nicht, wie Adam, Dich gelüsten läßt, das Verbotene zu thun, so kannst Du immer hier bleiben!''

``Ich werde die Äpfel auf dem Erkenntnisbaume nicht anrühren!'' sagte der Prinz. ``Hier sind ja Tausende von Früchten, ebenso schön wie die!''

``Prüfe Dich selbst, und bist Du nicht stark genug, so gehe mit dem Ostwinde, der Dich herbrachte; er fliegt nun zurück und läßt sich hier in hundert Jahren nicht wieder blicken. Die Zeit wird an diesem Orte für Dich vergehen, als wären es nur hundert Stunden, aber es ist eine lange Zeit für die Versuchung und Sünde. Jeden Abend, wenn ich von Dir gehe, muß ich Dir zurufen: `Komm mit!' Ich muß Dir mit der Hand winken, aber bleibe zurück. Gehe nicht mit, denn da wird mit jedem Schritt Deine Sehnsucht größer werden; Du kommst in den Saal, wo der Baum der Erkenntnis wächst; ich schlafe unter seinen duftenden, hängenden Zweigen, Du wirst Dich über mich beugen und ich muß lächeln; drückst Du aber einen Kuß auf meinen Mund, so sinkt das Paradies tief in die Erde und es ist für Dich verloren. Der Wüste scharfer Wind wird Dich umsausen, der kalte Regen von Deinem Haare träufeln. Kummer und Drangsal wird Dein Erbteil.''

``Ich bleibe hier!'' sagte der Prinz. Und der Ostwind küßte ihn auf die Stirn und sagte: ``Sei stark, dann treffen wir uns hier nach hundert Jahren wieder! Lebe wohl, lebe wohl!''

Und der Ostwind breitete seine großen Schwingen aus; sie glänzten wie das Wetterleuchten in der Erntezeit oder wie das Nordlicht im kalten Winter.

``Lebe wohl, lebe wohl!'' ertönte es von Blumen und Bäumen. Störche und Pelikane flogen wie flatternde Bänder in Reihen und geleiteten ihn bis zur Grenze des Gartens.

``Nun beginnen wir unsere Tänze!'' sagte die Fee. ``Zum Schlusse, wo ich mit Dir tanze, wirst Du, indem die Sonne sinkt, sehen, daß ich Dir winke, Du wirst mich Dir zurufen hören: `Komm mit!' Aber thue es nicht! Hundert Jahre lang muß ich es jeden Abend wiederholen; jedesmal, wenn die Zeit vorbei ist, gewinnst Du mehr Kraft, zuletzt denkst Du gar nicht mehr daran. Heute Abend ist es zum ersten Mal. Nun habe ich Dich gewarnt!''

Die Fee führte ihn in einen großen Saal von weißen, durchsichtigen Lilien; die gelben Staubfäden in jeder bildeten eine kleine Goldharfe, die mit Saitenlaut und Flötenton erklang. Die schönsten Mädchen, schwebend und schlank, in wogenden Flor gekleidet, sodaß man die schönen Glieder sah, schwebten im Tanze und sangen, wie herrlich es sei, zu leben, und daß sie nie sterben werden und daß der Garten des Paradieses ewig blühen werde.

Die Sonne ging unter, der ganze Himmel wurde Ein Gold, welches den Lilien den Schein der herrlichsten Rosen gab, und der Prinz trank von dem schäumenden Wein, welchen die Mädchen ihm reichten, und er fühlte eine Glückseligkeit wie nie zuvor; er sah, wie der Hintergrund des Saales sich öffnete und der Baum der Erkenntnis stand in einem Glanze, der seine Augen blendete; der Gesang von daher war sanft und lieblich, wie seiner Mutter Stimme, und es war, als ob sie sänge: ``Mein Kind, mein geliebtes Kind!''

Da winkte die Fee und rief liebevoll: ``Komm mit, komm mit!'' Und er stürzte ihr entgegen, vergaß sein Versprechen schon den ersten Abend, und sie winkte und lächelte. Der gewürzige Duft ringsumher wurde stärker, die Harfen ertönten weit lieblicher und es war, als ob die Millionen lächelnder Köpfe im Saale, wo der Baum wuchs, nickten und sängen: ``Alles muß man kennen! Der Mensch ist der Herr der Erde.'' Und es waren keine blutigen Thränen mehr, welche von den Blättern des Erkenntnisbaumes fielen, es waren rote, funkelnde Sterne, die er zu erblicken glaubte. ``Komm mit, komm mit!'' lauteten die bebenden Töne und bei jedem Schritte brannten des Prinzen Wangen heißer, sein Blut bewegte sich stärker. ``Ich muß!'' sagte er. ``Es ist ja keine Sünde, kann keine sein! Weshalb nicht der Schönheit und der Freude folgen? Sie schlafen sehen will ich; es ist ja nichts verloren, wenn ich sie nur nicht küsse, und das thue ich nicht; ich bin stark, ich habe einen festen Willen!''

Und die Fee warf ihre strahlende Tracht ab, bog die Zweige zurück, und nach einem Augenblick war sie darin verborgen.

``Noch habe ich nicht gesündigt,'' sagte der Prinz, ``und will es auch nicht.'' Und dann zog er die Zweige zur Seite; da schlief sie schon, schön, wie nur die Fee im Garten des Paradieses es sein kann; sie lächelte im Traume, er bog sich über sie nieder und sah zwischen ihren Augenlidern Thränen beben.

``Weinst Du über mich?'' flüsterte er. ``Weine nicht, Du herrliches Weib; nun begreife ich erst des Paradieses Glück; dieses strömt durch mein Blut, durch meine Gedanken, die Kraft des Cherubs und des ewigen Lebens fühle ich in meinem irdischen Körper; möge es ewig Nacht für mich werden, eine Minute wie diese, ist Reichtum genug!'' Und er küßte die Thränen aus ihren Augen, sein Mund berührte den ihren.

Da krachte ein Donnerschlag, so tief und schrecklich, wie niemand ihn je gehört, und alles stürzte zusammen; die schöne Fee, das blühende Paradies sank und sank immer tiefer. Der Prinz sah es in die schwarze Nacht versinken, wie ein kleiner, leuchtender Stern strahlte es aus weiter Ferne! Todeskälte durchschauerte seinen Körper, er schloß sein Auge und lag lange wie tot.

Der kalte Regen fiel ihm ins Gesicht, der scharfe Wind blies um sein Haupt, da kehrten seine Sinne zurück. ``Was habe ich gethan!'' seufzte er. ``Ich habe gesündigt wie Adam, gesündigt, sodaß das Paradies tief versunken ist!'' Und er öffnete seine Augen; den Stern in weiter Ferne, den Stern, der wie das gesunkene Paradies funkelte, sah er noch; es war der Morgenstern am Himmel.

Er erhob sich und war im großen Walde, dicht bei der Höhle der Winde; und die Mutter der Winde saß zu seiner Seite, sie sah böse aus und erhob ihren Arm in die Luft.

``Schon den ersten Tag!'' sagte sie. ``Das dachte ich wohl! Ja, wärest Du mein Sohn, so müßtest Du in den Sack!''

``Da soll er hinein!'' sagte der Tod. Das war ein starker, alter Mann mit einer Sense in der Hand, und mit großen schwarzen Schwingen. ``In den Sarg soll er gelegt werden, aber jetzt noch nicht, ich zeichne ihn nur an, lasse ihn dann noch eine Weile auf der Welt herumwandern, seine Sünde sühnen, gut und besser werden. Ich komme einmal. Wenn er es am wenigsten erwartet, stecke ich ihn in den schwarzen Sarg, setze ihn auf meinen Kopf und fliege gegen den Stern empor; auch dort blüht des Paradieses Garten, und ist er gut und fromm, so wird er hineintreten; sind aber seine Gedanken böse und das Herz noch voller Sünde, so sinkt er mit dem Sarge tiefer, als das Paradies gesunken, und nur jedes tausendste Jahr hole ich ihn wieder, damit er tiefer sinke oder auf den Stern gelange, den funkelnden Stern dort oben.''

Unter dem Weidenbaum

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\AMsection{Unter dem Weidenbaum}

Die Gegend ist kahl bei Kjöge; die Stadt liegt wohl am Meere, und das ist stets etwas Schönes, aber es könnte doch noch schöner dort sein, als es ist. Ringsum liegt flaches Feld und weit, weit ist es bis zum Walde. Wenn man aber an einem Orte erst richtig zu Hause ist, so findet man immer etwas Schönes, etwas, wonach man sich auch an den herrlichsten Orten der Welt sehnen kann! Und wir müssen auch anerkennen, daß es am Rande der Stadt Kjöge, wo ein paar kleine dürftige Gärten sich hinunter erstrecken bis an den Bach, der ins Meer fließt, zur Sommerszeit gar lieblich sein konnte. Das fanden besonders die zwei kleinen Nachbarkinder, Knut und Johanne, die hier spielten und unter den Stachelbeerbüschen hindurch zueinanderkrochen. In dem einen Garten stand ein Holunderbusch, in dem anderen ein alter Weidenbaum; unter diesem spielten die Kinder ganz besonders gern, und dazu hatten sie auch Erlaubnis, obwohl der Baum ganz dicht am Bache stand, wo sie leicht hätten ins Wasser fallen können. Aber der liebe Gott hat seine Augen über den Kleinen, sonst sähe es schlimm aus. Sie waren auch sehr vorsichtig, ja, der Knabe hatte solche Angst vor dem Wasser, daß er auch zur Sommerszeit nicht zu bewegen war, an den Strand hinunter zu kommen, wo doch die anderen Kinder so gern ins Wasser laufen und plantschen. Er hatte viel Spott darüber zu erdulden, und das mußte er sich gefallen fassen. Aber da träumte des Nachbars kleine Johanne, sie habe in einem Boot in der Bucht von Kjöge gesegelt und Knud sei gerade auf sie zugegangen; zuerst habe ihm das Wasser nur bis an den Hals gereicht, aber dann sei es ihm über dem Kopfe zusammengeschlagen. Und von dem Augenblick an, als Knud diesen Traum gehört hatte, duldete er es nicht länger, daß man ihn wasserscheu schalt, sondern wies auf Johannes Traum hin; der war sein Stolz, aber ins Wasser ging er nicht.

Die armen Eltern kamen häufig zusammen und Knud und Johanne spielten in den Gärten und auf der Landstraße, die an beiden Seiten von Gräben, an denen eine ganze Reihe von Weidenbäumen stand, eingefaßt war. Schön waren sie nicht, die Kronen waren ihnen abgehauen, aber sie standen ja auch nicht zum Staat da, sondern um Nutzen zu schaffen. Schöner war die alte Weide im Garten, und unter dieser saßen sie manch liebes Mal.

In Kjöge wird ein großer Jahrmarkt abgehalten, und zur Marktzeit stehen dort ganze Straßen von Zeltbuden mit seidenen Bändern, Stiefeln und allem möglichen. Es herrschte Gedränge und gewöhnlich auch Regenwetter, und dann machte sich der Dunst der Bauernröcke, aber auch der herrliche Geruch von Honigkuchen bemerkbar. Davon war eine ganze Bude voll da, und was das prächtigste war, der Mann, der sie verkaufte, logierte sich während der Marktzeit stets bei den Eltern des kleinen Knud ein, und dabei fiel natürlich auch ein kleiner Honigkuchen ab, wovon auch Johanne ihr Stückchen bekam. Aber fast noch schöner war es, daß der Honigkuchenhändler Geschichten erzählen konnte, und zwar fast von einer jeden Sache, sogar von seinen Honigkuchen; ja, von diesen erzählte er eines Abends eine Geschichte, die einen gar tiefen Eindruck auf die beiden Kinder machte, so daß sie sie seither niemals wieder vergaßen, und deshalb ist es wohl das beste, wenn wir sie auch hören, besonders, da sie nur kurz ist.

``Da lagen auf dem Tische zwei Honigkuchen,'' erzählte er, ``der eine hatte die Gestalt eines Mannes mit einem Hut, der andere die einer Jungfrau ohne Hut, aber mit einem Streifchen Schaumgold auf dem Kopfe. Sie trugen das Gesicht auf der Seite, die nach oben lag, und von dort sollte man sie auch sehen und nicht von der Kehrseite aus, von wo man nie einen Menschen ansehen soll. Der Mann hatte eine bittere Mandel links, das war sein Herz, die Jungfrau dagegen war durch und durch aus Honigkuchen. Sie lagen als Proben auf dem Tische. Dort lagen sie lange, und so liebten sie sich; aber der eine sagte es nicht zum anderen, und das muß sein, wenn etwas daraus werden soll.''

``Er ist ein Mann, er muß das erste Wort sprechen!'' dachte sie, aber sie wäre doch vergnügt gewesen, wenn sie nur gewußt hätte, ob ihre Liebe erwidert würde.

Er trug sich mit begierigeren Gedanken, das tun ja die Mannsleute immer; er träumte, er sei ein lebendiger Straßenjunge, der vier Schillinge besäße, damit kaufte er die Jungfrau und verschlänge sie.

Und sie lagen Tage und Wochen hindurch auf dem Tische; sie wurden trocken und der Jungfrau Gedanken wurden feiner und weiblicher: ``Es ist mir genug, daß ich auf einem Tische mit ihm zusammen gelegen habe!'' dachte sie und brach mitten durch. ``Hätte sie von meiner Liebe gewußt, dann hätte sie wohl länger gehalten'' dachte er. ``Und das ist die Geschichte, und das sind die beiden'' sagte der Kuchenhändler. ``Sie sind bemerkenswert durch ihren Lebenslauf und ihre stumme Liebe, die niemals zu etwas führt. Seht, da habt Ihr sie!'' und dann gab er Johanne den Mann, der noch ganz war, und Knud bekam die gebrochene Jungfrau; aber sie waren so benommen von der Geschichte, daß sie nicht daran denken konnten, das Liebespaar zu verspeisen.

Am nächsten Tage gingen sie mit ihnen auf den Kirchhof, wo die Kirchenmauern mit dem herrlichsten Efeu besponnen waren, der Winter und Sommer wie ein reicher Teppich darüber hing. Sie stellten die Honigkuchen ins Grüne hinauf in den Sonnenschein und erzählten einer Schar anderer Kinder von der stummen Liebe, die zu nichts gut ist, das heißt die Liebe, denn die Geschichte fanden sie alle gar hübsch, und als sie nun auf das Honigpaar schauten, ja, da hatte ein großer Junge --- aus Bosheit hatte er es getan, die gebrochene Jungfrau verspeist. Die Kinder weinten darüber und nachher --- es geschah sicherlich nur, damit der arme Mann nicht so einsam auf der Welt bleiben sollte --- verspeisten sie ihn auch, aber nie vergaßen sie die Geschichte. Immer waren die Kinder zusammen unter dem Holunderbusch oder unter dem Weidenbaum, und das kleine Mädchen sang mit silberglockenheller Stimme die lieblichsten Lieder. Knud war für die Musik verloren, aber er konnte die Worte, die zu den Liedern gehörten, und das ist immerhin etwas. --- Die Leute in Kjöge, selbst die Eisenkrämerin, standen stille und hörten Johanne zu. ``Sie hat doch ein süßes Stimmchen, die Kleine'' sagte sie.

Das waren schöne Tage, aber sie währten nicht ewig. Die Nachbarn mußten von einander scheiden. Des kleinen Mädchens Mutter war gestorben, der Vater wollte sich in Kopenhagen wieder verheiraten. Er konnte dort einen guten Broterwerb bekommen; er sollte als Bote angestellt werden und das war ein sehr einträgliches Amt. Die Nachbarn schieden unter Tränen, und besonders die Kinder weinten bitterlich; aber die Alten versprachen, einander zu schreiben, und zwar mindestens einmal im Jahre. Knud kam in die Schuhmacherlehre, die Eltern konnten ihn nicht länger gehen und die Zeit vergeuden lassen. Und so wurde er nun eingesegnet.

O, wie gern wäre er an diesem Festtage nach Kopenhagen gekommen, um die kleine Johanne wiederzusehen; doch er kam nicht hin und war auch nie dort gewesen, obgleich es nur fünf Meilen von Kjöge entfernt liegt; aber die Türme hatte Knud bei klarem Wetter über die Bucht ragen sehen, und am Einsegungstage sah er deutlich das goldene Kreuz auf der Frauenkirche leuchten.

Ach, wie oft dachte er an Johanne. Ob sie sich seiner erinnerte? Ja, aber freilich! --- Zur Weihnachtszeit kam ein Brief von ihrem Vater an Knuds Eltern, darin stand, daß es ihnen in Kopenhagen recht gut ginge, und daß Johanne ein wahres Glück in ihrer Stimme zuteil geworden wäre. Sie sei beim Theater angestellt worden, dort, wo man singt; ein wenig Geld bekäme sie auch schon dafür, und von diesem sende sie den lieben Nachbarsleuten einen ganzen Reichstaler, um sich einen vergnügten Weihnachtsabend davon zu machen; sie sollten auf ihr Wohl trinken, das hatte sie mit eigener Hand in einer Nachschrift hinzugefügt und darin stand auch: ``Freundlichen Gruß an Knud!''

Da weinten sie alle zusammen, trotzdem das Ganze ja nur erfreulich war, aber sie weinten ja auch vor Freude. Jeden Tag war Johanne in seinen Gedanken gewesen und nun sah er, daß sie auch an ihn dachte, und je mehr die Zeit herannahte, wo er Geselle werden sollte, desto klarer stand es vor seiner Seele, daß er Johanne lieb habe und daß sie seine kleine Frau werden solle. Dann spielte wohl ein Lächeln um seinen Mund und er zog den Draht hurtiger, während das Bein den Spannriemen anspannte. Er stach sich den Pfriem mitten durch den einen Finger, aber das tat nichts. Er würde gewiß nicht stumm sein wie die beiden Honigkuchen, diese Geschichte war ihm eine Lehre gewesen.

Dann wurde er Geselle und schnürte sein Ränzel. Endlich sollte er zum ersten Mal in seinem Leben nach Kopenhagen, dort hatte er schon einen Meister. Und wie froh und überrascht Johanne sein würde. Sie war jetzt siebzehn Jahre und er war neunzehn.

Er wollte schon in Kjöge einen Goldreif für sie kaufen, aber er bedachte, daß man wohl in Kopenhagen weit schönere bekommen würde Dann wurde Abschied von den beiden Alten genommen und hurtig wanderte er von dannen durch Herbst und Wind und Wetter. Die Blätter fielen von den Bäumen, und bis auf die Haut durchnäßt kam er in das große Kopenhagen und zu seinem neuen Meister.

Am ersten Sonntag wollte er Johannes Vater einen Besuch machen. Die neuen Gesellenkleider zog er an, dazu den neuen Hut noch aus Kjöge, der ihn so gut kleidete, denn vorher war er immer mit einer Mütze gegangen. --- Er fand das Haus, das er suchte und stieg die vielen Treppen hinauf; es war um schwindelig zu werden, wie die Menschen hier in dieser großen Stadt, in der man sich so leicht verirren konnte, übereinandergepfercht waren.

Die Stube machte einen recht wohlhabenden Eindruck, und freundlich empfing ihn Johannes Vater. Der zweiten Frau war er ja ein Fremder, aber sie reichte ihm die Hand und lud ihn zum Kaffee.

``Johanne wird sich freuen, Dich zu sehen'' sagte der Vater, ``Du bist ja ein prächtiger Junge geworden!'' --- ``Ja, nun sollst Du sie gleich zu sehen bekommen! Sie ist ein Mädchen, an dem ich meine Freude habe und mit Gottes Beistand werde ich auch noch mehr an ihr erleben! Sie hat ihr eigenes Zimmer, dafür bezahlt sie uns Miete.'' Dann klopfte der Vater selbst höflich an ihre Tür, als sei er ein Fremder, und dann traten sie ein. Nein, wie reizend sah es hier aus. Solch ein Zimmer war gewiß in ganz Kjöge nicht zu finden, die Königin konnte es nicht hübscher haben. Da waren Teppiche, da waren Gardinen, die bis zur Erde hinab reichten, sogar ein wirklicher Samtsessel stand da und ringsum Blumen und Gemälde, und ein Spiegel, in den man versucht war, hineinzulaufen, denn er war so groß wie eine Tür. Knud sah alles mit einem Blick und sah doch nur Johanne, die nun als erwachsenes Mädchen vor ihm stand; ganz anders war sie, als Knud sie sich gedacht hatte, aber viel schöner. Es gab kein Mädchen in Kjöge, das ihr gleich gekommen wäre; wie war sie zart und fein. Aber wie sonderbar fremd blickte sie Knud an, doch nur einen Augenblick lang, dann flog sie ihm entgegen, ganz als ob sie ihn küssen wollte; sie tat es zwar nicht, aber viel hatte nicht daran gefehlt. Ja, sie war herzensfroh, ihren Jugendfreund wiederzusehen. Die Tränen standen ihr in den Augen, und dann hatte sie soviel zu fragen und zu erzählen, von Knuds Eltern bis zum Holunderstrauch und Weidenbaum, den sie Fliedermütterchen und Weidenväterchen nannte, ganz als ob sie auch Menschen wären, und dafür konnten sie ja ebensogut gelten, wie es früher die Honigkuchen gegolten hatten. Von ihnen sprach sie auch, von ihrer stummen Liebe, wie sie auf dem Tische lagen und dann den Weg alles Irdischen gegangen waren, und dabei lachte sie so herzlich. --- Aber das Blut brannte Knud in den Wangen und sein Herz schlug schneller als sonst! --- Nein, sie war gar nicht hochmütig geworden. --- Und um ihretwillen, das merkte er wohl, baten ihn auch ihre Eltern, den Abend über dazubleiben, und sie schenkte den Tee ein und bot ihm selbst eine Tasse an; später nahm sie ein Buch und las laut daraus vor, und es war Knud, als handele das, was sie vorlas, gerade von seiner eigenen Liebe, so sehr stimmte es mit allen seinen Gedanken überein. Und dann sang sie ein einfaches Lied, aber in ihrem Munde wurde es zu einer ganzen Geschichte, es war, als ströme ihr eigenes Herz darin über. Ja, gewiß hatte sie Knud auch lieb. Die Tränen liefen ihm über die Wangen herab, er konnte ihnen nicht gebieten und konnte auch kein einziges Wort sprechen. Es schien ihm selbst, daß er sich recht dumm benehme, und doch drückte sie seine Hand und sagte: ``Du hast ein gutes Herz, Knud! Bleib immer wie Du bist''

Es war ein unaussprechlich schöner Abend, er war gar nicht dazu angetan, um danach zu schlafen, und Knud schlief auch nicht. Beim Abschied hatte Johannes Vater gesagt: ``Nun vergißt Du uns wohl auch nicht ganz! Laß uns sehen, daß Du nicht den ganzen Winter vergehen läßt, bevor Du wieder einmal nach uns siehst!''

Und so konnte er wohl gut am Sonntag wiederkommen! Das wollte er bestimmt. Aber jeden Abend nach der Arbeit, und sie arbeiteten bei Licht, ging Knud in die Stadt. Er ging durch die Straße, wo Johanne wohnte, und sah zu ihrem Fenster hinauf. Dort war fast immer Licht, und eines Abends sah er ganz deutlich den Schatten ihres Gesichts auf der Gardine; das war ein schöner Abend! Die Meisterin sah es nicht gern, daß er des Abends immer umherstrich, wie sie es nannte, und sie schüttelte den Kopf darüber, aber der Meister lachte: ``Es ist ein junger Mensch!'' sagte er.

``Am Sonntag sehen wir uns, und dann sage ich ihr, wie alle meine Gedanken von ihr erfüllt sind, und daß sie meine kleine Frau werden soll! Ich bin ja nur ein armer Schuhmachergesell, aber ich kann Meister werden, und ich werde arbeiten und streben. Ja, ich sage es ihr, bei der stummen Liebe kommt nichts heraus, das habe ich von den Honigkuchen gelernt!''

Und der Sonntag kam und Knud kam, aber wie unglücklich traf es sich. Sie waren alle eingeladen und mußten es ihm sagen. Johanne drückte ihm die Hand und fragte: ``Warst Du schon in der Oper? Da mußt Du einmal hingehen! Ich singe am Mittwoch, und wenn Du dann Zeit hast, werde ich Dir ein Billet schicken, mein Vater weiß, wo Dein Meister wohnt.''

Wie lieb das von ihr war. Am Mittwoch Mittag kam auch richtig ein versiegeltes Kuvert ohne eine Zeile, aber das Billet lag darin, und am Abend ging Knud zum ersten Male in seinem Leben ins Theater und was sah er dort? Ja, er sah Johanne, und schön und lieblich wie nie erschien sie ihm. Sie verheiratete sich zwar mit einer fremden Person, doch das war Theater, das wußte Knud, denn sonst hätte sie sicher nicht das Herz gehabt, ihm ein Billet zu schicken, daß er zusehen müsse. Und alle Leute klatschten und riefen laut Beifall und Knud rief Hurra.

Selbst der König lächelte Johanne zu, als freue er sich auch über sie. Ach Gott, wie fühlte sich Knud klein, aber er liebte sie so innig und sie hatte ihn ja auch lieb; die Mannsleute müssen das erste Wort sagen, so hatte die Honigkuchenjungfer gesagt. In der Geschichte lag wirklich ein tiefer Sinn.

Als der Sonntag herangekommen war, ging Knud wieder hin; seine Gedanken waren so feierlich wie beim Abendmahl. Johanne war allein und empfing ihn, es konnte sich nicht glücklicher treffen.

``Es ist gut, daß Du kommst!'' sagte sie. ``Fast hätte ich Vater zu Dir geschickt, aber ich hatte so eine Ahnung, daß Du heute abend herkommen würdest; denn ich muß Dir sagen, daß ich am Freitag nach Frankreich reise, das ist nötig, damit etwas Tüchtiges aus mir wird.''

Knud war es, als drehe sich die ganze Stube um ihn, als solle sein Herz brechen; aber es kamen keine Tränen in seine Augen, so deutlich es auch sichtbar war, wie betrübt er wurde. Johanne sah es und war nahe daran zu weinen. ``Du ehrliche, treue Seele'' sagte sie --- und nun löste sich Knuds Zunge, und er sagte ihr, wie innig er sie liebe und daß sie seine kleine Frau werden müsse. Aber während er es sagte, sah er, daß Johanne totenbleich wurde, sie ließ seine Hand los und sagte ernst und betrübt: ``Mache nicht Dich selbst und mich unglücklich, Knud. Ich bleibe Dir immer eine gute Schwester, auf die Du Dich verlassen kannst --- aber auch nicht mehr.'' Und sie strich mit ihrer weichen Hand über seine heiße Stirn. ``Gott gibt uns Kraft zu vielem, wenn man nur selbst will.''

In diesem Augenblick trat ihre Stiefmutter herein.

``Knud ist ganz außer sich, weil ich reise'' sagte sie; ``sei doch ein Mann'' und dann klopfte sie ihn auf die Schulter. Es sah aus, als hätten sie nur von der Reise und von nichts anderem gesprochen. ``Kind'' sagte sie, ``nun mußt Du gut und vernünftig sein wie unter dem Weidenbaum, da wir beide als Kinder darunter spielten!''

Für Knud war es, als sei die Welt aus ihren Fugen gegangen. Seine Gedanken hingen wie ein loser Faden, willenlos dem Winde preisgegeben. Er blieb, er wußte nicht, ob sie ihn darum gebeten hatten, aber sie waren freundlich und gut zu ihm. Johanne schenkte ihm Tee ein und sang; es war nicht der alte Klang, aber doch so unsagbar schön; daß ihm das Herz in Stücke brechen wollte, und dann schieden sie. Knud reichte ihr nicht die Hand, aber sie nahm die seine und sagte: ``Du gibst doch Deiner Schwester die Hand zum Abschied, mein alter Spielbruder.'' Sie lächelte unter Tränen, und während sie ihr über die Wangen herabliefen, wiederholte sie: ``Bruder.'' Ja, das konnte groß helfen! --- So war ihr Abschied.

Sie segelte nach Frankreich und Knud lief durch die schmutzigen Kopenhagener Gassen. --- Die anderen Gesellen aus der Werkstatt fragten ihn, was er so umherliefe und grübele; er solle mit ihnen zum Vergnügen gehen, er sei ja ein junges Blut.

Und sie gingen zusammen auf einen Tanzboden. Dort gab es viele hübsche Mädchen, aber freilich keine wie Johanne, und dort, wo er geglaubt hatte, sie vergessen zu können, gerade dort stand sie am lebendigsten vor seiner Seele. ``Gott gibt Kraft zu vielem, wenn man nur selbst will!'' hatte sie gesagt; und es kam eine Andacht über ihn, daß er seine Hände falten mußte --- und die Violinen spielten und die Mädchen tanzten um ihn her. Er erschrak, es schien ihm, dies sei hier kein Ort, wohin er Johanne führen konnte, und sie war ja stets in seinem Herzen. So ging er wieder hinaus und lief durch die Straßen. Er kam an dem Hause vorbei, wo sie gewohnt hatte. Es war dunkel dort, überall war es dunkel, leer und einsam; die Welt ging ihren Gang und Knud den seinen.

Es wurde Winter und die Gewässer froren zu, es war gerade, als ob alles sich zur Grabesruh einrichtete.

Als aber das Frühjahr kam und das erste Dampfschiff ging, erfaßte ihn eine Sehnsucht fortzukommen, weit in die Welt hinaus, nur nicht zu nahe an Frankreich heran.

So schnürte er sein Ränzel und wanderte weit nach Deutschland hinein, von Stadt zu Stadt, ohne Rast und Ruh. Erst als er in die alte prächtige Stadt Nürnberg kam, war es, als ob ihm wieder einiges Sitzfleisch wüchse, und er vermochte zu bleiben.

Das ist eine wunderliche alte Stadt, wie aus einem alten Bilderbuche ausgeschnitten. Die Straßen lagen, ganz wie sie selbst es zu wollen schienen, die Häuser mochten nicht in einer Reihe stehen, Erker mit Türmchen, Schnörkel und Steinbilder sprangen bis weit über den Bürgersteig hervor, und hoch oben an den wunderlich schiefen Dächern liefen mitten über die Straßen Dachrinnen, die wie Drachen oder Hunde mit langen Leibern geformt waren.

Hier stand Knud auf dem Markte mit dem Ränzel auf dem Rücken; er stand an einem alten Springbrunnen, wo die herrlichen Erzfiguren, biblische und historische, zwischen den aufsteigenden Wasserstrahlen stehen Ein hübsches Dienstmädchen holte gerade Wasser, sie gab Knud einen frischen Trunk, und da sie eine ganze Hand voller Rosen hatte, gab sie Knud auch eine von diesen, und das schien ihm ein gutes Vorzeichen zu sein.

Aus der Kirche nahe dabei brauste Orgelklang bis zu ihm hinaus, das klang ihm so heimatlich wie die Klänge der Kirche in Kjöge, und er trat in den großen Dom ein. Die Sonne schien durch die gemalten Fenster hinein zwischen die hohen, schlanken Pfeiler; seine Gedanken wurden von Andacht ergriffen und Stille zog in seine Seele ein.

Und er suchte und fand einen guten Meister in Nürnberg, und bei ihm blieb er und lernte die Sprache.

Die alten Gräben um die Stadt sind in kleine Gärtchen verwandelt, aber die hohen Mauern stehen noch mit ihren schweren Türmen da. Der Seiler schnürt seine Stricke auf der hölzernen Galerie, die an den Mauern hinläuft, und hier wuchsen aus Spalten und Löchern Holundersträuche, die ihre Zweige über die kleinen, niedrigen Häuser unter ihnen hängen, und in einem von diesen wohnte der Meister, bei dem Knud arbeitete. Über das kleine Dachfenster hin, wo er schlief, breitete ein Holunderbusch seine Zweige.

Hier wohnte er einen Sommer und einen Winter. Als aber das Frühjahr kam, war es nicht mehr auszuhalten. Der Holunder stand in Blüte und duftete so heimatlich, daß ihm war, als sei er im Garten vor. Kjöge, und so sagte Knud seinem Meister Lebewohl und zog zu einem anderen, der weiter innen in der Stadt wohnte, wo keine Holundersträuche standen.

Seine neue Werkstatt lag nahe bei einer von den alten steinernen Brücken und gerade gegenüber einer stets brausenden, niedrigen Wassermühle. Dahinter strömte ein reißender Fluß, der gleichsam von den Häusern eingeklemmt wurde, die alle mit alten, baufälligen Altanen behängt waren; es sah aus, als wollten sie diese ins Wasser hinabschütteln. --- Hier wuchs kein Holunder, hier stand nicht einmal ein Blumentopf mit ein wenig Grün, aber gerade gegenüber stand ein großer alter Weidenbaum, der sich gleichsam an dem Hause dort festklammerte, um nicht vom Strome mit fortgerissen zu werden. Er streckte seine Zweige über den Fluß hin, ganz wie der Weidenbaum im Garten am Bache von Kjöge.

Ja, da war er freilich nur vom Fliedermütterchen zum Weidenväterchen gekommen. Der Baum hier, ganz besonders an Mondscheinabenden, hatte etwas, wobei er sich fühlte: ``so dänisch im Herzen beim Mondenschein.''

Aber es war nicht der Mondschein, der es machte, nein, es war der alte Weidenbaum.

Wieder konnte er es nicht aushalten, und warum nicht? Frag die Weide, frag den blühenden Holunder. Und so sagte er dem Meister und Nürnberg Lebewohl und zog weiter.

Zu niemandem sprach er von Johanne. Tief innen verbarg er seinen Kummer, und eine besondere Bedeutung legte er der Geschichte von den Honigkuchen bei. Nun verstand er, warum der Mann an der linken Seite eine bittere Mandel an Stelle des Herzens hatte; er hatte selbst einen bitteren Geschmack davon und Johanne, die stets so freundlich und lächelnd war, sie war nur reiner Honigkuchen. Es war, als schnüre ihn der Riemen seines Ränzels, so schwer wurde ihm das Atemholen. Er lockerte ihn, aber es wollte nichts helfen. Die Welt um ihn war nur zur Hälfte da, die andere Hälfte trug er in sich, das war es.

Erst als er die hohen Berge sah, erschien ihm die Welt wieder größer, seine Gedanken wandten sich wieder seiner Umgebung zu und Tränen stiegen in seine Augen. Die Alpen erschienen ihm wie die zusammengelegten Flügel der Erde. Wie, wenn sie sich emporhöbe und die großen Federn ausbreitete mit den bunten Bildern von schwarzen Wäldern, brausenden Wassern, Wolken und Schneemassen! Am Jüngsten Tage entfaltet die Erde ihre großen Schwingen, fliegt zu Gott empor und platzt wie eine Blase vor seinen klaren Strahlen. ``O, wäre doch erst der Tag da!'' seufzte er.

Still wanderte er durch das Land, das ihm wie ein großer grüner Fruchtgarten erschien; von den Holzaltanen der Häuser nickten ihm die klöppelnden Mädchen zu, die Gipfel der Berge glühten in der roten Abendsonne, und als er die grünen Seen zwischen den dunklen Bäumen schimmern sah, --- da mußte er wieder an den Strand bei der Bucht von Kjöge denken, und es war Wehmut, aber kein Schmerz mehr in seiner Brust.

Dort, wo der Rhein wie in einer großen Woge sich vorwärts wälzt, hinabstürzt, zerschellt und sich zu schneeweißen klaren Wolkenmassen verwandelt --- ein Regenbogen flattert wie ein loses Band darüber hin --- , dachte er an die Wassermühle von Kjöge, wo auch das Wasser brausend zerschellt war.

Gern wäre er in der stillen Stadt am Rhein geblieben, aber auch hier war so viel Holunder und so viele Weidenbäume --- so zog er weiter, über die hohen, mächtigen Berge, durch Felssprengungen, und Wege entlang, die wie Schwalbennester an den Steinwänden klebten. Das Wasser brauste in der Tiefe, die Wolken jagen unter ihm; über blanke Disteln, Alpenrosen und Schnee wanderte er in der warmen Sommersonne dahin --- und dann sagte er den Ländern des Nordens Lebewohl und kam hinab unter Kastanienbäume, wischen Weingärten und Maisfelder. Die Berge waren wie eine Mauer zwischen ihm und allen Erinnerungen aufgerichtet, und so sollte es sein.

Vor ihm lag eine große, prächtige Stadt, die sie Milano nannten, und hier fand er einen deutschen Meister, der ihm Arbeit gab. Es war ein altes, ehrliches Ehepaar, zu dem er in die Werkstatt gekommen war, und sie gewannen den stillen Gesellen, der wenig sprach, aber desto mehr arbeitete und fromm und christlich war, lieb. Es war ihm nun, als habe Gott die schwere Last von seinem Herzen genommen.

Seine größte Freude war, bisweilen die große Marmorkirche hinaufzusteigen, die ihn aus dem heimatlichen Schnee geschaffen schien, und mit ihren Bildern, spitzen Türmen und blumengeschmückten offenen Hallen einen gar schönen Anblick bot. Aus jeder Ecke, von jeder Spitze und jedem Bogen lächelten die weißen steinernen Bilder ihm zu.

Oben hatte er den blauen Himmel über sich, unter sich die Stadt und die weite grüne Ebene der Lombardei, und nach Norden zu die hohen Berge mit ihrem ewigen Schnee --- und dann dachte er wieder an die Kirche von Kjöge mit den Efeuranken um die roten Mauern, aber er sehnte sich nicht mehr zurück, hier hinter den Bergen wollte er begraben sein.

Ein Jahr lang hatte er hier gelebt; es war nun drei Jahre her, seit er aus der Heimat gezogen war, da führte ihn sein Meister einmal in die Stadt, nicht in den Zirkus, um die Kunstreiter zu sehen, nein, in die große Oper, und das war auch ein Saal, der wert war, gesehen zu werden. Sieben Etagen hoch hingen dort Seidenvorhänge, und vom Boden bis zur Decke hinauf, schwindelnd hoch, saßen die feinsten Damen mit Blumen in den Händen, als wollten sie zum Ball gehen. Auch die Herren waren in vollem Staat und viel Gold und Silber glänzte. Es war so hell wie im liebtesten Sonnenschein und dann brauste die Musik so stark und so herrlich empor, es war noch weit prachtvoller als in der Kopenhagener Oper, aber dort war doch Johanne und hier --- da, es war wie ein Zauber, die Gardine wurde zur Seite gezogen --- auch hier stand Johanne, in Gold und Silber gekleidet und mit einer goldenen Krone auf dem Haupte. Sie sang, wie nur ein Engel Gottes singen kann. Sie trat vor, so weit sie es konnte und lächelte, wie nur Johanne es vermochte; sie blickte gerade Knud an.

Der arme Knud griff nach seines Meisters Hand und rief laut: ``Johanne.'' Aber es war nicht zu hören, die Musikanten spielten so laut, und der Meister nickte ihm zu: ``Ja, gewiß heißt sie Johanne'' und dann nahm er ein gedrucktes Blatt und zeigte ihm, wo ihr Name stand, ihr ganzer Name.

Nein, es war kein Traum. Und alle Menschen jubelten und warfen ihr Blumen und Kränze zu und jedes Mal, wenn sie ging, wurde sie wieder hervorgerufen; sie ging und kam wieder.

Auf den Straßen draußen scharten sich die Leute um ihren Wagen und zogen ihn, und Knud war der allervorderste und der allerglücklichste. Und als sie an ihr prächtiges, hellerleuchtetes Haus kamen, stand Knud gerade vor der Wagentür. Sie wurde geöffnet und sie stieg heraus, das Licht fiel hell auf ihr anmutiges Gesicht und sie lächelte und dankte so freundlich; sie konnte ihre Rührung kaum verbergen. Und Knud blickte ihr gerade ins Antlitz und sie blickte Knud gerade ins Antlitz, aber sie erkannte ihn nicht. Ein Herr mit einem Stern auf der Brust reichte ihr den Arm --- sie wären verlobt, sagte man.

Da ging Knud nachhause und schnürte sein Ränzel, er wollte, er mußte heim zum Holunder und der Weide --- ach, unter den Weidenbaum. In einer Stunde kann man ein ganzes Menschenleben durchleben!

Sie baten ihn, zu bleiben; kein Wort konnte ihn zurückhalten. Sie sagten ihm, es sei Winterszeit und in den Bergen fiele schon Schnee; aber in der Spur der langsam fahrenden Wagen, vor denen ja Weg gebahnt werden müsse, könne er mit seinem Ränzel auf dem Rücken und auf seinem Stab gestützt gehen.

Und er ging auf die Berge zu, stieg rastlos hinauf und hinab; ganz entkräftet, konnte er noch immer weder Stadt noch Haus erblicken. Er war schon weit gegen Norden. Über ihm erglänzten die Sterne, seine Füße wankten, der Kopf schwindelte ihm. Tief unten im Tale erglänzten jetzt auch Sterne; es war, als erstreckte sich der Himmel auch unter ihm. Er fühlte sich krank. Die Sterne dort unten wurden mehr und mehr, und sie leuchteten immer heller und bewegten sich hin und her. Es war eine kleine Stadt, aus der die Lichter herauf blinkten, und als er es begriff, nahm er seine letzten Kräfte zusammen und erreichte eine geringe Herberge.

Einen ganzen Tag lang blieb er hier, denn seine Glieder verlangten nach Ruhe und Pflege. Es war Tau und Regenwetter im Tale. Aber am Morgen kam ein Drehorgelmann vorbei, und als er auch eine Melodie aus der dänischen Heimat spielte, konnte Knud es nicht länger aushalten, er wanderte tagelang, viele Tage lang, mit einer Hast vorwärts, als gelte es heimzukommen, ehe sie alle dort starben. Aber zu niemandem sprach er von seiner Sehnsucht, niemand konnte annehmen, daß er ein Herzeleid trug, das tiefste, das man tragen kann. Es versteckt sich vor der Welt, es läßt keine Freude zu, es versteckt sich selbst vor den Freuden, aber er hatte auch keine Freunde. Fremd wanderte er durch das fremde Land heimwärts nach Norden. In dem einzigen Brief von zu Hause, den die Eltern vor Jahr und Tag geschrieben hatten, stand: ``Du bist kein rechter Däne wie wir anderen hier daheim. Wir sind fürs Vaterland, Du aber findest nur an der Fremde Gefallen.'' Eltern konnten so etwas schreiben --- nein sie wußten nicht, was ihn bewegte.

Es war Abend, er ging auf der offenen Landstraße und es begann zu frieren; das Land selbst wurde flacher und flacher, Felder und Wiesen wechselten einander ab; da stand am Wege ein großer Weidenbaum: alles sah schon heimatlich, fast dänisch aus. Er setzte sich unter den Weidenbaum; er fühlte sich so müde, sein Haupt sank auf die Brust und seine Augen schlossen sich zum Schlafe, aber er fühlte und vernahm deutlich, wie die Weide ihre Zweige zu ihm herabsenkte. Der Baum erschien wie ein mächtiger alter Mann. Es war Weidenväterchen selbst, der ihn in seine Arme nahm und den müden Sohn heim ins dänische Land trug, an den weißen offenen Strand, nach der Stadt Kjöge in den Garten seiner Kindheit. Ja, es war der Weidenbaum aus Kjöge selbst, der in die Welt hinausgegangen war, um ihn zu suchen und zu finden, und nun hatte er ihn gefunden und heimgebracht in den kleinen Garten am Bach, und hier stand Johanne in all ihrer Pracht mit der goldenen Krone auf dem Haupte, die er zuletzt an ihr gesehen hatte und rief: ``Willkommen.''

Und dicht vor ihnen standen zwei wunderliche Gestalten, aber sie waren viel menschlicher geworden seit damals, sie hatten sich auch verändert. Es waren die beiden Honigkuchen, das Mannsbild und das Frauenzimmer; sie zeigten sich von der richtigen Seite und sahen gut aus.

``Schönen Dank'' sagten sie beide zu Knud; ``Du hast unsere Zungen gelöst. Du hast uns gelehrt, frisch und frei seine Gedanken auszusprechen, sonst kommt nichts dabei heraus. --- Wir sind verlobt!''

Darauf gingen sie Hand in Hand durch die Straßen von Kjöge und sahen auch von der Kehrseite sehr anständig aus, es war nichts gegen sie zu sagen. Und sie gingen geradewegs zur Kirche von Kjöge hinein, und Knud und Johanne folgten ihnen. Sie gingen auch Hand in Hand. Die Kirche stand wie immer mit ihren roten Mauern und dem Efeugrün, und die große Kirchentür öffnete sich nach beiden Seiten, die Orgel erbrauste und das Mannsbild und das Frauenzimmer gingen beide im Kirchengange voran: ``Die gnädigen Herrschaften zuerst!'' sagten sie, und dann traten sie zur Seite vor Knud und Johanne, und sie knieten am Altar nieder. Sie beugte ihr Haupt über sein Antlitz, und es rollten eiskalte Tränen aus ihren Augen; das war das Eis um ihr Herz, das durch seine starke Liebe geschmolzen wurde, und sie fielen auf seine brennenden Wangen, und --- dabei erwachte er und saß unter dem alten Weidenbaum im fremden Lande an dem kalten Winterabend; aus den Wolken fiel eisiger Hagel und peitschte in sein Gesicht.

``Das war die glücklichste Stunde meines Lebens'' sagte er, ``und sie war ein Traum. --- Gott, lasse mich noch einmal so träumen!'' Und er schloß seine Augen, er schlief, er träumte.

Am Morgen fiel Schnee, er fegte über seine Füße hin, aber er schlief. Die Landleute gingen zur Kirche; da saß ein Handwerksbursche, er war tot, erfroren --- unter dem Weidenbaum.

Der Stein der Weisen

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\AMsection{Der Stein der Weisen}

Du kennst doch die Geschichte von Holger Danske; wir wollen sie Dir nicht erzählen, nur fragen, ob Du Dich noch erinnerst, daß ``Holger Danske das große Land Indien nach Osten zu am Ende der Welt gewann bis zu dem Baume, der der Baum der Sonne genannte wird,'' wie Christian Pedersen es erzählte. Kennst Du Christian Pedersen? Es kommt auch nicht darauf an, daß Du ihn kennst. Holger Danske gab dort dem Priester Jon, Macht und Herrscherwürde über das ganze Land Indien. Kennst Du den Priester Jon? Ja, darauf kommt es auch nicht viel an, denn er kommt in dieser Geschichte gar nicht vor. Hier sollst Du von dem Baum der Sonne hören ``im Lande Indien nach Osten zu am Ende der Welt'', wie man einst glaubte, als man noch nicht Geographie gelernt hatte, wie wir es heute lernen. Aber darauf kommt es auch nicht an.

Der Baum der Sonne war ein prächtiger Baum, wie wir nie einen gesehen haben und auch Du nie einen zu sehen bekommen wirst. Seine Krone erstreckte sich mehrere Meilen weit in der Runde, er bildete eigentlich einen ganzen Wald, und jeder seiner kleinsten Zweige war wieder ein ganzer Baum; Palmen, Buchen, Pinien und Platanen, alle Arten von Bäumen, die sich in der ganzen Welt finden, trieben hier als kleine Zweige aus den größeren Zweigen hervor, und diese selbst glichen mit ihren Knoten und Krümmungen Tälern und Höhen. Sie waren mit einem samtweichen Grün bekleidet, das von Blumen wimmelte. Jeder Zweig war wie eine ausgedehnte, blühende Wiese oder der lieblichste Garten. Die Sonne sandte ihm liebreich Ihre wohltuendsten Strahlen herab, denn es war ja der Baum der Sonne. Die Vögel von allen Enden der Welt versammelten sich hier, Vögel aus den fernen Urwäldern Amerikas, aus Damaskus, Rosengärten, aus den waldigen Wüsten des inneren Afrika, wo Elefant und Löwe, allein zu regieren vermeinen. Der Polarvogel kommt, und Storch und Schwalbe natürlich auch. Aber die Vögel waren nicht die einzigen lebenden Geschöpfe, die hierher kamen. Der Hirsch, das Eichhörnchen, die Antilope und Hunderte von anderen Tieren, flüchtig und schön, waren hier zu Hause. Ein großer, duftender Garten war ja des Baumes Krone, und innen, wo sich die allergrößten Zweige wie grüne Höhen emporstreckten, lag ein kristallenes Schloß mit einer Aussicht auf alle Länder der Welt. Jeder Turm hob sich liliengleich, durch den Stengel konnte man emporsteigen, denn es waren Treppen darin. Da kannst Du es wohl auch verstehen, daß man auf die Blätter hinaus treten konnte, die Altane bildeten, und oben, in der Blume selbst, war der herrlichste, strahlendste Festsaal, der als Dach nichts anderes als den blauen Himmel mit Sonne und Sternen hatte. Ebenso herrlich, nur auf eine andere Weise, waren die weitläufigen Säle. Hier spiegelte sich an den Wänden ringsum die ganze Welt ab. Man konnte alles dort sehen, was geschah, so daß man keine Zeitungen zu lesen brauchte, die gab es hier auch nicht. Alles war hier in lebenden Bildern zu sehen, man konnte und mochte es nur nicht alles ansehen, denn zuviel ist zuviel, selbst für den weisesten Mann, und hier wohnte der weiseste Mann. Sein Name ist so schwer auszusprechen, Du könntest ihn doch nicht aussprechen,
und deshalb kann er Dir gleichgültig sein. Er wußte alles, was ein Mensch wissen kann und je auf dieser Welt wissen wird; jede Erfindung, die gemacht worden war oder noch gemacht werden sollte, kannte er, aber auch nicht mehr, denn alles hat ja seine Grenzen. Der weise König Salomo war nur halb so klug, und der war doch ein recht kluger Mann; er herrschte über die Kräfte der Natur, über mächtige Geister, ja, der Tod selbst mußte ihm jeden Morgen Botschaft bringen und die Liste derer, die an diesem Tage sterben sollten. Aber König Salomo selbst mußte auch sterben, und das war der Gedanke, der oft seltsam lebhaft den Forscher, den mächtigen Herrn in dem Schlosse auf dem Baume der Sonne erfüllte. Auch er, der so hoch über der Weisheit der Menschen stand, mußte einst sterben, das wußte er, und auch seine Kinder mußten sterben. Wie des Waldes Laub würden sie fallen und zu Staub werden. Das Menschengeschlecht sah er vergehen, wie die Blätter vom Baume wehen, und neue kamen an deren Stelle. Aber die abgefallenen Blätter wuchsen niemals wieder, sie wurden zu Staub oder gingen in andere Pflanzen über. Was geschah mit den Menschen, wenn der Engel des Todes zu ihnen kam. Was hieß es, zu sterben? Der Körper löste sich auf und die Seele --- Ja, was wurde aus ihr? Wohin ging sie? ``Zum ewigen Leben!'' sagt die Religion zum Troste. Aber wie war der Übergang? Wo lebte man und wie? ``Oben im Himmel.'' sagten die Frommen. ``Dort hinauf gehen wir.'' --- ``Dort hinauf'' wiederholte der Weise und sah zu Sonne und Sternen empor. ``Dort hinauf!'' und er sah aus der runden Erdkugel, daß oben und unten ein und dasselbe waren, je nachdem, wo man auf der schwebenden Kugel stand; stieg er hinauf, so hoch wie der Erde höchste Berge ihre Gipfel erheben, so wurde die Luft, die wir hier unten klar und durchsichtig nennen, zu einem kohlschwarzen Dunkel, dicht wie ein Tuch; die Sonne war wie ein glühender Ball ohne Strahlen anzusehen, und die Erde lag von orangefarbenen Nebeln verhüllt. Hier lag die Grenze für unser körperliches und seelisches Sehvermögen; wie gering ist unser Wissen, selbst der Weiseste wußte nur wenig von dem, was für uns das Wichtigste ist!

In der Geheimkammer des Schlosses lag der Erde größter Schatz: ``Das Buch der Wahrheit''. Blatt für Blatt las er es. Das war ein Buch, in dem jedweder Mensch zu lesen vermag, aber nur stückweise. Für manches Auge zittert die Schrift, so daß es nicht möglich ist, die Buchstaben zu entziffern. Auf einzelnen Blättern verblaßt Schrift und verschwindet fast, so daß man ein leeres Blatt zu sehen vermeint. Je weiser man ist, desto mehr kann man lesen, und der Weiseste liest das Allermeiste. Der Weise wußte das Licht der Sterne, der Sonne, der verborgenen Kräfte und des Geistes zu sammeln. Im Glanze dieses verstärkten Lichtscheins trat bei ihm noch mehr von der Schrift hervor, jedoch bei dem Abschnitt des Buches: ``Das Leben nach dem Tode'' war auch nicht ein Tipfelchen mehr zu sehen. Das betrübte ihn; --- sollte es keine Macht geben, die ihn hier auf Erden ein Licht finden hieße, bei dessen Scheine sichtbar wurde, was hier im Buche der Wahrheit stand?

Wie der weise König Salomo verstand er die Sprache der Tiere, er hörte ihre Gesänge und Gespräche, aber dadurch wurde er nach jener Richtung nicht klüger. Er erkundete die geheimen Kräfte der Pflanzen und Metalle, kannte die Kräfte, um Krankheiten zu vertreiben, um den Tod fernzuhalten, aber kein Mittel, um ihn zu vernichten. In allem Erschaffenen, das ihm erreichbar war, suchte er nach dem Lichte, das die Vergewisserung eines ewigen Lebens beleuchtete, aber er fand es nicht; das Buch der Wahrheit lag wie mit unbeschriebenen Blättern vor ihm. Das Christentum verwies ihn auf der Bibel Vertröstung auf ein ewiges Leben, aber er wollte es in seinem Buche lesen, und darin sah er nichts.

Fünf Kinder hatte er, vier Söhne, klug belehrt, wie nur der weiseste Vater seine Kinder belehren kann, und eine Tochter, schön, sanft und klug, aber blind, doch es schien für sie keinen Verlust zu bedeuten. Der Vater und die Brüder waren ihre Augen, und ein inneres Gefühl ließ sie die Dinge recht erkennen.

Nie hatten sich die Söhne weiter vom Schlosse entfernt, als die Zweige des Baumes sich erstreckten, die Schwester noch weniger; sie waren glückliche Kinder in der Kindheit Heim, in der Kindheit Land, im herrlichen, duftenden Baume der Sonne. Wie alle Kinder hörten sie gerne erzählen, und der Vater erzählte ihnen vieles, was andere Kinder nicht verstanden haben würden, aber diese Kinder waren so klug wie bei uns die alten Menschen es sind. Er erklärte ihnen, was sie als lebende Bilder an den Wänden des Schlosses sahen, der Menschen Tun und der Begebenheiten Gang in allen Ländern der Erde, und oft wünschten die Söhne, mit dort draußen zu sein und an all den Heldentaten teilzunehmen. Da sagte ihnen der Vater, daß es schwer und bitter sei, in der Welt zu leben, sie wäre nicht ganz so licht, wie sie es von ihrer herrlichen Kinderwelt aus sähen. Er sprach zu ihnen von dem Schönen, dem Wahren und dem Guten, sagte ihnen, daß diese drei Dinge die Welt zusammenhielten, und unter dem Druck, den sie erlitten, entstünde ein Edelstein, klarer als der Diamanten Wasser; sein Glanz habe Wert sogar vor Gott, alles überstrahle er, und er sei es, den man ``den Stein der Weisen'' nenne. Er sagte ihnen, daß man, eben wie man durch das Erschaffene zu der Erkenntnis Gottes, so durch die Menschen selbst zur Erkenntnis gelange, daß ein solcher Edelstein sich finden müsse. Mehr konnte er darüber nicht sagen, mehr wußte er nicht. Diese Erzählung wäre nun für andere Kinder schwer zu begreifen gewesen, aber diese Kinder verstanden sie, und später wird das Verständnis wohl auch für die anderen kommen.

Sie befragten den Vater nach dem Schönen, Wahren und Guten, und er erklärte es ihnen; vieles sagte er ihnen, sagte ihnen auch, daß Gott, als er den Menschen aus Erde erschuf, seinem Geschöpfe fünf Küsse, Feuerküsse, Herzensküsse, innige Gottesküsse gab, und diese gaben ihm das, was wir jetzt die fünf Sinne nennen. Durch sie wird das Schöne, Wahre und Gute sichtbar, fühlbar und erkennbar, durch sie wird es geschätzt, beschirmt und gefördert.

Darüber dachten die Kinder nun viel nach, Tag und Nacht beschäftigte es ihre Gedanken; da träumte der älteste der Brüder einen herrlichen Traum, und seltsam genug, der zweite Bruder träumte ihn auch, und der dritte träumte ihn und der vierte. Jeder von ihnen träumte ein und dasselbe. Er träumte, daß er in die Welt zöge und den Stein der Weisen fände. Wie eine leuchtende Flamme erstrahlte er auf seiner Stirn, als er im Morgenschimmer auf seinem pfeilschnellen Roß zurück über die samtgrünen Wiesen im Garten der Heimat zu seinem väterlichen Schlosse ritt, und der Edelstein wärfe ein so himmlisches Licht, einen solchen Glanz über die Blätter des Buches, daß sichtbar wurde, was dort geschrieben stand über das Leben jenseits des Grabes. Die Schwester träumte nicht davon. In die weite Welt hinaus zu ziehen, kam ihr nicht in den Sinn, ihre Welt war ihres Vaters Haus.

``Ich reite in die weite Welt hinaus!'' sagte der Älteste; ``erproben muß ich doch einmal ihren Gang und mich zwischen den Menschen umhertummeln; nur das Gute und Wahre will ich, mit diesem werde ich das Schöne beschützen. Vieles soll anders werden, wenn ich mich seiner annehme!'' Ja, er dachte kühn und groß, wie wir alle es in unserer Ofenecke tun, ehe wir in die Welt hinauskommen und Regen und Sturm und Dornen zu fühlen bekommen.

Die fünf Sinne waren innerlich und äußerlich, bei ihm wie auch bei den anderen Brüdern, außergewöhnlich fein entwickelt, aber jeder von ihnen hatte in Sonderheit einen Sinn, der in Stärke und Entwicklung die anderen weit übertraf. Bei dem Ältesten war es das Gesicht, das ihm besonders zugute kommen sollte. Er hatte Augen für alle Zeiten, sagte er selbst, Augen für alle Völkerschaften, Augen, die bis unter die Erde hinab, wo die Schätze lagen, und bis in die tiefste Tiefe der Menschenbrust sehen konnten, als sei nur eine gläserne Scheibe darüber --- das heißt, er sah mehr, als wir beim Erröten und Erbleichen der Wange, im Lächeln und Weinen des Auges sehen können. --- Hirsch und Antilope begleiteten ihn bis an die Grenze nach Westen, dort kamen wilde Schwäne, die nach Nordwesten flogen, und ihnen folgte er. Nun war er in der weiten Welt, fern dem Lande des Vaters, das sich ``gegen Osten am Ende der Welt'' erstreckte.

Hei, wie er die Augen aufriß. Da gab es vieles zu sehen; es ist immer etwas anderes, die Orte und Dinge selbst zu sehen, als sie in Bildern zu erfassen, mögen diese auch noch so gut sein, und sie waren außergewöhnlich gut, die Bilder daheim in seines Vaters Schloß. Er war nahe daran, gleich im ersten Augenblick beide Augen vor Verwunderung über all das Gerümpel, den Fastnachtsaufputz, der als das Schöne hingestellt wurde, zu verlieren, aber er verlor sie nicht, er hatte eine andere Bestimmung für sie.

Gründlich und ehrlich wollte er bei der Erkenntnis des Schönen, des Wahren und des Guten zu Werke gehen; aber wie stand es damit? Er sah, wie oft das Häßliche die Krone errang, wo das Schöne sie verdiente, wie das Gute nicht bemerkt wurde und die Mittelmäßigkeit an seiner Stelle die Bewunderung einheimste. Die Leute sahen wohl die Verpackung, aber nicht den Inhalt, sahen das Kleid, aber nicht den Mann, sahen den Ruf, aber nicht die Berufung. Aber das ist einmal so.

``Da werde ich wohl tüchtig zupacken müssen!'' dachte er, und er packte zu. Aber während er das Wahre suchte, kam der Teufel, der Vater der Lüge und die Lüge selbst. Gern hätte er dem Seher gleich beide Augen ausgeschlagen, aber das wäre zu grob gewesen; der Teufel geht feiner zu Werke. Er ließ ihn das Wahre suchen und das Gute zugleich, aber während er sich danach umblickte, blies ihm der Teufel einen Splitter ins Auge, ja in beide Augen, einen Splitter nach dem anderen; das ist nicht gut für das Gesicht, selbst nicht für das beste Gesicht. Dann blies der Teufel die Splitter auf, bis sie zu einem Balken wurden, da war es mit den Augen vorbei, und der Seher stand gleich einem blinden Manne mitten in der weiten Welt und traute ihr nicht mehr. Er gab seine gute Meinung über sie und sich selbst auf, und wenn man beides, die Welt und sich selbst aufgibt, ja, dann ist es wirklich mit einem vorbei.

``Vorbeil'' sagten die wilden Schwäne, die über das Meer hin nach Osten zu flogen; ``Vorbeil'' sangen die Schwalben, die gen Osten zum Baume der Sonne flogen, und das waren keine guten Nachrichten für die daheim.

``Wohl ist es dem Seher übel ergangen!'' sagte der zweite Bruder, ``doch kann es dem Hörer besser ergehen'' Der Gehörsinn war es, der bei ihm besonders geschärft war, er konnte das Gras wachsen hören, so weit hatte er es gebracht.

Herzlich nahm er Abschied und ritt von dannen mit guten Gaben und guten Vorsätzen. Die Schwalben begleiteten ihn, und er folgte den Schwänen, und dann war er fern von der Heimat draußen in der weiten Welt.

Man kann auch des guten zuviel bekommen; diese Wahrheit mußte er bald erfahren. Das Gehör war bei ihm zu stark, er hörte ja das Gras wachsen, und deshalb hörte er auch jedes Menschenherz in Freude und Schmerz schlagen; zuletzt war ihm, als sei die ganze Welt eine große Uhrmacherwerkstatt, wo alle Uhren gingen ``Tik tik'' und alle Turmuhren schlugen ``Kling, klang!'' nein, das war nicht auszuhalten! Aber er hielt die Ohren steif, so lange er konnte. Doch zuletzt wurde all der Lärm und das Geschrei zuviel für einen einzigen Menschen. Da gab es Straßenjungen bis zu sechzig Jahren, das Alter tut es ja nicht immer; sie schrien und lärmten, darüber konnte man noch lachen, aber dann kamen Klatsch und Tratsch, die durch alle Häuser, Gäßchen und Straßen bis auf die Landstraßen hinaus zischelten; die Lüge hatte die lauteste Stimme und spielte den Herrn, die Narrenschelle klingelte und sagte, daß sie die Kirchenglocke sei, da wurde es dem Hörer zu bunt, er steckte die Finger in beide Ohren, --- aber noch immer hörte er falschen Gesang und bösen Klang. Klatsch und Tratsch; zäh festgehaltene Behauptungen, die nicht einen sauren Hering wert waren, schwirrten über die Zungen, daß sie ordentlich knickten und knackten vor lauter Eifer. Da waren Leute und Geräusche, Lärm und donnernder Spektakel, innerlich und äußerlich, bewahre das war ja nicht zum Aushalten, es war gar zu toll! Er steckte die Finger tiefer in seine beiden Ohren und noch tiefer, da sprang ihm das Trommelfell. Nun hörte er gar nichts mehr, auch nicht das Schöne, Wahre und Gute, zu dem ihm das Gehör eine Brücke hatte sein sollen. Er wurde mißtrauisch und still, traute niemandem, traute sich selbst zuletzt nicht mehr, und das machte ihn sehr unglücklich; er wollte nicht mehr den mächtigen Edelstein finden und mit heimbringen, er gab das Suchen danach auf, und sich selbst gab er auch auf, das war das Allerschlimmste. Die Vögel, die nach Osten flogen, brachten die Botschaft davon mit, bis sie auch das Schloß des Vaters im Baume der Sonne erreichte. Ein Brief kam nicht, es ging ja auch keine Post dorthin.

``Nun will ich es versuchen!'' sagte der Dritte, ``ich habe eine feine Nase!'' Das war nun nicht gerade fein gesagt, aber es war seine Art, und man muß ihn hinnehmen, wie er war. Er war die Verkörperung der guten Laune und dazu ein Dichter, ein wirklicher Dichter; er konnte singen, was er nicht zu sagen vermochte. Seine Auffassungsgabe überstieg die der anderen an Schnelligkeit bei weitem. ``Ich rieche Lunte'' sagte er wohl bei Gelegenheit, und es war der Geruchssinn, der bei ihm in hohem Grade entwickelt war und ihm ein großes Gebiet im Reiche des Schönen zusicherte. ``Einer liebt den Äpfelduft und einer den Stallduft!'' sagte er. ``Jedes Duftgebiet im Reiche des Schönen hat sein Publikum. Manche fühlen sich heimisch in der Kneipenluft beim Qualm des Talglichtdochtes, wo der Schnapsgestank sich mit schlechtem Tabaksrauch vermengt, andere sitzen lieber im schwülen Jasminduft oder reiben sich mit starkem Nelkenöl ein. Einige suchen die frische Seebrise auf, andere wieder steigen zu den hohen Bergesgipfeln hinauf und betrachten von oben das geschäftige Leben und Treiben der anderen!'' Ja, so sagte er. Es war fast, als sei er schon früher in der Welt draußen gewesen, hätte mit den Menschen gelebt und sie erkannt, aber diese Weisheit kam aus ihm selbst, es war die dichterische Gabe in ihm, die ihm der liebe Gott als Geschenk in die Wiege gelegt hatte.

Nun sagte er dem väterlichen Heim im Baume Lebewohl und ging durch des Baumes Herrlichkeit. Draußen setzte er sich auf den Strauß, der geschwinder läuft als das Pferd, und als er später die wilden Schwäne sah, schwang er sich auf den Rücken des stärksten. Er liebte die Veränderung, und so flog er über das Meer in fremde Länder mit großen Wäldern, tiefen Seen, mächtigen Bergen und stolzen Städten, und wohin er kam war es, als ginge ein Sonnenschein über das Land. Jede Blume, jeder Strauch duftete stärker in der Empfindung, daß ihm ein Freund, ein Beschützer nahe, der ihn zu schätzen wußte und ihn verstand, ja, der verkrüppelte Rosenstrauch erhob seine Zweige, entfaltete seine Blätter und trug die lieblichste Rose; jeder konnte sie sehen, selbst die schwarze, nasse Waldschnecke bemerkte ihre Schönheit.

``Ich will der Blume mein Zeichen aufprägen!'' sagte die Schnecke, ``nun habe ich sie bespuckt, mehr kann ich nicht tun.''

``So geht es mit dem Schönen in der Welt'' sagte der Dichter, und er sang ein Lied davon, sang es auf seine Weise, aber niemand hörte darauf. Deshalb gab er dem Trommelschläger zwei Schillinge und eine Pfauenfeder; da setzte er das Lied für die Trommel um und trommelte es in der Stadt in allen Straßen und Gassen aus. Nun hörten es die Leute und sagten, sie verstünden es, es sei so tief! Und nun konnte der Dichter mehr Lieder singen, und er sang von dem Schönen, dem Wahren und dem Guten, und es wurde in der Kneipe gehört, wo das Talglicht qualmte, es wurde auf der frischen Kleewiese im Walde und auf offener See gehört. Es ließ sich an, als habe dieser Bruder mehr Glück, als die beiden anderen es gehabt hatten. Aber das war dem Teufel nicht recht. Gleich kam er daher mit allen Arten der Beweihräucherung, die sich auf der Welt finden und auf deren Bereitung sich der Teufel so vorzüglich versteht. Den allerstärksten Weihrauch schleppte er herbei, der alles andere erstickt und selbst einen Engel konfus machen kann, geschweige denn einen armen Dichter. Der Teufel weiß recht gut, wie er seine Leute zu nehmen hat. Den Dichter nahm er mit Weihrauch, so daß er ganz aus dem Häuschen war, und seine Sendung, sein Vaterhaus --- alles, sogar sich selbst vergaß. Er ging völlig auf in all dem Räucherwerk.

Alle Vögelchen trauerten, als sie es hörten, und sangen drei Tage lang nicht. Die schwarze Waldschnecke wurde noch schwärzer, aber nicht vor Trauer, sondern vor Neid. ``Ich bin es,'' sagte sie, ``die beräuchert werden sollte, denn ich war es, die ihm die Idee zu seinem berühmtesten Lied, der Gang der Welt, das für die Trommel gesetzt wurde, gab. Ich war es, die auf die Rose spuckte, dafür kann ich Zeugen bringen!''

Aber daheim in Indien verlautete nichts davon. Alle Vögelchen trauerten ja und schwiegen drei Tage lang, und als die Trauerzeit um war, ja, da war die Trauer so stark gewesen, daß sie vergessen hatten, um was sie trauerten. So geht es.

``Nun muß ich wohl auch in die Welt hinaus und fortbleiben wie die anderen'' sagte der vierte Bruder. Er hatte eine ebenso sonnige Laune wie der vorhergehende Bruder, aber er war kein Dichter, und so hatte er allen Grund zu guter Laune. Die beiden hatten Fröhlichkeit ins Schloß gebracht. Nun ging die letzte Munterkeit mit ihm hinaus. Das Gesicht und das Gehör sind stets von den Menschen als die wichtigsten Sinne angesehen worden, die man sich besonders stark und scharf wünscht, die drei anderen Sinne werden für minder wesentlich gehalten. Doch das war durchaus nicht die Meinung dieses Sohnes, denn er hatte einen besonders entwickelten Geschmack, und zwar in jeder Richtung, in der dieser Begriff aufgefaßt werden kann, und dieser hat gewaltige Macht und große Herrschermöglichkeiten, er regiert über alles, was durch den Mund und Geist geht. Deshalb kostete der vierte Bruder an allem in Pfannen und Töpfen, in Flaschen und Schüsseln. Das wäre das Grobe in seinem Berufe, sagte er; jedes Menschen Stirn wäre für ihn eine Pfanne, in der es koche, jedes Land eine ungeheure Küche, geistig genommen; das wäre das Feine und nun wolle er hinaus und das Feine erproben.

``Vielleicht will mir das Glück besser, als meinen Brüdern!'' sagte er. ``Ich reise nun; aber welches Beförderungsmittel soll ich wählen? Sind die Luftballons schon entdeckt?'' fragte er seinen Vater, der ja von allen Erfindungen wußte, die gemacht waren oder gemacht werden würden. Aber der Luftballon war noch nicht entdeckt, auch nicht die Dampfschiffe und Eisenbahnen. ``Ja, dann werde ich doch einen Luftballon nehmen!'' sagte er. ``Mein Vater weiß, wie sie gemacht und gelenkt werden müssen, und ich lerne es. Niemand kennt die Erfindung und so werden sie glauben, es sei ein Trugbild. Wenn ich den Ballon benutzt habe, verbrenne ich ihn, wozu Du mir noch ein paar von der zukünftigen Erfindung mitgeben mußt, die `chemische Schwefelhölzer' genannt wird.''

Dies alles bekam er, und dann flog er davon. Die Vögel folgten ihm länger, als sie den anderen gefolgt waren, denn sie wollten doch gern sehen, wie dieser Flug ablief. Immer mehr kamen herbei, alle waren neugierig und glaubten, es sei ein neuer Vogel, der dort flöge. Ja, er bekam ein stattliches Gefolge. Die Luft wurde schwarz von Vogelscharen, sie flogen einher wie eine große Wolke, wie die Heuschreckenschwärme über Ägypten, und dann war er in der weiten Welt draußen.

``Ich habe einen guten Freund und Gehülfen an dem Ostwind gehabt!'' sagte er.

``Ostwind und Westwind, meinst Du wohl'' sagten die Winde. ``Wir sind zu zweit gewesen, um uns abzulösen, sonst wärest Du nicht nach Nordwesten gekommen.''

Aber er hörte nicht, was die Winde sagten, und das war ja auch gleichgültig. Die Vögel kamen nun auch nicht länger mit. Als das Gefolge am größten geworden war, wurde einigen die Fahrt über, und sie sagten, es würde zuviel aus der Sache gemacht, sie würde noch ganz eingebildet werden. ``Es lohnt das Hinterherfliegen nicht, es ist im Grunde gar nichts, jedenfalls nicht der Rede wert.'' Dann blieben sie zurück, und das blieben nach und nach die anderen auch. Das Ganze war ja nichts.

Der Luftballon ging über einer der größten Städte nieder und der Luftschiffer setzte sich an den höchsten Platz, das war der Kirchturm. Der Ballon stieg wieder himmelwärts, was er nicht sollte. Wo er geblieben ist, ist nicht gut zu sagen, aber das war auch gleich, denn er war ja noch nicht erfunden.

Da saß er nun oben auf dem Kirchturm. Die Vögel flogen nicht zu ihm heran, denn sie hatten es über mit ihm und er mit ihnen ebenfalls. Alle Schornsteine in der Stadt rauchten und dufteten.

``Es sind Altäre, die für Dich errichtet sind'' sagte der Wind, der ihm etwas Angenehmes sagen wollte.

Keck saß er dort oben und sah auf die Leute in den Straßen hinab; der eine war stolz auf seinen Geldbeutel, der andere auf seinen Schlüssel, obgleich er nichts aufzuschließen hatte. Einer war stolz auf seinen Rock, in dem die Motten saßen, ein anderer auf seinen Leib, an dem schon die Würmer nagten.

``Eitelkeit, ja, ich muß wohl bald hinunter und den Topf anrühren und kosten!'' sagte er. ``Aber hier will ich noch ein wenig sitzen bleiben, der Wind kitzelt mir so herrlich den Rücken, mir ist richtig behaglich zumute. Ich bleibe hier so lange sitzen, wie der Wind bläst. Ich will ein wenig Ruhe haben. Es ist gut, am Morgen lange liegen zu bleiben, wenn man viel zu tun hat, sagt der Faule. Aber Faulheit ist die Wurzel alles Übels, und Übles gibt es in unserer Familie nicht. Das sage ich und das sagt wohl jeder Sohn. Ich bleibe sitzen, solange dieser Wind bläst, es schmeckt mir.''

Und er blieb sitzen; aber er saß auf des Turmes Wetterhahn, der drehte und drehte sich mit ihm, sodaß er glaubte, es sei noch immer derselbe Wind. Also blieb er sitzen, und da konnte er lange sitzen und schmecken!

Aber im Lande Indien auf dem Baum der Sonne war es leer und stille geworden, als die Brüder einer nach dem anderen fortgezogen waren.

``Es geht ihnen nicht gut'' sagte der Vater; ``nie werden sie den leuchtenden Edelstein heimbringen, er wird für mich nie gefunden, und sie sind fort, tot.'' Und er beugte sich über das Buch der Wahrheit, starrte auf das Blatt, wo er über das Leben nach dem Tode lesen sollte, aber dort war für ihn nichts zu sehen und zu erfahren.

Die blinde Tochter war sein Trost und seine Freude; so innig und liebevoll schloß sie sich ihm an; denn seine Freude und sein Glück wünschte sie, das köstliche Juwel mußte gefunden und heimgebracht werden. In Trauer und Sehnsucht gedachte sie der Brüder. Wo waren sie? Wo lebten sie? Von ganzem Herzen wünschte sie sich, von ihnen zu träumen, aber wunderlich genug, selbst im Traume konnte sie ihnen nicht begegnen. Endlich träumte ihr eines Nachts, daß ihre Stimmen bis zu ihr herüber klängen, sie riefen ihr zu, flehten zu ihr aus der weiten Welt, und sie mußte hinaus, weit fort, und doch schien es ihr, als sei sie noch in ihres Vaters Hause. Die Brüder traf sie nicht, aber in ihrer Hand fühlte sie es wie Feuer brennen, doch es schmerzte nicht; sie hielt den leuchtenden Edelstein und brachte ihn ihrem Vater. Als sie erwachte, glaubte sie einen Augenblick lang daß sie ihn noch hielte; es war ihr Rocken, den ihre Hand krampfhaft umklammerte. In den langen Nächten hatte sie unablässig gesponnen; der Faden auf ihrer Spindel war feiner, als das Gewebe der Spinne, Menschenaugen hätten den einzelnen Faden überhaupt nicht entdecken können. Sie hatte ihn mit ihren Tränen genetzt, und er war stark wie ein Ankertau. Sie erhob sich, ihr Entschluß war gefaßt, der Traum mußte zur Wahrheit werden. Es war Nacht, ihr Vater schlief, sie küßte seine Hand, nahm ihre Spindel und band das Ende des Fadens am Hause ihres Vaters fest, sonst würde sie ja, die Blinde, niemals wieder heimfinden. An den Faden wollte sie sich halten, auf ihn verließ sie sich, nicht auf sich selbst und andere. Sie pflückte vier Blätter vom Baume der Sonne, die wollte sie mit Wind und Wetter gehen lassen, damit sie zu den Brüdern als Brief und Gruß gelangten, wenn es geschehen sollte, daß sie sie draußen in der weiten Welt nicht fand. Wie würde es ihr wohl dort ergehen, dem armen blinden Kind! Doch sie hatte den unsichtbaren Faden, an dem sie sich halten konnte; weit war sie allen den anderen voraus, denn sie nannte eine Gabe ihr eigen: das Gefühl, und durch dieses hatte sie gleichsam Augen in jeder Fingerspitze und Ohren im Herzen.

So ging sie hinaus in die laute, lärmende, wunderliche Welt, und wohin sie kam, wurde der Himmel sonnenklar, sie konnte die warmen Strahlen empfinden, der Regenbogen spannte sich aus der schwarzen Wolke über die blaue Luft, sie hörte der Vögel Gesang, spürte den Duft der Orangen- und Äpfelgärten so stark, daß sie fast glaubte, ihn zu schmecken. Weiche Töne und lieblicher Gesang erreichten sie, doch auch Heulen und Schreien; seltsam im Streit miteinander standen Gedanken und Urteil. Tief in ihrem Herzen klangen die Herzens- und Gedankenstimmen der Menschenbrust wieder; es erbrauste im Chor:

\AMquote{
        ``Nur Sturm ist unser Erdenlos, \\
        eine Nacht, darin wir weinen.''
}

Aber es ertönte auch der Gesang:

\AMquote{
        ``Unser Leben ist die lieblichste Ros' \\
        Und Freudensonnen uns scheinen.''
}

Und klang es bitter:

\AMquote{
        ``Ein jeder denket nur an sich, \\
        Auf den Nutzen geht alles Streben.''
}

So lautete es als Antwort:

\AMquote{
        ``Ein Strom der Liebe geht inniglich \\
        Durch unser Erdenleben.''
}

Wohl hörte sie die Worte:

\AMquote{
        ``Das Ganze ist so klein und dumm, \\
        Man kehr einmal die Dinge um.''
}

Aber sie hörte auch:

\AMquote{
        ``Soviele Taten sind groß und gut \\
        In der Welt man nichts davon wissen tut.''
}

und klang es ringsum in brausendem Chor:

\AMquote{
        ``Schab Rübchen nur, lach alles aus, \\
        Bell mit, wenn Hunde bellen!''
}

so erklang es in des blinden Mädchens Herzen:

\AMquote{
        ``Vertrau auf Gott in Nacht und Graus \\
        Stets rinnen seine Quellen''
}

Und wo sie im Kreise von Männern und Frauen, bei Alten und Jungen erschien, da leuchtete in den Seelen die Erkenntnis des Wahren, Guten und Schönen auf; wohin sie kam, in des Künstlers Werkstätte, in den reichen Festsaal oder in die Fabrik zwischen die schnurrenden Räder, war es, als ob ein Sonnenstrahl leuchte, eine Seite erklänge, eine Blume dufte oder ein erquickender Tautropfen auf ein verschmachtendes Blatt fiele.

Aber darin konnte sich der Teufel nicht finden. Er hatte mehr Verstand als zehntausend Männer, und so wußte er sich zu helfen. Er ging in den Sumpf, nahm die aus dem fauligen Wasser aufsteigenden Blasen, ließ das siebenfache Echo des Lügenwortes über sie hinschallen, um sie kräftiger zu machen. Er pulverisierte bezahlte Ehrenverse und lügenhafte Leichenpredigten, so viele sich nur finden ließen, kochte sie in Tränen, die der Neid geweint hatte, streute oben etwas Schminke darauf, die von einer vergilbten Jungfernwange gekratzt war, und schuf hieraus eine Mädchengestalt, die in Bewegung und Aussehen der des segensreichen blinden Mädchens glich. ``Den milden Engel des Gefühls'' nannten sie die Menschen, und so darauf legte der Teufel sein Spiel an. Die Welt wußte nicht, wer von den beiden die Richtige war, und woher sollte die Welt das auch wissen.

\AMquote{
        ``Vertrau auf Gott in Nacht und Graus, \\
        Stets rinnen seine Quellen.''
}

Sang das blinde Mädchen in vollem Glauben. Die vier grünen Blätter vom Baume der Sonne hatte sie Wind und Wetter übergeben, um sie als Brief und Gruß an ihre Brüder gelangen zu lassen, und sie war dessen ganz sicher, daß ihr Wunsch sich erfüllen würde, ja, und auch das Juwel würde sich finden, das alle irdische Herrlichkeit überstrahlte; von der Menschheit Stirn würde es bis zu ihres Vaters Haus leuchten.

``Bis zu meines Vaters Hause'' wiederholte sie, ``ja, auf der Erde ist des Edelsteines Stätte, und mehr als die Überzeugung davon bringe ich mit. Ich spüre bereite seine Glut, stärker und stärker schwillt sie in meiner geschlossenen Hand. Jedes Wahrheitskörnchen, so fein, daß der scharfe Wind es tragen und mit sich fahren konnte, fing ich auf und bewahrte es. Ich ließ es vom Dufte alles Schönen durchdringen, und es gibt in der Welt soviel davon, selbst für Blinde. Ich nahm den Klang vom Herzschlage guter Menschen und legte ihn dazu. Staubkörnchen sind alles, was ich bringe, aber doch der Staub jenes Edelsteines in reicher Fülle, meine ganze Hand ist voll davon'' und sie streckte sie aus --- dem Vater entgegen. Sie war in der Heimat; mit der Schnelle des Gedankenfluges hatte sie sie erreicht, während sie den unsichtbaren Faden nach ihres Vaters Hause nicht fahren ließ.

Die bösen Mächte fuhren mit Orkangewalt über der Sonne Baum hin, drangen mit einem Windstoß durch die offene Tür in die verborgene Schatzkammer ein.

``Der Wind weht es fort'' rief der Vater und griff um die Hand, die sie geöffnet hatte.

``Nein'' rief sie mit gläubigem Bewußtsein. ``Es kann nicht verwehen. Ich fühle wie sein Strahl tief innen meine Seele wärmt.''

Und der Vater erschaute eine leuchtende Flamme, als der Staub aus ihrer Hand über die weißen Blätter des Buches wehte, die von der Gewißheit des ewigen Lebens Kunde geben sollten; in blendendem Glanze stand dort eine Schrift, ein einziges sichtbares Wort nur, das eine Wort:

\AMquote{
        GLAUBE.
}

Und bei ihnen waren wieder die vier Brüder; Sehnsucht nach der Heimat hatte sie ergriffen und geführt, als das grüne Blatt auf ihre Brust gefallen war. Sie waren gekommen, und die Zugvögel folgten ihnen und der Hirsch, die Antilope und alle Tiere des Waldes. Sie wollten auch teilnehmen an der Freude, und weshalb sollten es die Tiere nicht, wenn sie es fühlen konnten.

Wie eine leuchtende Staubsäule sich vor unseren Augen dreht, wenn durch ein Löchlein in der Tür ein Sonnenstrahl in die staubige Stube fällt, nur schöner --- denn selbst der Regenbogen ist zu schwer und nicht leuchtend genug an Farbe gegen den Anblick, der sich hier zeigte --- erhob sich aus den Blättern des Buches von dem leuchtenden Worte ``Glauben'' jedes Wahrheitskörnchen mit dem Glanze des Schönen, mit dem Klange des Guten; stärker erstratalte es, als die Feuersäule, die in der Nacht, als Moses mit dem Volke Israel nach dem Lande Canaan zog, geleuchtet hatte. Vom Worte Glauben führte der Hoffnung Brücke hinüber zur Alliebe Gottes in die Unendlichlkeit.

Die wilden Schwäne

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Extended content
\AMsection{Die wilden Schwäne}

Weit von hier, da, wohin die Schwalben fliegen, wenn wir Winter haben, wohnte ein König, der elf Söhne und eine Tochter, Elisa, hatte. Die elf Brüder waren Prinzen, sie gingen mit dem Stern auf der Brust und dem Säbel an der Seite in die Schule; sie schrieben mit Diamantgriffeln auf Goldtafeln und lernten ebenso gut auswendig, als sie lasen; man konnte sogleich hören, daß sie Prinzen waren. Die Schwester Elisa saß auf einem kleinen Schemel von Spiegelglas und hatte ein Bilderbuch, welches für das halbe Königreich erkauft war.

O, die Kinder hatten es gut, aber so sollte es nicht immer bleiben!

Ihr Vater, der König über das ganze Land war, verheiratete sich mit einer bösen Königin, die den Kindern gar nicht gut war. Schon am ersten Tage konnten sie es recht gut merken; in dem ganzen Schlosse war große Pracht, und da spielten die Kinder ``Besuch''; aber anstatt sie sonst all' den Kuchen und die gebratenen Äpfel erhielten, die nur zu haben waren, gab die neue Königin ihnen nur Sand in einer Theetasse, und sagte, sie könnten thun, als ob es etwas wäre.

Die Woche darauf brachte sie die kleine Elisa auf das Land zu einem Bauernpaar, und lange währte es nicht, da redete sie dem König so viel von den Prinzen vor, daß er sich gar nicht um sie bekümmerte.

``Fliegt hinaus in die Welt und helft Euch selbst!'' sagte die böse Königin; ``fliegt als große Vögel ohne Stimme!'' Aber sie konnte es doch nicht so schlimm machen, wie sie gern wollte; sie wurden elf herrliche Schwäne. Mit einem sonderbaren Schrei flogen sie aus den Schloßfenstern hinaus über den Park und den Wald dahin.

Es war noch ganz früh am Morgen, als sie da vorbei kamen, wo die Schwester Elisa in der Stube des Landmanns lag und schlief; hier schwebten sie über dem Dache, drehten ihre langen Hälse und schlugen mit den Flügeln, aber niemand hörte oder sah es. Sie mußten wieder weiter, hoch gegen die Wolken empor, hinaus in die weite Welt; da flogen sie nach einem großen Wald, der sich gerade bis an den Strand des Meeres erstreckte.

Die kleine Elisa stand in der Stube des Landmanns und spielte mit einem grünen Blatte, anderes Spielzeug hatte sie nicht; sie stach ein Loch in das grüne Blatt, sah da hindurch gegen die Sonne empor, und da war es gerade, als sähe sie ihrer Brüder klare Augen, und jedesmal, wenn die warmen Sonnenstrahlen auf ihre Wangen schienen, gedachte sie aller ihrer Küsse.

Der eine Tag verging ebenso wie der andere. Strich der Wind durch die großen Rosenhecken draußen vor dem Hause, so flüsterte er den Rosen zu: ``Wer kann schöner sein, als ihr?'' Aber die Rosen schüttelten das Haupt und sagten: ``Elisa ist es!'' Wenn die alte Frau am Sonntag an der Thür saß und in ihrem Gesangbuch las, so wendete der Wind die Blätter um und sagte zum Buch: ``Wer kann frömmer sein, als Du?'' --- ``Elisa ist es!'' sagte das Gesangbuch, und das war die reine Wahrheit, was die Rosen und das Gesangbuch sagten.

Als sie fünfzehn Jahre alt war, sollte sie nach Hause kommen; da aber die Königin sah, wie schön sie war, wurde sie ihr gram und voll Haß und hätte gern auch sie in einen wilden Schwan verwandelt, wie die Brüder, aber das wagte sie nicht sogleich, weil ja der König seine Tochter sehen wollte.

Früh des Morgens ging die Königin in das Bad, welches von Marmor erbaut und mit weichen Kissen und den prächtigsten Decken geschmückt war, nahm drei Kröten, küßte sie und sagte zu der einen: ``Setze Dich auf Elisas Kopf, wenn sie in das Bad kommt, damit sie dumm wird wie Du! --- Setze Dich auf ihre Stirn,'' sagte sie zur andern, ``damit sie häßlich wird, wie Du, sodaß ihr Vater sie nicht kennt! --- Ruhe an ihrem Herzen,'' flüsterte sie der dritten zu, ``laß sie einen bösen Sinn erhalten, damit sie Schmerzen davon habe!'' Dann setzte sie die Kröten in das klare Wasser, welches sogleich eine grüne Farbe erhielt, rief Elisa, zog sie aus und ließ sie in das Wasser hinab steigen, und indem sie untertauchte, setzte sich eine Kröte ihr in das Haar, die andere auf ihre Stirn, und die dritte auf die Brust; aber Elisa schien es gar nicht zu merken; sobald sie ich emporrichtete, da schwammen drei rote Mohnblumen auf dem Wasser. Wären die Tiere nicht giftig gewesen und von der Hexe geküßt worden, so wären sie in rote Rosen verwandelt worden, aber Blumen wurden sie doch, weil sie auf ihrem Haupte und an ihrem Herzen geruht hatten; sie war zu fromm und unschuldig, als daß die Zauberei Macht über sie haben konnte.

Als die böse Königin das sah, rieb sie das Mädchen mit Walnußsaft, sodaß sie ganz schwarzbraun wurde, bestrich das hübsche Antlitz mit einer stinkenden Salbe und ließ das herrliche Haar sich verwirren; es war unmöglich, die schöne Elisa wieder zu erkennen.

Daher erschrak ihr Vater sehr, als er sie erblickte und sagte, es sei nicht seine Tochter; niemand wollte sie wiedererkennen, außer dem Kettenhunde und den Schwalben, aber das waren arme Tiere, die nichts zu sagen hatten.

Da weinte die arme Elisa und dachte an ihre elf Brüder, die alle weg waren. Betrübt verließ sie das Schloß und ging den ganzen Tag über Feld und Moor bis in den großen Wald hinein. Sie wußte gar nicht, wohin sie wollte, aber sie fühlte sich sehr betrübt und sehnte sich nach ihren Brüdern, die sicher auch, gleich ihr, in die Welt hinaus gejagt waren, diese wollte sie suchen und finden.

Nur kurze Zeit war sie im Walde gewesen, als die Nacht einbrach; sie war ganz von Weg und Steg gekommen. Da legte sie sich auf das weiche Moos nieder, betete ihr Abendgebet und lehnte ihr Haupt an einen Baumstumpf. Es war da ganz still, die Luft war mild und rings umher im Grase und im Moose leuchteten, einem grünen Feuer gleich, viele hundert Johanniswürmchen; als sie einen der Zweige mit der Hand berührte, fielen die leuchtenden Insekten wie Sternschnuppen zu ihr nieder.

Die ganze Nacht träumte sie von ihren Brüdern; sie spielten wieder als Kinder, schrieben mit dem Diamantgriffel auf die Goldtafeln und betrachteten das herrliche Bilderbuch, welches das halbe Reich gekostet hatte, aber auf die Tafel schrieben sie nicht wie früher Nullen und Striche, sondern die mutigen Thaten, die sie vollführt, alles, was sie erlebt und gesehen hatten; und im Bilderbuch war alles lebendig, die Vögel sangen und die Menschen gingen aus dem Buch heraus und sprachen mit Elisa und ihren Brüdern, aber wenn sie das Blatt umwandte, sprangen sie sogleich wieder hinein, damit keine Verwirrung in den Bildern entstehen möchte.

Als sie erwachte, stand die Sonne schon hoch; Elisa konnte sie freilich nicht sehen, die hohen Bäume breiteten ihre Zweige dicht und fest aus, aber die Strahlen spielten dort oben gerade wie ein wehender Goldflor. Da war ein Duft von dem Grünen, und die Vögel setzten sich fast auf ihre Schultern. Sie hörte das Wasser plätschern, das waren Quellen, die alle in einen See fielen, in dem der herrlichste Sandboden war; freilich wuchsen hier dichte Büsche rings herum, aber an einer Stelle hatten die Hirsche eine große Öffnung gemacht, und hier ging Elisa zum Wasser hin. Das war so klar, daß, hätte der Wind nicht die Zweige und die Büsche berührt, sodaß sie sich bewegten, sie hätte glauben müssen, daß sie auf dem Boden abgemalt seien, so deutlich spiegelte sich jedes Blatt, sowohl das von der Sonne beschienene, als das, welches im Schatten war.

Sobald sie ihr eigenes Antlitz erblickte, erschrak sie gewaltig, so braun und häßlich war es; doch als sie ihre kleine Hand benetzte und Augen und Stirn rieb, glänzte die weiße Haut wieder vor; da entkleidete sie sich und ging in das frische Wasser hinein; ein schöneres Königskind als sie war gab es nicht in dieser Welt.

Als sie wieder angekleidet war und ihr langes Haar geflochten hatte, ging sie zur sprudelnden Quelle, trank aus der hohlen Hand und wanderte tiefer in den Wald hinein, ohne selbst zu wissen, wohin. Sie dachte an ihre Brüder, dachte an den lieben Gott, der sie sicher nicht verlassen werde; er ließ ja die wilden Waldäpfel wachsen, um den Hungrigen zu sättigen; und er zeigte ihr einen solchen Baum, dessen Zweige sich unter der Last der Früchte beugten. Hier hielt sie ihre Mittagsmahlzeit, setzte Stützen unter dessen Zweige und ging dann in den dunkelsten Teil des Waldes hinein. Da war es so still, daß sie ihre eigenen Fußtritte hörte, wie jedes kleine, vertrocknete Blatt, welches sich unter ihrem Fuße bog; nicht ein Vogel war da zu sehen, nicht ein Sonnenstrahl konnte durch die großen, dichten Baumzweige dringen; die hohen Stämme standen so nahe beisammen, daß, wenn sie gerade aussah, ein Balkengitter sie zu umschließen schien. O, hier war eine Einsamkeit, wie sie solche früher noch nie gekannt!

Die Nacht wurde sehr dunkel; nicht ein einziger kleiner Johanniswurm leuchtete aus dem Moose; betrübt legte sie sich nieder, um zu schlafen; da schien es ihr, als ob die Baumzweige über ihr sich zur Seite bewegten und der liebe Gott mit milden Augen auf sie niederblickte, und kleine Engel sahen über seinen Kopf und unter seinen Armen hervor.

Als sie am Morgen erwachte, wußte sie nicht, ob sie geträumt habe, oder ob es wirklich so gewesen.

Sie ging einige Schritte vorwärts, da begegnete sie einer alten Frau mit Beeren in dem Korbe. Die Alte gab ihr einige davon. Elisa fragte, ob sie nicht elf Prinzen durch den Wald habe reiten sehen.

``Nein,'' sagte die Alte, ``aber ich sah gestern elf Schwäne mit goldenen Kronen auf dem Haupte in der Nähe schwimmen.''

Sie führte Elisa ein Stück weiter vor zu einem Abhange, an dessen Fuß sich ein kleiner Fluß schlängelte; die Bäume an seinen Ufern streckten ihre langen, blattreichen Zweige einander entgegen, und wo sie ihrem natürlichen Wuchse nach nicht zusammenreichen konnten, da hatten sie die Wurzeln aus der Erde losgerissen und hingen, mit den Zweigen in einander geflochten, über das Wasser hinaus.

Elisa sagte der Alten Lebewohl und ging längs dem Flusse hin, bis dieser in den großen, offenen Strand hinausfloß.

Das ganze herrliche Meer lag vor dem jungen Mädchen; aber nicht ein Segel zeigte sich darauf, nicht ein Boot war da zu sehen, wie sollte sie nun weiter fortkommen? Sie betrachtete die unzähligen, kleinen Steine am Ufer; das Wasser hatte sie alle rund geschliffen. Glas, Eisen, Steine, alles, was da zusammengespült lag, hatte die Gestalt des Wassers angenommen, welches doch viel weicher war, als ihre feine Hand. ``Das rollt unermüdlich fort, und so ebnet sich das Harte, ich will eben so unermüdlich sein; Dank für Eure Lehre, ihr kleinen, rollenden Wogen; einst, das sagt mir mein Herz, werdet Ihr mich zu meinen lieben Brüdern tragen!''

Auf dem angespülten Seegrase lagen elf weiße Schwanenfedern; sie sammelte dieselben, es lagen Wassertropfen darauf; ob es Thränen waren, konnte man nicht sehen. Einsam war es dort am Strande, aber sie fühlte es nicht; denn das Meer bot eine ewige Abwechselung dar, ja in wenigen Stunden mehr, als die süßen Landseen in einem ganzen Jahr aufweisen können. Kam da eine große, schwarze Wolke, so war es, als ob die See sagen wollte: ich kann auch finster aussehen, und dann blies der Wind, und die Wogen kehrten das Weiße nach außen; schienen aber die Wolken rot und schliefen die Winde, so war das Meer einem Rosenblatte gleich; bald wurde es grün, bald weiß, aber wie still es auch ruhte, am Ufer war doch eine leise Bewegung; das Wasser hob sich schwach, wie die Brust eines schlafenden Kindes.

Als die Sonne im Begriff war, unterzugehen, sah Elisa elf wilde Schwäne mit Goldkronen auf dem Kopfe dem Lande zufliegen, sie schwebten der eine hinter dem andern; es sah aus wie ein langes, weißes Band; da stieg Elisa den Abhang hinauf und verbarg sich hinter einem Busche; die Schwäne ließen sich nahe bei ihr nieder und schlugen mit ihren großen, weißen Schwingen.

Sowie die Sonne unter dem Wasser war, fielen plötzlich die Schwanenhäute und elf schöne Prinzen, Elisas Brüder, standen da. Sie stieß einen lauten Schrei aus; denn obwohl die Brüder sich sehr verändert hatten, so wußte Elisa doch, daß sie es waren, fühlte, daß sie es sein mußten; sie sprang in ihre Arme, nannte sie bei Namen, und die Brüder waren ganz glücklich, als sie ihre Schwester sahen und erkannten, die nun groß und schön war. Sie lachten und weinten, und bald hatten sie einander erzählt, wie grausam ihre Stiefmutter gegen sie alle gewesen war.

``Wir Brüder,'' sagte der Älteste, ``fliegen als wilde Schwäne, solange die Sonne am Himmel steht; sobald sie untergegangen ist, erhalten wir unsere menschliche Gestalt wieder; deshalb müssen wir immer dafür sorgen, daß wir beim Sonnenuntergang eine Ruhestätte für die Füße haben; denn fliegen wir dann gegen die Wolken an, so müssen wir, als Menschen, in die Tiefe hinunterstürzen. Hier wohnen wir nicht; es liegt ein eben so schönes Land, wie dieses, jenseits der See, aber der Weg dahin ist weit, wir müssen über das große Meer, und es findet sich keine Insel auf unserm Wege, wo wir übernachten können, nur eine einsame kleine Klippe ragt in der Mitte daraus hervor, sie ist nicht größer, als daß wir Seite an Seite darauf ruhen können; ist die See stark bewegt, so spritzt das Wasser hoch über uns, aber doch danken wir Gott für dieselbe. Da übernachten wir in unsrer Menschengestalt; ohne diese Klippe könnten wir nie unser liebes Vaterland besuchen, denn zwei der längsten Tage des Jahres brauchen wir zu unserm Fluge. Nur einmal im Jahre ist es uns vergönnt, unsere Heimat zu besuchen, elf Tage können wir hier bleiben, über den großen Wald hinfliegen, von wo wir das Schloß erblicken können, wo wir geboren wurden und wo unser Vater wohnt, den hohen Kirchturm sehen, wo die Mutter begraben ist. --- Hier kommt es uns vor, als wären Bäume und Büsche mit uns verwandt, hier laufen die wilden Pferde über die Steppen hin, wie wir es in unserer Kindheit gesehen, hier singt der alte Kohlenbrenner die alten Lieder, nach welchen wir als Kinder tanzten, hier ist unser Vaterland, hierher zieht es uns und hier haben wir Dich, Du liebe Schwester, gefunden! Zwei Tage können wir noch hier bleiben, dann müssen wir fort über das Meer nach einem herrlichen Lande, welches aber nicht unser Vaterland ist. Wie nehmen wir Dich mit? Wir haben weder Schiff noch Boot!''

``Auf welche Art kann ich Euch erlösen?'' fragte die Schwester.

Sie unterhielten sich fast die ganze Nacht, es wurde nur einige Stunden geschlummert.

Elisa erwachte durch den Schall der Schwanenflügel, welche über ihr sausten. Die Brüder waren wieder verwandelt und flogen in großen Kreisen und zuletzt weit weg; aber der eine von ihnen, der jüngste, blieb zurück, der Schwan legte seinen Kopf in ihren Schoß und sie streichelte seine Flügel; den ganzen Tag waren sie beisammen. Gegen Abend kamen die anderen zurück, und als die Sonne untergegangen war, standen sie in ihrer natürlichen Gestalt da.

``Morgen fliegen wir von hier weg und können nicht vor Verlauf eines Jahres zurückkehren, aber Dich können wir nicht so verlassen! Hast Du Mut, mitzukommen? Mein Arm ist stark genug, Dich durch den Wald zu tragen, sollten wir da nicht alle so starke Flügel haben, um mit Dir über das Meer zu fliegen?''

``Ja, nehmt mich mit!'' sagte Elisa.

Die ganze Nacht brachten sie damit zu, ein großes und starkes Netz aus der geschmeidigen Weidenrinde und dem zähen Schilf zu flechten. Auf dieses legte sich Elisa, und als die Sonne hervortrat, und die Brüder in wilde Schwäne verwandelt wurden, ergriffen sie das Netz mit ihren Schnäbeln und flogen mit ihrer lieben Schwester, die noch schlief, hoch gegen die Wolken an. Die Sonnenstrahlen fielen ihr gerade auf das Antlitz, deswegen flog einer der Schwäne über ihr Haupt, damit seine breiten Schwingen sie beschatten möchten.

Sie waren weit vom Lande entfernt, als Elisa erwachte; sie glaubte noch zu träumen, so sonderbar kam es ihr vor, hoch durch die Luft, über das Meer getragen zu werden. An ihrer Seite lag ein Zweig mit herrlichen reifen Beeren und ein Bund wohlschmeckender Wurzeln; diese hatte der jüngste der Brüder gesammelt und ihr hingelegt; sie lächelte ihn dankbar an, denn sie erkannte ihn, er war es, der über ihrem Haupte flog und sie mit den Schwingen beschattete.

Sie waren so hoch, daß das erste Schiff, welches sie unter sich erblickten, eine weiße Möve zu sein schien, die auf dem Wasser lag. Eine große Wolke stand hinter ihnen, das war ein Berg, und auf diesem sah Elisa ihren eigenen Schatten und den der elf Schwäne, so riesengroß flogen sie davon; das war ein Gemälde, prächtiger als sie früher je eins gesehen; doch als die Sonne höher stieg und die Wolke weiter zurückblieb, verschwand das Schattenbild.

Den ganzen Tag flogen sie fort, gleich einem sausenden Pfeil durch die Luft, aber es ging doch langsamer als sonst, sie hatten ja die Schwester zu tragen. Es zog ein böses Wetter auf, der Abend näherte sich; ängstlich sah Elisa die Sonne sinken, und noch war die einsame Klippe im Meer nicht zu erblicken; es kam ihr vor, als machten die Schwäne stärkere Schläge mit den Flügeln. Ach! sie war schuld daran, daß sie nicht rasch genug fortkamen; wenn die Sonne untergegangen war, so wurden sie Menschen, mußten in das Meer stürzen und ertrinken. Da betete sie aus dem Innersten des Herzens ein Gebet zum lieben Gott, aber noch erblickte sie keine Klippe; die schwarze Wolke kam immer näher, die starken Windstöße verkündeten einen Sturm; die Wolken standen in einer einzigen großen, drohenden Welle da, welche fast wie Blei vorwärts schoß, Blitz leuchtete auf Blitz.

Jetzt war die Sonne gerade am Rande des Meeres. Elisas Herz bebte; da schossen die Schwäne hinab, so schnell, daß sie zu fallen glaubte; aber nun schwebten sie wieder. Die Sonne war halb unter dem Wasser, da erblickte sie erst die kleine Klippe unter sich, sie sah nicht größer aus, als ob sie ein Seehund wäre, der den Kopf aus dem Wasser steckte. Die Sonne sank schnell; jetzt erschien sie nur noch wie ein Stern, da berührte ihr Fuß den festen Grund, die Sonne erlosch gleich dem letzten Funken im brennenden Papier. Arm in Arm sah sie die Brüder um sich stehen, aber mehr Platz, als gerade für diese und für sie, war auch nicht da. Die See schlug gegen die Klippe und ging wie Staubregen über sie hin; der Himmel leuchtete in einem fortwährenden Feuer und Schlag auf Schlag rollte der Donner, aber Schwester und Brüder hielten einander an den Händen und sangen Psalmen, woraus sie Trost und Mut schöpften.

In der Morgendämmerung war die Luft rein und still; sobald die Sonne emporstieg, flogen die Schwäne mit Elisa von der Insel fort. Das Meer ging noch hoch, es sah aus, wie sie hoch in der Luft waren, als ob der weiße Schaum auf der schwarzgrünen See Millionen Schwäne wären, die auf dem Wasser schwammen.

Als die Sonne höher stieg, sah Elisa vor sich, halb in der Luft schwimmend, ein Bergland mit glänzenden Eismassen auf den Felsen, und mitten darauf erstreckte sich ein sicher meilenlanges Schloß, mit einem kühnen Säulengange über dem andern; unten wogten Palmenwälder und Prachtblumen, so groß wie Mühlräder. Sie fragte, ob dies das Land sei, wohin sie wollten, aber die Schwäne schüttelten mit dem Kopfe, denn das, was sie sah, war der Fata Morgana herrliches, alle Zeit abwechselndes Wolkenschloß; da durften sie keinen Menschen hineinbringen. Elisa starrte es an, da stürzten Berge, Wälder und Schloß zusammen, und zwanzig stolze Kirchen, alle einander gleich, mit hohen Türmen und spitzen Fenstern standen da. Sie glaubte die Orgel ertönen zu hören, aber es war das Meer, welches sie hörte. Nun war sie den Kirchen ganz nahe; da wurden diese zu einer ganzen Flotte, die unter ihr dahinsegelte; sie sah nieder und es waren nur Meernebel, die über dem Wasser hinglitten. Ja, eine ewige Abwechselung hatte sie vor Augen, und nun sah sie das wirkliche Land, nach dem sie hin wollte. Da erhoben sich die herrlichen, blauen Berge mit Cedernwäldern, Städten und Schlössern. Lange bevor die Sonne unterging, saß sie auf dem Felsen vor einer großen Höhle, die mit feinen, grünen Schlingpflanzen bewachsen war; es sah aus, als wären es gestickte Teppiche.

``Nun wollen wir sehen, was Du diese Nacht hier träumst!'' sagte der jüngere Bruder und zeigte ihr ihre Schlafkammer.

``Gebe der Himmel, daß ich träumen möge, wie ich Euch erretten kann!'' sagte sie, und dieser Gedanke beschäftigte sie dann lebhaft; sie betete inbrünstig zu Gott um seine Hilfe, ja selbst im Schlafe betete sie fort; da kam es ihr vor, als ob sie hoch in die Luft fliege, zu Fata Morganas Wolkenschloß, und die Fee kam ihr entgegen, schön und glänzend, und doch glich sie ganz der alten Frau, die ihr Beeren im Walde gegeben, und ihr von den Schwänen mit Goldkronen auf dem Kopfe erzählt hatte.

``Deine Brüder können erlöst werden!'' sagte sie, ``aber hast Du Mut und Ausdauer? Wohl ist das Wasser weicher als Deine feinen Hände, und formt doch die Steine um, aber es fühlt nicht die Schmerzen, die Deine Finger fühlen werden, es hat kein Herz, leidet nicht die Angst und Qual, die Du aushalten mußt. Siehst Du die Brennessel, die ich in meiner Hand halte? Von derselben Art wachsen viele rings um die Höhle, wo Du schläfst, nur die dort und die, welche auf des Kirchhofs Gräbern wachsen, sind tauglich, merke Dir das. Diese mußt Du pflücken, obgleich sie Deine Haut voll Blasen brennen werden; brich die Nesseln mit Deinen Füßen, so erhältst Du Flachs, mit diesem mußt Du elf Panzerhemden mit langen Ärmeln flechten und binden, wirf diese über die elf Schwäne, so ist der Zauber gelöst. Aber bedenke wohl, daß Du von dem Augenblicke, wo Du diese Arbeit beginnst, bis sie vollendet ist, wenn auch Jahre darüber vergehen, nicht sprechen darfst; das erste Wort, welches Du sprichst, fährt wie ein tötender Dolch in Deiner Brüder Herz; an Deiner Zunge hängt ihr Leben. Merke Dir das alles!''

Die Fee berührte zugleich ihre Hand mit der Nessel; es war einem brennenden Feuer gleich, Elisa erwachte dadurch. Es war heller Tag und dicht daneben, wo sie geschlafen hatte, lag eine Nessel wie die, welche sie im Traume gesehen hatte. Da fiel sie auf ihre Kniee, dankte dem lieben Gott und ging aus der Höhle hinaus, um ihre Arbeit zu beginnen.

Mit den feinen Händen griff sie hinunter in die häßlichen Nesseln, sie waren wie Feuer; große Blasen brannten sie an ihren Händen und Armen, aber gern wollte sie es leiden, wenn sie die lieben Brüder befreien konnte. Sie brach jede Nessel mit ihren bloßen Füßen und flocht den grünen Flachs.

Als die Sonne untergegangen war, kamen die Brüder, die sehr erschraken, Elisa stumm zu finden; sie glaubten, es sei ein neuer Zauber der bösen Stiefmutter; aber als sie ihre Hände erblickten, begriffen sie, was ihre Schwester ihrethalben thue, und der jüngste Bruder weinte, und wohin seine Thränen fielen, da fühlte sie keine Schmerzen, da verschwanden die brennenden Blasen.

Die Nacht brachte sie bei ihrer Arbeit zu, denn sie hatte keine Ruhe, bevor sie die lieben Brüder erlöst hatte; den ganzen folgenden Tag, während die Schwäne fort waren, saß sie in ihrer Einsamkeit, aber nie war die Zeit so eilig entflohen. Ein Panzerhemd war schon fertig, nun fing sie das zweite an.

Da ertönte ein Jagdhorn zwischen den Bergen; sie wurde von Furcht ergriffen, der Ton kam immer näher, sie hörte Hunde bellen, erschrocken floh sie in die Höhle, band die Nesseln, die sie gesammelt und gehechelt hatte, in einen Bund zusammen und setzte sich darauf.

Zugleich kam ein großer Hund aus der Schlucht hervorgesprungen, und gleich darauf wieder einer, und noch einer; sie bellten laut, liefen zurück, und kamen wieder vor. Es währte nicht lange, so standen alle Jäger vor der Höhle, und der schönste unter ihnen war der König des Landes; dieser trat auf Elisa zu, nie hatte er ein schöneres Mädchen gesehen.

``Wie bist Du hierher gekommen, Du herrliches Kind?'' sagte er. Elisa schüttelte das Haupt, sie durfte ja nicht sprechen, es galt ihrer Brüder Erlösung und Leben; und sie verbarg ihre Hände unter der Schürze, damit der König nicht sehe, was sie leiden müsse.

``Komm mit mir!'' sagte er, ``hier darfst Du nicht bleiben! Bist Du so gut, wie Du schön bist, so will ich Dich in Seide und Sammet kleiden, die Goldkrone Dir auf das Haupt setzen, und Du sollst in meinem schönsten Schlosse wohnen!'' --- und dann hob er sie auf sein Pferd. Sie weinte, rang ihre Hände, aber der König sagte: ``Ich will nur Dein Glück! Einst wirst Du mir dafür danken.'' Dann jagte er fort durch die Berge, und hielt sie vorn auf dem Pferde, und die Jäger jagten hinterher.

Als die Sonne unterging, lag die schöne Königsstadt mit Kirchen und Kuppeln vor ihnen, der König führte sie in das Schloß, wo große Springbrunnen in den hohen Marmorsälen plätscherten, wo Wände und Decke von Gemälden prangten, aber Elisa hatte keine Augen dafür, sie weinte und trauerte; willig ließ sie die Frauen ihr königliche Kleider anlegen, Perlen in ihre Haare flechten, und feine Handschuhe über die verbrannten Finger ziehen.

Als sie in all' ihrer Pracht dastand, war sie so blendend schön, daß der Hof sich noch tiefer vor ihr verneigte und der König erkor sie zu seiner Braut, obgleich der Geistliche mit dem Kopf schüttelte und flüsterte, daß das schöne Waldmädchen sicher eine Hexe sei; sie blende die Augen und bethöre das Herz des Königs.

Aber der König hörte nicht darauf, ließ die Musik ertönen, die köstlichsten Gerichte auftragen, die lieblichsten Mädchen um sie tanzen, und sie wurde durch duftende Gärten in prächtige Säle geführt; aber nicht ein Lächeln kam auf ihre Lippen oder sprach aus ihren Augen, die voll Trauer waren. Nun öffnete der König eine kleine Kammer, dicht daneben, wo sie schlafen sollte; sie war mit köstlichen, grünen Teppichen geschmückt und glich ganz der Höhle, in der sie gewesen war; auf dem Fußboden lag das Bund Flachs, welches sie aus den Nesseln gesponnen hatte, und unter der Decke hing das Panzerhemd, welches fertig gestrickt war; alles dieses hatte einer der Jäger als eine Seltenheit mitgenommen.

``Hier kannst Du Dich in Deine frühere Heimat zurückträumen!'' sagte der König. ``Hier ist die Arbeit, die Dich dort beschäftigte; nun, mitten in all' Deiner Pracht, wird es Dich belustigen, an jene Zeit zurückzudenken.''

Als Elisa das sah, was ihr am Herzen lag, spielte ein Lächeln um ihren Mund, und das Blut kehrte in die Wangen zurück; sie dachte an die Erlösung ihrer Brüder, küßte des Königs Hand, er drückte sie an sein Herz, und ließ durch alle Kirchenglocken das Hochzeitsfest verkünden. Das schöne, stumme Mädchen aus dem Walde war des Landes Königin.

Da flüsterte der Geistliche böse Worte in des Königs Ohr, aber sie drangen nicht bis zu seinem Herzen, die Hochzeit sollte sein, der Geistliche selbst mußte ihr die Krone auf das Haupt setzen, und er drückte in seinem Unwillen den engen Ring fest auf ihre Stirne nieder, sodaß er wehe that; doch es lag ein schwererer Ring um ihr Herz, die Trauer um ihre Brüder; sie fühlte nicht die körperlichen Leiden. Ihr Mund war stumm, ein einziges Wort würde ja ihren Brüdern das Leben kosten, aber in ihren Augen sprach sich eine innige Liebe zu dem guten, hübschen Könige aus, der alles that, um sie zu erfreuen. Sie gewann ihn von Tag zu Tag lieber und wünschte nur, daß sie sich ihm vertrauen, ihm ihre Leiden klagen dürfte! Aber stumm mußte sie sein, stumm mußte sie ihr Werk vollbringen. Deshalb schlich sie nachts von seiner Seite, ging in die kleine Kammer, welche wie die Höhle geschmückt war, und strickte ein Panzerhemd nach dem andern fertig; aber als sie das siebente begann, hatte sie keinen Flachs mehr.

Auf dem Kirchhof, das wußte sie, wuchsen die Nesseln, die sie brauchen konnte, aber selbst mußte sie diese pflücken; wie sollte sie das thun, wie sollte sie da hinaus gelangen?

``O, was ist der Schmerz in meinen Fingern gegen die Qual, die mein Herz erduldet!'' dachte sie, ``ich muß es wagen! Der Herr wird seine Hand nicht von mir zurückziehen!'' Mit einer Herzensangst, als sei es eine böse That, die sie vorhabe, schlich sie sich in der mondhellen Nacht in den Garten hinunter, ging durch die langen Alleen, in die einsamen Straßen nach dem Kirchhofe hinaus.

Nur ein einziger Mensch hatte sie gesehen, der Geistliche; er war wach, wenn andere schliefen; nun hatte er doch recht gehabt, wie er meinte, daß es mit der Königin nicht sei, wie es sein sollte; sie war eine Hexe, deshalb hatte sie den König und das ganze Volk bethört.

Er erzählte dem König, was er gesehen und was er fürchtete, und als die harten Worte seiner Zunge entströmten, rollten zwei schwere Thränen über des Königs Wangen herab, er ging nach Hause mit Zweifel in seinem Herzen. Er stellte sich, als ob er in der Nacht schlafe, aber es kam kein ruhiger Schlaf in seine Augen, er merkte, wie Elisa aufstand, jede Nacht wiederholte sie dieses, und jedesmal folgte er sachte nach und sah, wie sie in ihre Kammer verschwand.

Tag für Tag wurde seine Miene finsterer; Elisa sah es, begriff aber nicht, warum, es ängstigte sie, und noch mehr litt sie in ihrem Herzen für ihre Brüder. Auf den königlichen Samt und Purpur flossen ihre heißen Thränen, sie lagen da wie schwimmende Diamanten und alle, welche die reiche Pracht sahen, wünschten Königin zu sein. Sie war nun bald mit ihrer Arbeit fertig, nur ein Panzerhemd fehlte noch; aber Flachs hatte sie auch nicht mehr und nicht eine einzige Nessel. Einmal noch, nur dieses letzte Mal, mußte sie deswegen nach dem Kirchhof und einige Hände voll pflücken. Sie dachte mit Angst an diese einsame Wanderung und an die schrecklichen Hexen; aber ihr Wille stand fest, wie ihr Vertrauen auf den Herrn.

Elisa ging, aber der König und der Geistliche folgten nach; sie sahen dieselbe bei der Gitterpforte hineinverschwinden, und als sie sich derselben näherten, saßen die Hexen auf dem Grabsteine, wie Elisa sie gesehen hatte, und der König wendete sich ab; denn unter diesen dachte er sich die, deren Haupt noch diesen Abend an seiner Brust geruht hatte.

``Das Volk muß sie verurteilen!'' sagte er, und das Volk urteilte, sie solle verbrannt werden.

Aus den prächtigen Königssälen wurde sie in ein dunkles, feuchtes Loch geführt, wo der Wind durch das Gitter hineinpfiff; anstatt Samt und Seide gab man ihr das Bund Nesseln, welches sie gesammelt hatte, darauf konnte sie ihr Haupt legen; die harten, brennenden Panzerhemden, die sie gestrickt hatte, sollten ihre Decke sein, aber nichts lieberes konnten sie ihr geben, sie nahm wieder ihre Arbeit auf und betete zu ihrem Gott. Draußen sangen die Straßenbuben Spottlieder auf sie, keine Seele tröstete sie mit einem freundlichen Worte.

Da sauste gegen Abend dicht beim Gitter ein Schwanenflügel; es war der jüngste der Brüder, der die Schwester gefunden hatte, und sie schluchzte laut vor Freude, obgleich sie dachte, daß die Nacht, die da kam, wahrscheinlich die letzte sein werde, die sie zu leben habe; aber nun war ja auch die Arbeit fast beendet, und ihre Brüder waren hier.

Der Geistliche kam nun, um die letzte Stunde bei ihr zu sein, das hatte er dem König versprochen; aber sie schüttelte mit dem Haupte, bat mit Blick und Mienen, er möge gehen; in dieser Nacht mußte sie ja ihre Arbeit vollenden, sonst war alles unnütz, alles, Schmerz, Thränen und die schlaflosen Nächte. Der Geistliche entfernte sich mit bösen Worten gegen sie, aber die arme Elisa wußte, daß sie unschuldig war, und fuhr in ihrer Arbeit fort.

Die kleinen Mäuse liefen auf dem Fußboden, sie schleppten Nesseln zu ihren Füßen hin, um doch etwas zu helfen, und die Drossel setzte sich an das Gitter des Fensters und sang die ganze Nacht, so munter sie konnte, damit Elisa den Mut nicht verliere.

Es war nicht mehr als Morgendämmerung, erst nach einer Stunde konnte die Sonne aufgehen, da standen die elf Brüder an der Pforte des Schlosses, und verlangten, vor den König geführt zu werden. Das könne nicht geschehen, wurde geantwortet, es sei ja noch Nacht, der König schlafe und dürfe nicht geweckt werden. Sie baten, sie drohten, die Wache kam, ja selbst der König trat heraus, und fragte, was das bedeute; da ging die Sonne auf, und es waren keine Brüder mehr zu sehen, aber über das Schloß flogen elf wilde Schwäne hin.

Aus dem Stadtthore strömte das Volk, es wollte die Hexe verbrennen sehen. Ein alter Gaul zog den Karren, auf dem sie saß; man hatte ihr einen Kittel von grobem Sackleinen angethan, ihr herrliches Haar hing lose um das schöne Haupt, ihre Wangen waren totenbleich, ihre Lippen bewegten sich leise, während die Finger den grünen Flachs flochten; selbst auf dem Wege zu ihrem Tode unterbrach sie die angefangene Arbeit nicht, die zehn Panzerhemden lagen zu ihren Füßen, an dem elften strickte sie. Der Pöbel verhönte sie:

``Sieh die Hexe, wie sie murmelt! Kein Gesangbuch hat sie in der Hand, nein, mit ihrer häßlichen Gaukelei sitzt sie da. Reißt sie ihr in tausend Stücke!''

Man drängte auf sie ein und wollte die Panzerhemden zerreißen; da kamen elf weiße Schwäne geflogen, die setzten sich rings um sie auf den Karren und schlugen mit ihren großen Schwingen. Da wich der Haufen erschrocken zur Seite.

``Das ist ein Zeichen des Himmels! Sie ist sicher unschuldig!'' flüsterten viele, aber sie wagten nicht, es laut zu sagen.

Nun ergriff sie der Büttel bei der Hand, da warf sie hastig die elf Panzerhemden über die Schwäne und alsbald standen elf schöne Prinzen da; aber der jüngste hatte einen Schwanenflügel anstatt des einen Armes, denn es fehlte ein Ärmel in seinem Panzerhemde, den hatte sie nicht fertig bekommen.

``Nun darf ich sprechen!'' sagte sie, ``ich bin unschuldig.''

Das Volk, welches sah, was geschehen war, neigte sich vor ihr, wie vor einer Heiligen; aber sie sank ohnmächtig in der Brüder Arme, so hatten die Spannung, Angst und Schmerz auf sie gewirkt.

``Ja, unschuldig ist sie!'' sagte der älteste Bruder, und nun erzählte er alles, was da geschehen war, und während er sprach, verbreitete sich ein Duft, wie von Millionen Rosen, denn jedes Stück Brennholz im Scheiterhaufen hatte Wurzel geschlagen und trieb Zweige; da stand eine duftende Hecke, hoch und groß mit roten Rosen; ganz oben saß eine Blume, weiß und glänzend, sie leuchtete wie ein Stern die brach der König und steckte sie an Elisas Brust; da erwachte sie mit Frieden und Glückseligkeit im Herzen.

Alle Kirchenglocken läuteten von selbst, und die Vögel kamen in großen Zügen; es wurde ein Hochzeitszug zurück zum Schlosse, wie ihn noch kein König gesehen hatte.

Der Reisekamerad

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\AMsection{Der Reisekamerad}

Der arme Johannes war tief betrübt, denn sein Vater war sehr krank und konnte nicht genesen. Außer den beiden war niemand in dem kleinen Zimmer; die Lampe auf dem Tische war dem Erlöschen nahe, und es war spät abends.

``Du warst ein guter Sohn, Johannes!'' sagte der kranke Vater, ``der liebe Gott wird Dir schon in der Welt forthelfen!'' Er sah ihn mit ernsten, milden Augen an, holte tief Atem und starb; es war gerade, als ob er schliefe. Aber Johannes weinte, nun hatte er gar niemand in der ganzen Welt, weder Vater noch Mutter, Schwester oder Bruder. Der arme Johannes! Er lag vor dem Bette auf seinen Knieen und küßte des toten Vaters Hand und weinte viele bittere Thränen; aber zuletzt schlossen sich seine Augen und er schlief ein mit dem Haupte auf dem harten Bettpfosten.

Da träumte ihm ein sonderbarer Traum; er sah, wie Sonne und Mond sich vor ihm neigten, und er erblickte seinen Vater frisch und gesund und hörte ihn lachen, wie er immer lachte, wenn er recht froh war. Ein schönes Mädchen mit einer goldenen Krone auf ihrem langen, glänzenden Haar reichte Johannes die Hand, und sein Vater sagte: ``Siehst Du, was für eine Braut Du erhalten hast! Sie ist die schönste in der ganzen Welt!'' Da erwachte er, und alle Herrlichkeit war vorbei, sein Vater lag tot und kalt im Bette, es war niemand bei ihm. Der arme Johannes!

In der folgenden Woche wurde der Tote begraben; Johannes ging dicht hinter dem Sarge und konnte nun den guten Vater nicht mehr zu sehen bekommen, der ihn so geliebt hatte; er hörte, wie man die Erde auf den Sarg hinunterwarf, sah noch die letzte Ecke desselben, aber bei der nächsten Schaufel Erde, welche hinabgeworfen wurde, war auch sie verschwunden. Da war es gerade, als wollte sein Herz in Stücke zerspringen, so betrübt war er. Man sang noch am Grabe einen Psalm, was sehr schön klang, und die Thränen traten unserm Johannes in die Augen, er weinte, und das that seiner Trauer wohl. Die Sonne schien herrlich auf die grünen Bäume, gerade als wollten sie sagen: ``Du mußt nicht so betrübt sein, Johannes! Siehst Du, wie schön blau der Himmel ist! Dort oben ist nun Dein Vater und bittet den lieben Gott, daß es Dir allezeit wohl ergehen möge!''

``Ich will auch immer gut sein!'' sagte Johannes. ``Dann komme ich zu meinem Vater, und was wird das für eine Freude werden, wenn wir uns wiedersehen! Wie viel werde ich ihm dann erzählen können, und er wird mir viele Sachen zeigen, mich über die Herrlichkeit im Himmel belehren, gerade wie er mich auf Erden unterrichtete. O, was wird das für eine Freude werden!''

Johannes dachte sich das so deutlich, daß er dabei lächelte, während die Thränen ihm noch über die Wangen liefen. Die kleinen Vögel saßen oben in den Kastanienbäumen und zwitscherten: ``Quivit, quivit!'' Sie waren munter, obgleich sie mit beim Begräbnisse waren, aber sie wußten wohl, daß der tote Mann oben im Himmel war, Flügel hatte, weit schönere und größere als die ihrigen und daß er glücklich sei, weil er hier auf Erden gut gewesen war und darüber waren sie vergnügt. Johannes sah, wie sie von den grünen Bäumen weit in die Welt hinaus flogen, und da bekam er Lust mitzufliegen. Aber zuerst machte er ein großes Kreuz von Holz, um es auf seines Vaters Grab zu setzen, und als er es am Abend dahin brachte, war das Grab mit Sand und Blumen geschmückt; das hatten fremde Leute gethan, denn sie hielten alle viel von dem lieben Vater, der nun tot war.

Früh am nächsten Morgen packte Johannes sein kleines Bündel zusammen und verwahrte in seinem Gürtel sein ganzes Erbteil, welches fünfzig Thaler und ein paar Pfennige betrug; damit wollte er in die Welt hinauswandern. Aber zuerst ging er nach dem Kirchhofe zu seines Vaters Grab, betete ein Vaterunser und sagte: ``Lebewohl, Du lieber Vater! Ich will immer ein guter Mensch sein, darum bitte ich den lieben Gott, daß es mir wohl ergehe!''

Draußen auf dem Felde, wo Johannes ging, standen alle Blumen frisch und schön in dem warmen Sonnenschein, und sie nickten im Winde, gerade als wollten sie sagen: ``Willkommen im Grünen! Ist es hier nicht schön?'' Aber Johannes wendete sich noch einmal zurück, um die alte Kirche zu betrachten, wo er als kleines Kind getauft worden, wo er jeden Sonntag mit seinem Vater zum Gottesdienst gewesen war und die schönen Lieder gesungen hatte; da sah er hoch oben in einer Öffnung des Turms den Kirchenkobold mit seiner kleinen, roten Mütze stehen, das Antlitz mit dem gebogenen Arm beschattend, da ihm sonst die Sonne in die Augen stach. Johannes nickte ihm Lebewohl zu, und der kleine Kobold schwenkte seine rote Mütze, legte die Hand auf das Herz und warf ihm viele Kußhände zu, um zu zeigen, wie er ihm Gutes und namentlich eine recht glückliche Reise wünsche.

Johannes dachte daran, wie viel Schönes er nun in der großen Welt zu sehen bekommen werde, und ging weiter, so weit, als er früher nie gewesen war; er kannte die Orte gar nicht, durch die er kam, oder die Menschen, denen er begegnete, er war in der Fremde.

Die erste Nacht mußte er sich auf einen Heuschober auf dem Felde schlafen legen, ein anderes Bett hatte er nicht. Aber das war gerade hübsch, meinte er, der König könnte es nicht besser haben. Das ganze Feld mit dem Flusse, der Heuschober und der blaue Himmel darüber, das war gerade eine schöne Schlafkammer. Das grüne Gras mit den kleinen, roten und weißen Blumen war die Fußdecke, die Fliederbüsche und die wilden Rosenhecken waren Blumensträuße, und zum Waschbecken diente ihm der ganze Fluß mit dem klaren, frischen Wasser, wo das Schilf sich neigte und ihm guten Abend wie guten Morgen bot. Der Mond war eine große Nachtlampe, hoch oben unter der Decke, der zündete die Vorhänge nicht an mit seinem Feuer; Johannes konnte ganz ruhig schlafen, er that es auch und erwachte erst wieder, als die Sonne aufging und alle die kleinen Vögel ringsumher sangen: ``Guten Morgen! Guten Morgen! Bist Du noch nicht auf?''

Die Glocken läuteten zur Kirche, es war Sonntag. Die Leute gingen hin, den Prediger zu hören, und Johannes folgte ihnen, sang das geistliche Lied mit und hörte Gottes Wort; es war ihm gerade, als wäre er in der Kirche, in der er getauft worden war, wo er Psalmen mit seinem Vater gesungen hatte.

Draußen auf dem Kirchhofe waren viele Gräber und auf einigen wuchs hohes Gras. Da dachte Johannes an seines Vaters Grab, welches am Ende auch so aussehen werde, wie diese, da er es nicht reinhalten und schmücken konnte. Er setzte sich also nieder und riß das Gras ab, richtete die Holzkreuze auf, welche umgefallen waren, und legte die Kränze, die der Wind vom Grabe fortgerissen hatte, wieder auf ihre Stelle, indem er dachte: ``Vielleicht thut jemand dasselbe an meines Vaters Grab, nun ich es nicht thun kann!''

Draußen vor der Kirchhofsthür stand ein alter Bettler und stützte sich auf seine Krücke; Johannes gab ihm die Pfennige, die er hatte, und ging dann glücklich und vergnügt weiter fort, in die weite Welt hinaus.

Gegen Abend wurde es ein erschrecklich böses Wetter. Johannes sputete sich, unter Dach zu gelangen, aber es wurde bald finstere Nacht; da erreichte er endlich eine kleine Kirche, die ganz einsam auf einem kleinen Hügel lag; die Thür stand zum Glück nur angelehnt, und er schlüpfte hinein; hier wollte er bleiben, bis das böse Wetter sich gelegt hatte.

``Hier will ich mich in einen Winkel setzen,'' sagte er; ``ich bin ganz ermüdet und bedarf wohl der Ruhe.'' Dann setzte er sich nieder, faltete seine Hände und betete sein Abendgebet, und bevor er es wußte, schlief und träumte er, während es draußen blitzte und donnerte.

Als er wieder erwachte, war es mitten in der Nacht, aber das böse Wetter war vorübergezogen und der Mond schien durch die Fenster zu ihm herein. Mitten in der Kirche stand ein offener Sarg mit einem toten Mann darin, denn er war noch nicht begraben. Johannes war durchaus nicht furchtsam, denn er hatte ein gutes Gewissen und wußte wohl, daß die Toten niemand etwas zu Leide thun; es sind lebende böse Menschen, die Übles thun. Solche zwei lebende, schlimme Leute standen dicht bei dem toten Mann, der hier in die Kirche hineingesetzt war, bevor er beerdigt wurde; dem wollten sie Übles erweisen, ihn nicht in seinem Sarge liegen lassen, sondern ihn draußen vor die Kirchthür werfen, den armen, toten Mann.

``Weshalb wollt Ihr das thun?'' fragte Johannes. ``Das ist böse und schlimm; laßt ihn in Jesu Namen ruhen!''

``O, Schnickschnack!'' sagten die beiden häßlichen Menschen. ``Er hat uns angeführt! Er schuldet uns Geld, das konnte er nicht bezahlen, und nun, da er tot ist, bekommen wir keinen Pfennig; deshalb wollen wir uns rächen, er soll wie ein Hund draußen vor der Kirchthür liegen!''

``Ich habe nicht mehr als fünfzig Thaler,'' sagte Johannes, ``das ist mein ganzes Erbteil, aber das will ich Euch gern geben, wenn Ihr mir ehrlich versprechen wollt, den armen, toten Mann in Ruhe zu lassen. Ich werde schon durchkommen ohne das Geld; ich habe starke, gesunde Gliedmaßen, und der liebe Gott wird mir allezeit helfen.''

``Ja,'' sagten die häßlichen Menschen, ``wenn Du seine Schuld bezahlen willst, wollen wir beide ihm nichts thun, darauf kannst Du Dich verlassen!'' Sie nahmen das Geld, welches ihnen Johannes gab, lachten laut auf über seine Gutmütigkeit und gingen ihres Weges; Johannes aber legte die Leiche wieder im Sarge zurecht, faltete ihre Hände, nahm Abschied von ihr und ging dann durch den großen Wald zufrieden weiter.

Ringsumher, wo der Mond durch die Bäume hereinscheinen konnte, sah er die niedlichen kleinen Elfen lustig spielen; sie ließen sich nicht stören, sie wußten wohl, daß er ein guter, unschuldiger Mensch war, und es sind nur die bösen Leute, welche die Elfen nicht zu sehen bekommen. Einige von ihnen waren nicht größer, als ein Finger breit ist, und hatten ihre langen, gelben Haare mit goldenen Kämmen aufgeheftet; zwei und zwei schaukelten sie sich auf den großen Tautropfen, die auf den Blättern und dem hohen Grase lagen; zuweilen rollte ein Tropfen herab und fiel nieder zwischen den langen Grashalmen und das verursachte ein Gelächter und Lärmen unter den andern Kleinen. Es war allerliebst! Sie sangen und Johannes erkannte ganz deutlich alle die hübschen Lieder, die er als kleiner Knabe gelernt hatte. Große, bunte Spinnen mit silbernen Kronen auf dem Kopfe mußten von der einen Hecke zur andern lange Hängebrücken und Paläste spinnen, welche, da der feine Tau darauf fiel, wie glänzendes Glas im klaren Mondscheine aussahen. So währte es fort, bis die Sonne aufging. Die kleinen Elfen krochen dann in die Blumenknospen, und der Wind erfaßte ihre Brücken und Schlösser, die als Spinnweben durch die Luft dahinflogen.

Johannes war nun aus dem Walde gekommen, als eine starke Mannsstimme hinter ihm rief: ``Heda, Kamerad, wohin geht die Reise?''

``In die weite Welt hinaus!'' sagte Johannes. ``Ich habe weder Vater, noch Mutter, bin ein armer Bursche, aber der Herr hilft mir wohl!''

``Ich will auch in die weite Welt hinaus!'' sagte der fremde Mann. ``Wollen wir beide einander Gesellschaft leisten?''

``Ja wohl!'' sagte Johannes, und sie gingen mit einander. Bald wurden sie sich recht gut, denn sie waren beide gute Menschen. Aber Johannes merkte wohl, daß der Fremde viel klüger war, als er; er hatte fast die ganze Welt durchreist und wußte von allem Möglichen, was existierte, zu erzählen.

Die Sonne war schon hoch herauf, als sie sich unter einen großen Baum setzten, ihr Frühstück zu genießen; zur selben Zeit kam eine alte Frau daher. Sie ging ganz krumm, stützte sich auf einen Krückstock und hatte auf ihrem Rücken ein Bündel Brennholz, welches sie sich im Walde gesammelt hatte. Ihre Schürze war aufgebunden, und Johannes sah, daß drei große Ruten von Farrenkraut und Weidenreisern daraus hervorsahen. Als sie ihnen ganz nahe war, glitt ihr ein Fuß aus, sie fiel und schrie gewaltig, denn sie hatte ein Bein gebrochen, die arme, alte Frau.

Johannes meinte sogleich, daß sie die Frau nach Hause tragen wollten, wo sie wohnte, aber der Fremde machte sein Ränzel auf, und sagte, daß er hier eine Salbe habe, welche sogleich ihr Bein wieder ganz und kräftig machen werde, so daß sie selbst nach Hause gehen könne, und zwar, als ob sie nie das Bein gebrochen hätte. Aber dafür wollte er auch, daß sie ihm die drei Ruten schenke, die sie in ihrer Schürze habe. ``Das wäre gut bezahlt!'' sagte die Alte und nickte ganz eigen mit dem Kopfe; sie wollte die Ruten eben nicht gern hergeben, aber es war auch nicht angenehm, mit gebrochenem Beine dazuliegen. So gab sie ihm denn die Ruten, und sowie er nur die Salbe auf das Bein gerieben hatte, erhob sich auch die alte Mutter und ging viel besser als zuvor. Das hatte die Salbe bewirkt, aber die war auch nicht in der Apotheke zu haben.

``Was willst Du mit den Ruten?'' fragte Johannes nun seinen Reisekameraden.

``Das sind drei schöne Kräuterbesen!'' sagte er. ``Die liebe ich sehr, denn ich bin ein sonderbarer Mann!''

Dann gingen sie noch ein gutes Stück.

``Wie der Himmel sich umzieht!'' sagte Johannes und zeigte gerade aus. ``Das sind erschrecklich dicke Wolken!''

``Nein,'' sagte der Reisekamerad, ``das sind keine Wolken, das sind Berge, die herrlichen, großen Berge, wo man ganz hinauf über die Wolken in die frische Luft gelangt! Glaube mir, das ist herrlich! Bis morgen sind wir sicher schon dort!''

Das war nicht so nahe, wie es aussah; sie hatten einen ganzen Tag zu gehen, bevor sie die Berge erreichten, wo die schwarzen Wälder gerade gegen den Himmel aufwuchsen, und wo es Steine gab, gerade so groß als eine ganze Stadt. Das mochte wahrlich eine schwere Anstrengung werden, da hinüberzukommen, aber darum gingen auch Johannes und der Reisekamerad in das Wirtshaus, um auszuruhen und Kräfte zum morgenden Marsche zu sammeln.

Unten in der großen Schenkstube im Wirtshause waren viele Menschen versammelt, denn da war ein Mann, der gab ein Puppenspiel; er hatte gerade seine kleine Bühne aufgestellt, und die Leute saßen ringsumher, um die Komödie zu sehen. Ganz vorn aber hatte ein dicker Schlächter Platz genommen, und zwar den allerbesten; sein großer Bullenbeißer, der recht grimmig aussah, saß an seiner Seite und machte große Augen, gerade wie die andern Zuschauer.

Nun begann ein niedliches Stück mit einem Könige und einer Königin; die saßen auf dem schönsten Thron, hatten goldene Kronen auf dem Haupte und lange Schleppen an den Kleidern, denn das konnten sie haben. Die niedlichsten Holzpuppen mit Glasaugen und großen Schnurrbärten standen an allen Thüren und machten auf und zu, damit frische Luft in das Zimmer kommen konnte. Es war gerade ein recht hübsches Stück und gar nicht traurig; aber wie die Königin aufstand und über den Fußboden hinging, da --- Gott mag wissen, was der große Bullenbeißer sich dachte --- machte er, da der dicke Schlächter ihn nicht hielt, einen Sprung in das Theater, nahm die Königin mitten um den Leib, sodaß es knick! knack! ging. Es war ganz erschrecklich!

Der arme Mann, der das Stück aufführte, war sehr erschrocken und betrübt über seine Königin, denn es war die allerniedlichste Puppe, die er hatte, und nun hatte ihr der häßliche Bullenbeißer den Kopf abgebissen; aber als die Leute später fortgingen, sagte der Fremde, der mit Johannes gekommen war, daß er sie wieder zurecht machen werde, und dann nahm er seine Flasche hervor und schmierte die Puppe mit der Salbe, womit er der alten Frau geholfen, als sie ihr Bein gebrochen hatte. Sowie die Puppe geschmiert war, wurde sie wieder ganz, ja sie konnte sogar alle ihre Glieder bewegen, man brauchte gar nicht mehr an der Schnur zu ziehen; die Puppe war wie ein lebendiger Mensch, nur daß sie nicht sprechen konnte. Der Mann, der das kleine Puppentheater hatte, wurde sehr froh; nun brauchte er diese Puppe gar nicht mehr zu halten, die konnte ja von selbst tanzen. Das konnte keine der andern.

Als es Nacht geworden und alle Leute im Wirtshause zu Bett gegangen waren, da war jemand, der erschrecklich tief seufzte und so lange damit fortfuhr, bis alle aufstanden, um zu sehen, wer es sein könnte. Der Mann, der das Stück gegeben hatte, ging nach seinem kleinen Theater hin, denn dort war es, wo jemand seufzte. Alle Holzpuppen lagen unter einander, der König und alle Trabanten, und die waren es, die so jämmerlich seufzten und mit ihren Glasaugen stierten, denn sie wollten so gern gleich der Königin ein wenig geschmiert werden, damit sie sich auch von selbst ein wenig bewegen könnten. Die Königin legte sich gerade auf die Kniee und streckte ihre prächtige Krone in die Höhe, während sie bat: ``Nimm mir diese, aber schmiere meinen Gemahl und meine Hofleute!'' Da konnte der arme Mann, der die Komödie und alle Puppen besaß, nicht unterlassen, zu weinen, denn es that ihm wirklich ihretwegen leid. Er versprach sogleich dem Reisekameraden, ihm alles Geld zu geben, was er am nächsten Abend für sein Spiel erhalten werde, wenn er nur vier bis fünf von seinen niedlichsten Puppen schmieren wollte; aber der Reisekamerad sagte, daß er durchaus nichts anderes verlange, als den großen Säbel, den jener an seiner Seite habe, und als er den erhielt, beschmierte er sechs Puppen, die sogleich tanzten, und das so niedlich, daß alle Mädchen, die lebendigen Menschenmädchen, die es sahen, sogleich mittanzten. Der Kutscher und die Köchin tanzten, der Diener und das Stubenmädchen, alle Fremden und die Feuerschaufel und die Feuerzange; aber diese fielen um, als sie die ersten Sprünge machten. Ja, das war eine lustige Nacht.

Am nächsten Morgen ging Johannes mit seinem Reisekameraden fort, auf die hohen Berge hinauf und durch die hohen Tannenwälder. Sie kamen so hoch hinauf, daß die Kirchthürme tief unter ihnen zuletzt wie kleine, rote Beeren unten in all' dem Grünen aussahen, und sie konnten weit hin sehen, viele, viele Meilen weit, wo sie nie gewesen waren! So viel Schönes der prächtigen Welt hatte Johannes früher nie gesehen und die Sonne schien warm aus der frischen Luft, er hörte auch zwischen den Bergen die Jäger das Waldhorn so schön und lieblich blasen, daß ihm vor Freude das Wasser in die Augen trat und er nicht unterlassen konnte auszurufen: ``Du guter, lieber Gott, ich möchte Dich küssen, weil Du so gut gegen uns alle bist und uns all' die Herrlichkeit, die in der Welt ist, gegeben hast!''

Der Reisekamerad stand auch mit gefalteten Händen da und sah über den Wald und die Städte in den warmen Sonnenschein hinaus. Zu gleicher Zeit ertönte es wunderbarlieblich über ihren Häuptern, sie blickten in die Höhe: ein großer, weißer Schwan schwebte in der Luft und sang, wie sie früher nie einen Vogel hatten singen hören. Aber der Gesang wurde schwächer und schwächer, der schöne Vogel neigte seinen Kopf und sank ganz langsam zu ihren Füßen nieder, wo er tot liegen blieb.

``Zwei so herrliche Flügel,'' sagte der Reisekamerad, ``so weiß und groß wie die, welche der Vogel hat, sind Geldes wert, die will ich mitnehmen! Siehst Du nun wohl, daß es gut war, daß ich einen Säbel bekam?'' Und so hieb er beide Flügel des toten Schwanes ab, die wollte er behalten.

Sie reisten nun viele, viele Meilen weit fort über die Berge, bis sie zuletzt eine große Stadt vor sich sahen, mit hundert Türmen, die wie Silber in der Sonne erglänzten; mitten in der Stadt war ein prächtiges Marmorschloß, mit Gold gedeckt, und hier wohnte der König.

Johannes und der Reisekamerad wollten nicht sogleich in die Stadt gehen, sondern blieben im Wirtshause draußen vor der Stadt, damit sie sich putzen konnten, denn sie wollten gut aussehen, wenn sie in die Stadt kamen. Der Wirt erzählte ihnen, daß der König ein ganz guter Mann sei, der nie einem Menschen das Geringste zu Leide thue, aber seine Tochter, ja Gott behüte uns! das sei eine schlimme Prinzessin. Schönheit besaß sie genug, keine konnte so hübsch und so niedlich sein, als sie war, aber was half das! Sie war eine Hexe, die schuld daran war, daß viele herrliche Prinzen ihr Leben verloren hatten. Allen Menschen hatte sie die Erlaubnis erteilt, um sie freien zu dürfen; ein jeder konnte kommen, er mochte Prinz oder Bettler sein, das war ihr ganz gleichgiltig; er sollte nur drei Sachen raten, an die sie gedacht hatte und um die sie ihn befragte; könne er das, so wollte sie sich mit ihm verbinden, und er sollte König über das ganze Land sein, wenn ihr Vater sterbe; konnte er aber die drei Sachen nicht raten, so ließ sie ihn aufhängen oder ihm den Kopf abhauen. Ihr Vater, der alte König, war sehr betrübt darüber, aber er konnte ihr nicht verbieten, so böse zu sein, denn er hatte einmal gesagt, er wolle nie etwas mit ihren Liebhabern zu thun haben, sie könne selbst thun, was sie wolle. Jedesmal wenn ein Prinz kam und raten sollte, um die Prinzessin zu erhalten, so konnte er es nicht, und dann wurde er gehängt oder geköpft; er war ja bei Zeiten gewarnt worden, er hätte das Freien unterlassen können. Der alte König war so betrübt über all' die Trauer und das Elend, daß er einen ganzen Tag des Jahres mit all' seinen Soldaten auf den Knieen lag und betete, die Prinzessin möge gut werden, aber das wollte sie durchaus nicht. Die alten Frauen, die Branntwein tranken, färbten denselben ganz schwarz, bevor sie ihn tranken; so trauerten sie, und mehr konnten sie doch nicht thun.

``Die häßliche Prinzessin!'' sagte Johannes. ``Sie sollte wirklich die Rute haben, das würde ihr gut thun. Wäre ich der alte König, so würde sie bald anders werden.''

Da hörten sie das Volk draußen Hurra rufen. Die Prinzessin kam vorbei, und sie war wirklich so schön, daß alle Leute vergaßen, wie böse sie war, deshalb riefen sie Hurra. Zwölf schöne Jungfrauen, allesamt in weißen Seidenkleidern und eine goldene Tulpe in der Hand, ritten auf kohlschwarzen Pferden ihr zur Seite; die Prinzessin selbst hatte ein kreideweißes Pferd, mit Diamanten und Rubinen geschmückt, ihr Reitkleid war von reinem Golde, und die Peitsche, die sie in der Hand hatte, sah aus, als wäre sie ein Sonnenstrahl; die goldene Krone auf dem Haupte war gerade wie kleine Sterne oben vom Himmel, und der Mantel war von mehr als tausend schönen Schmetterlingsflügeln zusammengenäht; dessenungeachtet war sie viel schöner, als alle ihre Kleider.

Als Johannes sie zu sehen bekam, wurde er so rot in seinem Antlitz, wie ein Blutstropfen, und er konnte kaum ein einziges Wort sagen; die Prinzessin sah ganz so aus wie das schöne Mädchen mit der goldenen Krone, von dem er in der Nacht geträumt hatte, in der sein Vater gestorben war. Er fand sie außerordentlich schön und konnte nicht unterlassen, sie recht zu lieben. Das sei gewiß nicht wahr, sagte er, daß sie eine böse Hexe sei, welche die Leute hängen oder köpfen lasse, wenn sie nicht raten könnten, was sie von ihnen verlangte. ``Ein jeder hat ja die Erlaubnis, um sie zu freien, sogar der ärmste Bettler; ich will nach dem Schlosse gehen, denn ich kann es nicht unterlassen!'' Jedermann sagte ihm, er möge das nicht thun, es werde ihm sonst bestimmt wie allen den andern ergehen. Der Reisekamerad riet ihm auch davon ab, aber Johannes meinte, es werde schon gut gehen, bürstete seine Schuhe und seinen Rock, wusch sein Gesicht und seine Hände, kämmte sein hübsches, gelbes Haar, und ging dann ganz allein in die Stadt hinein und nach dem Schlosse.

``Herein!'' sagte der alte König, als Johannes an die Thüre pochte. Johannes öffnete, und der alte König, im Schlafrock und gestickten Pantoffeln, kam ihm entgegen; die goldene Krone hatte er auf dem Haupte, das Scepter in der einen Hand und den Reichsapfel in der andern. ``Warte ein bißchen!'' sagte er und nahm den Apfel unter den Arm, um Johannes die Hand reichen zu können. Aber sowie er erfuhr, er sei ein Freier, fing er an so zu weinen, daß das Scepter sowohl wie der Apfel auf den Fußboden fielen und er die Augen mit seinem Schlafrock trocknen mußte. Der arme, alte König!

``Laß es sein,'' sagte er, ``es geht Dir schlecht wie allen andern. Nun, Du sollst es sehen.'' Dann führte er Johannes hinaus nach dem Lustgarten der Prinzessin. Da sah es erschrecklich aus! Oben an jedem Baum hingen drei, vier Königssöhne, die um die Prinzessin gefreit hatten, die Sachen aber nicht hatten raten können, die sie ihnen aufgegeben hatte. Jedesmal, wenn es wehte, klapperten alle Gerippe, sodaß die kleinen Vögel erschraken und nie in den Garten zu kommen wagten; alle Blumen waren an Menschenknochen aufgebunden und in Blumentöpfen standen Totenköpfe und grinsten. Das war wahrlich ein sonderbarer Garten für eine Prinzessin!

``Hier kannst Du es sehen!'' sagte der König. ``Es wird Dir ebenso wie all' den andern ergehen, die Du hier siehst. Unterlasse es deshalb lieber; Du machst mich wirklich unglücklich, denn ich nehme mir das sehr zu Herzen!''

Johannes küßte dem guten König die Hand und sagte, es werde schon gut gehen, denn er sei ganz entzückt von der schönen Prinzessin.

Da kam die Prinzessin selbst mit allen ihren Damen in den Schloßhof geritten; sie gingen deshalb zu ihr hinaus und sagten ihr guten Tag. Sie war wunderschön anzuschauen und reichte Johannes die Hand, und er hielt noch viel mehr von ihr als früher, sie konnte keine böse Hexe sein, wie alle Leute es ihr nachsagten. Dann gingen sie hinauf in den Saal, und die Diener boten ihnen Eingemachtes und Pfeffernüsse, aber der alte König war betrübt, er konnte gar nichts essen, und die Pfeffernüsse waren ihm auch zu hart.

Es wurde bestimmt, daß Johannes am nächsten Morgen wieder nach dem Schlosse kommen sollte, dann würden die Richter und der ganze Rat versammelt sein und hören, wie es ihm beim Raten ergehe. Wenn er gut dabei fahre, so sollte er dann noch zweimal kommen, aber es war noch nie jemand dagewesen, der das erste Mal geraten hatte, sie hatten alle das Leben verloren.

Johannes war gar nicht darum bekümmert, wie es ihm ergehen werde, er war vielmehr vergnügt, gedachte nur der schönen Prinzessin und glaubte ganz sicher, der liebe Gott werde ihm schon helfen, aber wie, das wußte er nicht, und wollte lieber nicht daran denken. Er tanzte auf der Landstraße dahin, als er nach dem Wirtshause zurückkehrte, wo der Reisekamerad auf ihn wartete.

Johannes konnte nicht fertig damit werden, zu erzählen, wie artig die Prinzessin gegen ihn gewesen und wie schön sie sei; er sehnte sich schon nach dem nächsten Tage, wo er in das Schloß sollte, um sein Glück mit Raten zu versuchen.

Aber der Reisekamerad schüttelte mit dem Kopfe und war ganz betrübt. ``Ich bin Dir gut!'' sagte er. ``Wir hätten noch lange zusammen sein können, und nun soll ich Dich schon verlieren! Du armer, lieber Johannes, ich könnte weinen, aber ich will am letzten Abend, den wir vielleicht zusammen sind, Deine Freude nicht stören. Wir wollen lustig sein, recht lustig; morgen, wenn Du fort bist, kann ich ungestört weinen.''

Alle Leute in der Stadt hatten erfahren, daß ein neuer Freier der Prinzessin angekommen war, und deshalb herrschte große Betrübnis. Das Schauspielhaus blieb geschlossen, alle Kuchenfrauen banden Flor um ihre Zuckerherzen, der König und die Priester lagen auf den Knieen in den Kirchen, es war allgemeine Betrübnis, denn man dachte, es könne Johannes nicht besser ergehen, als es allen den übrigen Freiern ergangen war.

Gegen Abend bereitete der Reisekamerad Punsch und sagte zu Johannes: ``Nun wollen wir recht lustig sein und auf der Prinzessin Gesundheit trinken.'' Als aber Johannes zwei Gläser getrunken hatte, wurde er so schläfrig, daß es ihm unmöglich war, die Augen offen zu halten, er versank in tiefen Schlaf. Der Reisekamerad hob ihn ganz sachte vom Stuhle auf und legte ihn in das Bett hinein, und als es dann dunkle Nacht wurde, nahm er die beiden großen Flügel, die er dem Schwan abgehauen hatte, und band sie sich an den Schultern fest; die größte Rute, die er von der Frau erhalten hatte, welche gefallen war und das Bein gebrochen hatte, steckte er in seine Tasche, öffnete das Fenster und flog so über die Stadt, gerade nach dem Schlosse hin, wo er sich in einen Winkel unter das Fenster setzte, welches in die Schlafstube der Prinzessin hineinging.

Es war ganz still in der großen Stadt. Nun schlug die Uhr drei viertel auf zwölf; das Fenster ging auf, und die Prinzessin flog in einem langen, weißen Mantel und mit schwarzen Flügeln über die Stadt weg, hinaus zu einem großen Berge; aber der Reisekamerad machte sich unsichtbar, sodaß sie ihn nicht sehen konnte, flog hinterher und peitschte die Prinzessin mit seiner Rute, daß Blut floß, wohin er schlug. Ah, das war eine Fahrt durch die Luft! Der Wind erfaßte ihren Mantel, der sich nach allen Seiten ausbreitete, gleich einem großen Schiffssegel, und der Mond schien durch denselben.

``Wie es hagelt! Wie es hagelt!'' sagte die Prinzessin bei jedem Schlage, den sie von der Rute bekam, und das geschah ihr schon recht. Endlich kam sie hinaus zum Berge und klopfte an. Es rollte gleich dem Donner, indem der Berg sich öffnete, und die Prinzessin ging hinein. Der Reisekamerad folgte ihr, denn niemand konnte ihn sehen, er war unsichtbar. Sie gingen durch einen großen, langen Gang, wo die Wände ganz besonders glänzten; es waren über tausend glühende Spinnen, die an der Mauer auf und ab liefen und wie Feuer leuchteten. Dann kamen sie in einen großen Saal, von Silber und Gold erbaut. Blumen, so groß als Sonnenblumen, rote und blaue, glänzten von den Wänden, aber niemand konnte die Blumen pflücken, denn die Stengel waren häßliche, giftige Schlangen, und die Blumen waren Feuer, welches ihnen aus dem Maule herausbrannte. Die ganze Decke war mit Johanniswürmern und himmelblauen Fledermäusen bedeckt, welche mit den dünnen Flügeln schlugen; es sah ganz schauerlich aus! Mitten auf dem Fußboden war ein Thron, der von vier Pferdegerippen, welche Zaumzeug von den roten Feuerspinnen hatten, getragen wurde; der Thron selbst war von milchweißem Glase, und die Kissen darauf waren kleine, schwarze Mäuse, die einander in den Schwanz bissen. Über demselben war ein Dach von rosenroten Spinngeweben, mit den niedlichsten, grünen, kleinen Fliegen besetzt, welche wie Edelsteine glänzten. Auf dem Throne saß ein alter Zauberer, mit einer Krone auf dem häßlichen Kopf und einem Scepter in der Hand. Er küßte die Prinzessin auf die Stirn, ließ sie sich zu seiner Seite auf den Thron setzen, und nun begann die Musik. Große, schwarze Heuschrecken spielten die Mundharmonika, und die Eule schlug sich auf den Leib, denn sie hatte keine Trommel. Das war ein possierliches Konzert. Kleine, schwarze Kobolde mit einem Irrlicht auf der Mütze tanzten im Saale herum. Niemand aber konnte den Reisekameraden erblicken; er hatte sich gerade hinter den Thron gestellt und hörte und sah alles.

Die Hofleute, die nun hereinkamen, waren fein und vornehm, aber der, welcher ordentlich sehen konnte, merkte wohl, wie es damit zusammenhing. Es waren nichts weiter als Besenstiele mit Kohlköpfen darauf, in die der Zauberer Leben gehext und welchen er gestickte Kleider gegeben hatte. Aber das war ja auch gleichgültig, sie wurden doch nur zum Staate gebraucht.

Nachdem nun etwas getanzt worden war, erzählte die Prinzessin dem Zauberer, daß sie einen neuen Freier erhalten habe, und fragte deshalb, woran sie denken solle, um ihn am nächsten Morgen danach zu fragen, wenn er nach dem Schlosse komme.

``Höre,'' sagte der Zauberer, ``das will ich Dir sagen! Du sollst etwas recht Leichtes wählen, denn so fällt er gar nicht darauf. Denke an Deinen Schuh. Das rät er nicht. Laß ihm dann den Kopf abhauen, doch vergiß nicht, wenn Du morgen Nacht wieder zu mir herauskommst, mir seine Augen zu bringen, denn die will ich essen!''

Die Prinzessin verneigte sich tief und sagte, sie werde die Augen nicht vergessen. Der Zauberer öffnete nun den Berg, und sie flog wieder zurück, aber der Reisekamerad folgte ihr und prügelte sie so sehr mit der Rute, daß sie tief seufzte über das starke Hagelwetter, und sich, so sehr sie konnte, beeilte, durch das Fenster in die Schlafstube zu gelangen; aber der Reisekamerad flog zum Wirtshause zurück, wo Johannes noch schlief, löste seine Flügel ab und legte sich dann auch auf das Bett, denn er konnte wohl ermüdet sein.

Es war ganz früh am Morgen, als Johannes erwachte, der Reisekamerad stand auch auf und erzählte, daß er diese Nacht einen ganz sonderbaren Traum von der Prinzessin und ihrem Schuh gehabt habe, und bat ihn deshalb, doch zu fragen, ob die Prinzessin nicht an ihren Schuh gedacht haben sollte, denn das war es ja, was er von dem Zauberer im Berge gehört hatte.

``Ich kann ebenso danach als nach etwas anderem fragen,'' sagte Johannes; ``vielleicht ist das ganz richtig, was Du geträumt hast, denn ich vertraue auf den lieben Gott, der mir schon helfen wird! Aber ich will Dir doch lebewohl sagen, denn wenn ich falsch rate, so bekomme ich Dich nie mehr zu sehen!''

Dann küßten sie sich, und Johannes ging in die Stadt nach dem Schlosse. Der ganze Saal war mit Menschen angefüllt, die Richter saßen in ihren Lehnstühlen und hatten Eiderdunenkissen hinter dem Kopfe, denn sie hatten so viel zu denken. Der alte König stand auf und trocknete seine Augen mit einem weißen Taschentuche. Nun trat die Prinzessin herein; sie war noch viel schöner als gestern und grüßte alle lieblich, aber dem Johannes gab sie die Hand und sagte: ``Guten Morgen, Du!''

Nun sollte Johannes raten, woran sie gedacht habe. Wie sah sie ihn so freundlich an, aber sowie sie ihn das Wort ``Schuh'' aussprechen hörte, wurde sie kreideweiß im Gesicht und zitterte am ganzen Körper; aber das konnte ihr nichts helfen, denn er hatte richtig geraten!

Wie wurde der alte König vergnügt! Er schoß einen Purzelbaum, daß es eine Lust war, und alle Leute klatschten in die Hände für ihn und für Johannes, der das erste Mal richtig geraten hatte.

Der Reisekamerad war auch erfreut, als er erfuhr, wie gut es abgelaufen war; aber Johannes faltete seine Hände und dankte Gott, der ihm sicher die beiden andern Male wieder helfen werde. Am nächsten Tage sollte schon wieder geraten werden.

Der Abend verging ebenso wie der gestrige. Als Johannes schlief, flog der Reisekamerad hinter der Prinzessin her zum Berge hinaus und prügelte noch stärker, als das vorige Mal, denn nun hatte er zwei Ruten genommen; niemand bekam ihn zu sehen, und er hörte alles. Die Prinzessin wollte an ihren Handschuh denken, und das erzählte er wieder dem Johannes, gerade als ob es ein Traum sei; so konnte derselbe richtig raten, und es verursachte eine große Freude auf dem Schlosse. Der ganze Hof schoß Purzelbäume, gerade so wie er es den König das erste Mal hatte machen sehen; aber die Prinzessin lag auf dem Sopha und wollte nicht ein einziges Wort sagen. Nun kam es darauf an, ob Johannes das dritte Mal richtig raten konnte. Glückte es, so sollte er ja die schöne Prinzessin haben und nach dem Tode des alten Königs das ganze Königreich erben; riet er falsch, so sollte er sein Leben verlieren und der Zauberer würde seine schönen, blauen Augen essen.

Den Abend vorher ging Johannes zeitig zu Bette, betete sein Abendgebet und schlief dann ruhig, aber der Reisekamerad band seine Flügel an den Rücken, schnallte den Säbel an seine Seite, nahm alle drei Ruten mit sich, und so flog er nach dem Schlosse.

Es war ganz finstere Nacht; es stürmte so, daß die Dachsteine von den Häusern flogen, und die Bäume drinnen im Garten, wo die Gerippe hingen, sich gleich dem Schilfe vom Sturmwind bogen; es blitzte jeden Augenblick, und der Donner rollte gerade, als ob es nur ein einziger Schlag sei, der die ganze Nacht währte. Nun ging das Fenster auf, und die Prinzessin flog heraus; sie war so bleich wie der Tod, aber sie lachte über das böse Wetter, meinte, es sei noch nicht stark genug, und ihr weißer Mantel wirbelte in der Luft herum gleich einem großen Schiffssegel. Aber der Reisekamerad peitschte sie mit drei Ruten, daß das Blut auf die Erde tröpfelte und sie zuletzt kaum weiter fliegen konnte. Endlich kam sie doch nach dem Berge.

``Es hagelt und stürmt,'' sagte sie; ``nie bin ich in solchem Wetter aus gewesen.''

``Man kann auch des Guten zu viel haben,'' sagte der Zauberer. Nun erzählte sie ihm, daß Johannes auch das zweite Mal richtig geraten habe; wenn er dasselbe morgen thue, so habe er gewonnen, und sie könne nie mehr nach dem Berge hinauskommen, werde nie mehr solche Zauberkünste wie früher machen können; deshalb war sie ganz betrübt.

``Er soll es nicht raten können!'' sagte der Zauberer. ``Ich werde schon etwas erdenken, was er sich nie gedacht hat, oder er müßte ein größerer Zauberer sein, als ich. Aber nun wollen wir lustig sein!'' Und damit faßte er die Prinzessin bei beiden Händen und sie tanzten mit allen den kleinen Kobolden und Irrlichtern herum, die in dem Zimmer waren, die roten Spinnen sprangen an den Wänden ebenso lustig auf und nieder; es sah aus, als ob Feuerblumen sprühten. Die Eulen schlugen auf die Trommel, die Heimchen pfiffen und die schwarzen Heuschrecken bliesen die Mundharmonika. Es war ein lustiger Ball!

Als sie nun lange genug getanzt hatten, mußte die Prinzessin nach Hause, sonst wäre sie im Schlosse vermißt worden; der Zauberer sagte, daß er sie begleiten wolle, dann seien sie doch noch unterwegs beisammen.

Dann flogen sie im bösen Wetter davon, und der Reisekamerad schlug seine drei Ruten auf ihren Rücken entzwei; nie war der Zauberer in solchem Hagelwetter aus gewesen. Draußen vor dem Schlosse sagte er der Prinzessin lebewohl und flüsterte ihr zugleich zu: ``Denke an meinen Kopf!'' Aber der Reisekamerad hörte es wohl und gerade in dem Augenblicke, als die Prinzessin durch das Fenster in ihr Schlafzimmer schlüpfen und der Zauberer wieder umkehren wollte, ergriff er ihn an seinem langen, schwarzen Barte und hieb mit seinem Säbel seinen häßlichen Zauberkopf gerade bei den Schultern ab, sodaß der Zauberer ihn nicht einmal selbst zu sehen bekam; den Körper warf er hinaus in den See zu den Fischen, doch den Kopf tauchte er nur in das Wasser und band ihn dann in sein Taschentuch, nahm ihn mit nach dem Wirtshause und legte sich schlafen.

Am nächsten Morgen gab er Johannes das Taschentuch und sagte ihm dabei, daß er es nicht eher aufbinden dürfe, als bis die Prinzessin frage, woran sie gedacht habe.

Es waren so viele Menschen in dem großen Saale auf dem Schlosse, daß sie so dicht standen wie Radieschen, die in ein Bündel zusammengeknüpft sind. Der Rat saß in seinen Stühlen mit den weichen Kopfkissen, und der alte König hatte neue Kleider an, die goldene Krone und Scepter waren poliert, es sah ganz feierlich aus; aber die Prinzessin war ganz bleich und hatte ein kohlschwarzes Kleid an, als gehe sie zum Begräbnis.

``Woran habe ich gedacht?'' fragte sie Johannes, und sogleich band er das Taschentuch auf und erschrak selbst ganz gewaltig, als er das häßliche Zauberhaupt erblickte. Es schauderte allen Menschen, denn es war erschrecklich anzusehen, aber die Prinzessin saß gerade wie ein Steinbild und konnte nicht ein einziges Wort sagen; zuletzt erhob sie sich und reichte Johannes die Hand, denn er hatte ja richtig geraten; sie sah ihn nicht an, sondern seufzte ganz laut: ``Nun bist Du mein Herr! Diesen Abend wollen wir Hochzeit halten!''

``Das gefällt mir!'' sagte der alte König; ``so wollen wir es haben!'' Alle Leute riefen Hurra, die Wache machte Musik in den Straßen, die Glocken wurden geläutet, und die Kuchenfrauen nahmen den schwarzen Flor von ihren Zuckerherzen, denn nun herrschte Freude. Drei ganze gebratene Ochsen, mit Enten und Hühnern gefüllt, wurden mitten auf den Markt gesetzt, jeder konnte sich ein Stück abschneiden, in den Wasserkünsten sprudelte der schönste Wein, und kaufte man eine Brezel beim Bäcker, so bekam man sechs große Zwiebacke als Zugabe und den Zwieback mit Rosinen darin.

Am Abend war die ganze Stadt erleuchtet und die Soldaten schossen mit Kanonen und die Knaben mit Knallerbsen, und es wurde gegessen und getrunken, angestoßen und gesprungen oben im Schlosse, alle vornehmen Herren und schönen Fräuleins tanzten mit einander; man konnte in weiter Ferne hören, wie sie sangen:

\AMquote{
        Hier sind viele hübsche Mädchen, \\
        Die gerne tanzen rund herum, \\
        Dreh'n sich wie Spinnrädchen; \\
        Hübsches Mädchen dreh' Dich um. \\
        Tanzt und springet immer zu, \\
        Bis die Sohle fällt vom Schuh.
}

Aber die Prinzessin war ja noch eine Hexe und mochte Johannes gar nicht leiden; das fiel dem Reisekamerad ein, und deshalb gab er Johannes drei Federn aus den Schwanenflügeln und eine kleine Flasche mit einigen Tropfen darin, sagte ihm dann, daß er ein großes Faß, mit Wasser gefüllt, vor das Bett der Prinzessin setzen lassen solle, und wenn die Prinzessin hineinsteigen wolle, solle er ihr einen kleinen Stoß geben, sodaß sie in das Wasser hinunterfalle, wo er sie dreimal untertauchen müsse, nachdem er vorher die Federn und die Tropfen hineingeschüttet habe; dann werde sie ihre Zauberei verlieren und ihn recht lieb haben.

Johannes that alles, was der Reisekamerad ihm geraten hatte. Die Prinzessin schrie laut auf, indem sie unter das Wasser tauchte, und zappelte ihm unter den Händen als ein großer, schwarzer Schwan mit funkelnden Augen; als sie das zweite Mal wieder über das Wasser heraufkam, war der Schwan weiß bis auf einen schwarzen Ring um den Hals. Johannes betete fromm zu Gott und ließ das Wasser das dritte Mal über den Vogel zusammenschlagen, und im selben Augenblicke wurde er in die schönste Prinzessin verwandelt. Sie war noch schöner als zuvor und dankte ihm mit Thränen in ihren herrlichen Augen, daß er ihre Bezauberung gehoben habe.

Am nächsten Morgen kam der alte König mit seinem ganzen Hofstaat, und da gab es ein Glückwünschen bis spät in den Tag hinein. Zu allerletzt kam der Reisekamerad; er hatte seinen Stock in der Hand und das Ränzel auf dem Rücken. Johannes küßte ihn vielmal und sagte, er dürfe nicht fortreisen, er solle bei ihm bleiben, denn er sei ja die Ursache seines ganzen Glückes. Aber der Reisekamerad schüttelte mit dem Kopfe und sagte mild und freundlich: ``Nein, nun ist meine Zeit um. Ich habe nur meine Schuld bezahlt. Erinnerst Du Dich des toten Mannes, dem die bösen Menschen Übles thun wollten? Du gabst alles, was Du besaßest, damit er Ruhe in seinem Grabe haben könnte. Der Tote bin ich!''

Zu gleicher Zeit war er verschwunden.

Die Hochzeit währte einen ganzen Monat. Johannes und die Prinzessin liebten einander innig, und der alte König erlebte manche frohe Tage und ließ ihre kleinen Kinderchen auf seinen Knieen reiten und mit seinem Scepter spielen; aber Johannes wurde König über das ganze Land.

Die kleine Seejungfrau

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\AMsection{Die kleine Seejungfrau}

Weit hinaus im Meer ist das Wasser so blau, wie die Blätter der schönsten Kornblume, und so klar, wie das reinste Glas, aber es ist sehr tief, tiefer als irgend ein Ankertau reicht; viele Kirchtürme müßten auf einander gestellt werden, um vom Boden bis über das Wasser zu reichen.

Nun muß man aber nicht glauben, daß da nur der weiße Sandboden sei; nein, da wachsen die sonderbarsten Bäume und Pflanzen, die so geschmeidig im Stiel und in den Blättern sind, daß sie sich bei der geringsten Bewegung des Wassers rühren, gerade als ob sie lebten. Alle Fische, kleine und große, schlüpfen zwischen den Zweigen hindurch, ebenso wie hier oben die Vögel in der Luft. An der allertiefsten Stelle liegt des Meerkönigs Schloß, die Mauern sind von Korallen und die langen, spitzen Fenster vom allerklarsten Bernstein; aber das Dach bilden Muschelschalen, die sich öffnen und schließen, je nachdem das Wasser strömt. Das sieht herrlich aus, denn in jeder liegen strahlende Perlen; eine einzige würde in der Krone einer Königin die größte Pracht geben.

Der Meerkönig dort unten war seit vielen Jahren Witwer gewesen, während seine alte Mutter bei ihm wirtschaftete. Sie war eine kluge Frau, aber stolz auf ihren Adel, deshalb trug sie zwölf Austern auf dem Schwanze, die anderen Vornehmen durften nur sechs tragen. --- Sonst verdiente sie großes Lob, besonders weil sie viel von den kleinen Meerprinzessinnen, ihren Enkelinnen, hielt. Es waren sechs schöne Kinder, aber die jüngste war die schönste von allen, ihre Haut war so klar und fein wie ein Rosenblatt, ihre Augen so blau wie die tiefste See, aber wie all' die andern hatte sie keine Füße, ihr Körper endete in einen Fischschwanz.

Den ganzen Tag konnten sie unten im Schlosse, in den großen Sälen, wo lebendige Blumen aus den Wänden hervorwuchsen, spielen. Die großen Bernsteinfenster wurden aufgemacht, und dann schwammen die Fische zu ihnen herein, wie bei uns die Schwalben hereinfliegen, wenn wir die Fenster aufmachen. Doch die Fische schwammen gerade zu den Prinzessinen hin, fraßen aus ihren Händen und ließen sich streicheln.

Draußen vor dem Schlosse war ein großer Garten mit feuerroten und dunkelblauen Bäumen; die Früchte strahlten wie Gold, und die Blumen wie brennendes Feuer, indem sie fortwährend Stengel und Blätter bewegten. Die Erde selbst war der feinste Sand, aber blau, wie die Schwefelflamme. Über dem Ganzen lag ein eigentümlich blauer Schein, man hätte eher glauben mögen, daß man hoch in der Luft stehe und nur Himmel über und unter sich habe, als daß man auf dem Grund des Meeres sei. Während der Windstille konnte man die Sonne erblicken, sie erschien wie eine Purpurblume, aus deren Kelch alles Licht ausströmte.

Eine jede der kleinen Prinzessinnen hatte ihren kleinen Fleck im Garten, wo sie graben und pflanzen konnte, wie es ihr gefiel. Die eine gab ihrem Blumenfleck die Gestalt eines Walfisches, einer andern gefiel es besser, daß der ihrige einem kleinen Meerweib gleiche, aber die jüngste machte den ihrigen ganz rund, der Sonne gleich, und hatte nur Blumen, die rot wie diese schienen. Sie war ein wunderbares Kind, still und nachdenkend, und wenn die andern Schwestern mit den seltsamen Sachen, welche sie von gestrandeten Schiffen erhalten hatten, Staat machten, wollte sie nur außer den rosenroten Blumen, die der Sonne dort oben glichen, ein hübsches Marmorbild haben; es war ein herrlicher Knabe, aus weißem, klaren Stein gehauen, der beim Stranden auf den Meeresgrund gekommen war. Sie pflanzte bei dem Bilde eine rosenrote Trauerwinde, die wuchs herrlich und hing mit ihren frischen Zweigen über denselben hinweg, gegen den blauen Sandboden hinunter, wo der Schatten sich bläulich zeigte und gleich den Zweigen in Bewegung war; es sah aus, als ob die Spitze und die Wurzeln mit einander spielten, als wollten sie sich küssen.

Es gab keine größere Freude für sie, als von der Menschenwelt dort oben zu hören; die alte Großmutter mußte alles, was sie von Schiffen und Städten, Menschen und Tieren wußte, erzählen. Hauptsächlich erschien ihr ganz besonders schön, daß oben auf der Erde die Blumen duften, das thaten sie auf dem Grunde des Meeres nicht, und daß die Wälder grün sind, und daß die Fische, die man dort zwischen den Bäumen erblickt, so laut und herrlich singen können, daß es eine Lust ist; das waren die kleinen Vögel, welche die Großmutter Fische nannte, denn sonst konnten die Kinder sie nicht verstehen, da sie noch keinen Vogel erblickt hatten.

``Wenn Ihr Euer fünfzehntes Jahr erreicht habt,'' sagte die Großmutter, ``dann sollt Ihr die Erlaubnis erhalten, aus dem Wasser empor zu tauchen, im Mondschein auf der Klippe zu sitzen und die großen Schiffe, die vorbei segeln, zu sehen, Wälder und Städte werdet Ihr dann erblicken!'' In dem kommenden Jahr war die eine der Schwestern fünfzehn Jahr alt, aber die andern, da war eine immer ein Jahr jünger als die andere, die jüngste von ihnen hatte demnach noch volle fünf Jahre zu warten, bevor sie aus dem Grund des Meeres hinauf kommen und sehen konnte, wie es bei uns aussah. Aber die eine versprach der andern zu erzählen, was sie erblickt, was sie am ersten Tag am schönsten gefunden habe; denn ihre Großmutter erzählte ihnen nicht genug, da war vieles, worüber sie Auskunft haben wollten.

Keine war so sehnsüchtig, als die Jüngste, gerade sie, die noch die längste Zeit zu warten hatte, und die so still und gedankenvoll war. Manche Nacht stand sie am offenen Fenster und sah durch das dunkelblaue Wasser empor, wie die Fische mit ihren Flossen und Schwänzen schlugen. Mond und Sterne konnte sie sehen, freilich schienen sie ganz bleich, aber durch das Wasser sahen sie weit größer aus, als vor unsern Augen. Zog dann etwas einer schwarzen Wolke gleich unter ihnen hin, so wußte sie, daß es entweder ein Walfisch, der über ihr schwamm, oder auch ein Schiff mit vielen Menschen war; die dachten sicher nicht daran, daß eine liebliche, kleine Seejungfrau unten stehe und ihre weißen Hände gegen den Kiel emporstreckte.

Nun war die älteste Prinzessin fünfzehn Jahre alt und durfte über die Meeresfläche emporsteigen.

Als sie zurückkehrte, hatte sie hunderterlei zu erzählen, aber das Schönste, sagte sie, war im Mondschein auf einer Sandbank in der ruhigen See zu liegen, und nahebei die Küste mit der großen Stadt zu betrachten, wo die Lichter gleich hundert Sternen blinkten, die Musik und den Lärm und das Toben von Wagen und Menschen zu hören, die vielen Kirchtürme und Spitzen zu sehen, und das Läuten der Glocken zu hören Gerade weil sie noch nicht da hinauf gelangen konnte, sehnte die Jüngste sich am allermeisten nach allem diesem.

O, wie horchte sie auf, und wenn sie später des Abends am Fenster stand und durch das dunkelblaue Wasser emporblickte, gedachte sie der großen Stadt mit all' dem Lärm und Toben, und dann glaubte sie die Kirchenglocken bis zu sich herunter läuten hören zu können.

Im folgenden Jahre erhielt die zweite Schwester die Erlaubnis, durch das Wasser empor zu steigen und zu schwimmen, wohin sie wolle. Sie tauchte auf, eben als die Sonne unterging, und dieser Anblick, fand sie, war das Schönste. Der ganze Himmel habe wie Gold ausgesehen, sagte sie, und die Wolken, ja, deren Schönheit konnte sie nicht genug beschreiben; rot und blau waren sie über ihr dahin gesegelt, aber weit schneller als diese, flog, einem langen, weißen Schleier gleich, ein Schwarm wilder Schwäne über das Wasser hin, wo die Sonne stand. Sie schwammen derselben entgegen, aber die Sonne sank, und der Rosenschein erlosch auf der Meeresfläche und den Wolken.

Das Jahr darauf kam die dritte Schwester hinauf; sie war die mutigste von allen, deshalb schwamm sie einen breiten Fluß aufwärts, der in das Meer ausmündete. Herrlich grüne Hügel mit Weinranken erblickte sie, Schlösser und Gehöfte schimmerten durch prächtige Wälder hervor; sie hörte, wie alle Vögel sangen, und die Sonne schien so warm, daß sie oft unter das Wasser tauchen mußte, um ihr brennendes Antlitz abzukühlen. In einer kleinen Bucht traf sie einen ganzen Schwarm kleiner Menschenkinder, ganz nackt liefen sie und plätscherten im Wasser; sie wollte mit ihnen spielen, aber diese liefen erschrocken davon, und es kam ein kleines, schwarzes Tier, das war ein Hund, aber sie hatte nie einen Hund gesehen, der bellte sie so erschrecklich an, daß ihr bange wurde und sie die offene See zu erreichen suchte. Aber nie konnte sie die prächtigen Wälder, die grünen Hügel und die niedlichen Kinder vergessen, die im Wasser schwimmen konnten, obgleich sie keinen Fischschwanz hatten.

Die vierte Schwester war nicht so kühn, sie blieb draußen mitten im wilden Meer, und erzählte, daß es dort am schönsten sei; man sehe ringsumher, viele Meilen weit, und der Himmel stehe wie eine Glasglocke darüber. Schiffe hatte sie gesehen, aber nur in weiter Ferne, sie sahen wie Strandmöven aus, und die possierlichen Delphine hatten Purzelbäume geschossen, und die großen Walfische aus ihren Nasenlöchern Wasser emporgespritzt, sodaß es ausgesehen hatte, wie hunderte von Springbrunnen ringsumher.

Nun kam die Reihe an die fünfte Schwester; ihr Geburtstag fiel gerade im Winter, und deshalb sah sie, was die andern das erste Mal nicht gesehen hatten. Die See nahm sich ganz grün aus, und ringsumher schwammen große Eisberge, ein jeder sah wie eine Perle aus, sagte sie, und war doch weit größer als die Kirchtürme, welche die Menschen bauen. Sie zeigten sich in den sonderbarsten Gestalten und glänzten wie Diamanten. Sie hatte sich auf einen der allergrößten gesetzt und alle Segler kreuzten erschrocken draußen herum, wo sie saß und den Wind mit ihrem langen Haar spielen ließ; aber gegen Abend hatte sich der Himmel mit Wolken überzogen, es blitzte und donnerte, während die schwarze See die großen Eisblöcke hoch emporhob und sie beim roten Blitz erglänzen ließ. Auf allen Schiffen nahm man die Segel ein, da war eine Angst und ein Grauen, aber sie saß ruhig auf ihrem schwimmenden Eisberge und sah die blauen Blitzstrahlen im Zickzack in die schimmernde See fahren.

Das erste Mal, wenn eine der Schwestern über das Wasser empor kam, war eine jede entzückt über das Neue und Schöne, was sie erblickte; aber da sie nun als erwachsene Mädchen die Erlaubnis hatten, hinaufzusteigen wann sie wollten, wurde es ihnen gleichgültig. Sie sehnten sich wieder zurück, und nach Verlauf eines Monats sagten sie, daß es da unten bei ihnen am allerschönsten sei, und da sei man hübsch zu Hause.

In mancher Abendstunde nahmen die fünf Schwestern einander in die Arme und stiegen in einer Reihe über das Wasser auf; herrliche Stimmen hatten sie, schöner als irgend ein Mensch, und wenn dann ein Sturm im Anzug war, sodaß sie vermuten konnten, daß Schiffe untergehen würden, schwammen sie vor den Schiffen her und sangen lieblich, wie schön es auf dem Grunde des Meeres sei, und baten die Seeleute, sich nicht zu fürchten, da hinunter zu kommen; aber diese konnten die Worte nicht verstehen, und glaubten, es sei der Sturm, und sie bekamen auch die Herrlichkeiten dort unten nicht zu sehen, denn wenn das Schiff sank, ertranken die Menschen und kamen als Leichen zu des Meerkönigs Schloß.

Wenn die Schwestern so des Abends, Arm in Arm, hoch durch das Wasser hinauf stiegen, dann stand die kleine Schwester ganz allein, und sah ihnen nach, und es war ihr, als ob sie weinen müßte, aber die Seejungfrau hat keine Thränen, und darum leidet sie weit mehr.

``Ach, wäre ich doch fünfzehn Jahre alt!'' sagte sie. ``Ich weiß, daß ich die Welt dort oben und die Menschen, die darauf wohnen, recht lieben werde.''

Endlich war sie fünfzehn Jahre alt.

``Sieh, nun bist Du erwachsen!'' sagte die Großmutter, die alte Königin-Witwe. ``Komm, nun laß mich Dich schmücken, gleich Deinen andern Schwestern!'' Und sie setzte ihr einen Kranz weißer Lilien auf das Haar, aber jedes Blatt in der Blume war die Hälfte einer Perle; und die Alte ließ acht große Austern sich im Schwanze der Prinzessin festklemmen, um ihren hohen Rang zu zeigen.

``Das thut weh!'' sagte die kleine Seejungfrau.

``Ja, Hoffart muß Zwang leiden!'' sagte die Alte.

O, sie hätte gern alle diese Pracht abschütteln und den schweren Kranz ablegen mögen, ihre roten Blumen im Garten kleideten sie besser, aber sie konnte es nun nicht ändern. ``Lebt wohl!'' sprach sie, und stieg leicht und klar, gleich einer Blase, durch das Wasser auf.

Die Sonne war eben untergegangen, als sie den Kopf über das Wasser erhob, aber alle Wolken glänzten noch wie Rosen und Gold, und inmitten der blaßroten Luft strahlte der Abendstern hell und schön, die Luft war mild und frisch, und das Meer ganz ruhig. Da lag ein großes Schiff mit drei Masten, ein einziges Segel war nur aufgezogen, denn es rührte sich kein Lüftchen, und ringsumher im Tauwerk und auf den Stangen saßen Matrosen. Da war Musik und Gesang, und wie der Abend dunkler ward, wurden Hunderte von bunten Laternen angezündet; sie sahen aus als ob die Flaggen aller Völker in der Luft wehten. Die kleine Seejungfrau schwamm bis zum Kajütenfenster hin, und jedesmal, wenn das Wasser sie emporhob, konnte sie durch die spiegelklaren Fensterscheiben blicken, wo viele geputzte Menschen standen; aber der schönste war doch der junge Prinz mit den großen, schwarzen Augen. Er war sicher nicht mehr als fünfzehn Jahre alt; heute war sein Geburtstag und deshalb herrschte all' diese Pracht. Die Matrosen tanzten auf dem Verdeck, und als der junge Prinz da hinaustrat, stiegen über hundert Raketen in die Luft, die leuchteten wie der helle Tag, sodaß die kleine Seejungfrau sehr erschrak und unter das Wasser tauchte, aber sie steckte bald den Kopf wieder hervor, und da war es gerade, als ob alle Sterne des Himmels zu ihr herunter fielen. Nie hatte sie solche Feuerkünste gesehen. Große Sonnen sprühten herum, prächtige Feuerfische flogen in die blaue Luft, und alles glänzte in der klaren, stillen See wieder. Auf dem Schiffe selbst war es so hell, daß man jedes kleine Tau, wie viel mehr die Menschen sehen konnte. O, wie war doch der junge Prinz hübsch, und er drückte den Leuten die Hände und lächelte, während die Musik in der herrlichen Nacht erklang!

Es wurde spät, aber die kleine Seejungfrau konnte ihre Augen nicht von dem Schiffe und dem schönen Prinzen wegwenden. Die bunten Laternen wurden ausgelöscht, Raketen stiegen nicht mehr in die Höhe, es ertönten auch keine Kanonenschüsse mehr, aber tief unten im Meer summte und brummte es. Inzwischen saß sie auf dem Wasser und schaukelte auf und nieder, sodaß sie in die Kajüte hineinblicken konnte; aber das Schiff bekam mehr Wind, ein Segel nach dem andern breitete sich aus, nun gingen die Wogen stärker, große Wolken zogen auf, es blitzte in der Ferne. O, es wird ein erschrecklich böses Wetter werden; deshalb nahmen die Matrosen die Segel ein. Das große Schiff schaukelte in fliegender Fahrt auf der wilden See, das Wasser erhob sich, gleich großen, schwarzen Bergen, die über die Maste wälzen wollten, aber das Schiff tauchte einem Schwan gleich zwischen den hohen Wogen nieder, und ließ sich wieder auf die aufgetürmten Wasser heben. Der kleinen Seejungfrau bedünkte es eine recht lustige Fahrt zu sein, aber so erschien es den Seeleuten nicht. Das Schiff knackte und krachte, die dicken Planken bogen sich bei den starken Stößen, die See drang in das Schiff hinein, der Mast brach mitten durch, als ob er ein Rohr wäre und das Schiff legte sich auf die Seite, während das Wasser in den Raum eindrang. Nun sah die kleine Seejungfrau, daß sie in Gefahr waren, sie mußte sich selbst vor Balken und Stücken vom Schiff, die auf dem Wasser trieben, in acht nehmen. Einen Augenblick war es so stockdunkel, daß sie nicht das mindeste wahrnehmen konnte, aber wenn es dann blitzte, wurde es wieder so hell, daß sie alle auf dem Schiff erkennen konnte; besonders suchte sie den jungen Prinzen, und sie sah ihn, als das Schiff verschwand, in das tiefe Meer versinken. Zuerst wurde sie ganz vergnügt, denn nun kam er zu ihr hinunter, aber da gedachte sie, daß die Menschen nicht im Wasser leben können, und daß er nicht anders als tot zum Schlosse ihres Vaters hinuntergelangen konnte. Nein, sterben, das durfte er nicht; deshalb schwamm sie hin zwischen Balken und Planken, die auf der See trieben, und vergaß völlig, daß diese sie hätten zerquetschen können; sie tauchte tief unter das Wasser und stieg wieder hoch zwischen den Wogen empor, und gelangte am Ende so zu dem jungen Prinzen hin, der fast nicht länger in der stürmenden See schwimmen konnte; seine Arme und Beine begannen zu ermatten, die schönen Augen schlossen sich, er hätte sterben müssen, wäre die kleine Seejungfrau nicht hinzugekommen. Sie hielt seinen Kopf über dem Wasser empor, und ließ sich dann mit ihm von den Wogen treiben, wohin sie wollten.

Am Morgen war das böse Wetter vorüber, von dem Schiffe war keine Spur zu erblicken, die Sonne stieg rot und glänzend aus dem Wasser empor, es war, als ob des Prinzen Wangen Leben dadurch erhielten, aber die Augen blieben geschlossen. Die Seejungfrau küßte seine hohe, schöne Stirn und strich sein nasses Haar zurück; es kam ihr vor, als gleiche er dem Marmorbilde unten in ihrem kleinen Garten, sie küßte ihn wieder, und wünschte, daß er noch leben möchte.

Nun erblickte sie vor sich das feste Land, hohe, blaue Berge, auf deren Gipfel der weiße Schnee erglänzte, als wären es Schwäne, die dort lägen; unten an der Küste waren herrliche, grüne Wälder, und vorn lag eine Kirche oder ein Kloster, das wußte sie nicht recht, aber ein Gebäude war es. Citronen- und Apfelsinenbäume wuchsen im Garten, und vor dem Thor standen hohe Palmbäume. Die See bildete hier eine kleine Bucht, da war es ganz still, aber sehr tief; hierher bis zur Klippe, wo der weiße, feine Sand aufgespült war, schwamm sie mit dem schönen Prinzen, legte ihn in den Sand, und sorgte besonders dafür, daß der Kopf hoch im warmen Sonnenschein lag.

Nun läuteten die Glocken in dem großen, weißen Gebäude, und es kamen viele junge Mädchen durch den Garten. Da schwamm die kleine Seejungfrau weiter hinaus, hinter einige hohe Steine, die aus dem Wasser emporragten, legte Seeschaum auf ihr Haar und ihre Brust, sodaß niemand ihr kleines Antlitz sehen konnte, und dann paßte sie auf, wer zu dem armen Prinzen kommen würde.

Es währte nicht lange, bis ein junges Mädchen dorthin kam; sie schien sehr zu erschrecken, aber nur einen Augenblick, dann holte sie mehrere Menschen, und die Seejungfrau sah, daß der Prinz zum Leben zurückkehrte, und daß er alle ringsherum anlächelte, aber zu ihr hinaus lächelte er nicht, er wußte ja auch nicht, daß sie ihn gerettet hatte. Sie fühlte sich sehr betrübt, und als er in das große Gebäude hineingeführt wurde, tauchte sie traurig unter das Wasser und kehrte zum Schlosse ihres Vaters zurück.

Immer war sie still und nachdenkend gewesen, aber nun wurde sie es weit mehr. Die Schwestern fragten sie, was sie das erste Mal dort oben gesehen habe, aber sie erzählte nichts.

Manchen Abend und Morgen stieg sie da hinauf, wo sie den Prinzen verlassen hatte. Sie sah, wie die Früchte des Gartens reiften und abgepflückt wurden, sie sah, wie der Schnee auf den hohen Bergen schmolz, aber den Prinzen erblickte sie nicht, und deshalb kehrte sie immer betrübter heim. Da war es ihr einziger Trost, in ihrem kleinen Garten zu sitzen und ihre Arme um das schöne Marmorbild zu schlingen, das dem Prinzen glich, aber ihre Blumen pflegte sie nicht, die wuchsen, wie in einer Wildnis, über die Gänge hinaus und flochten ihre langen Stiele und Blätter in die Zweige der Bäume hinein, sodaß es dort ganz dunkel war.

Zuletzt konnte sie es nicht länger aushalten, sondern sagte es einer ihrer Schwestern, und da bekamen es gleich alle andern zu wissen, aber auch niemand sonst als diese und ein paar andere Seejungfrauen, die es nicht weiter sagten, außer ihren nächsten Freundinnen. Eine von ihnen wußte, wer der Prinz war, sie hatte auch das Fest auf dem Schiffe gesehen, und gab an, woher er war und wo sein Königsschloß lag.

Dieses war aus einer hellgelben, glänzenden Steinart aufgeführt, mit großen Marmortreppen, deren eine gerade in das Meer hinunter reichte. Prächtige vergoldete Kuppeln erhoben sich über dem Dache, und zwischen den Säulen, die um das Gebäude herumliefen, standen Marmorbilder, die sahen aus, als lebten sie. Durch das klare Glas in den hohen Fenstern blickte man in die prächtigsten Säle hinein, wo köstliche, seidene Vorhänge und Teppiche aufgehängt und alle Wände mit großen Gemälden geziert waren, sodaß es ein wahres Vergnügen war, sie zu betrachten. Mitten in dem größten Saal plätscherte ein großer Springbrunnen, seine Strahlen reichten hoch hinauf gegen die Glaskuppel in der Decke, durch welche die Sonne auf das Wasser und die schönen Pflanzen schien, die in dem großen Becken wuchsen.

Nun wußte sie, wo er wohnte, und dort war sie manchen Abend und manche Nacht auf dem Wasser; sie schwamm dem Lande weit näher, als eine der andern es gewagt hatte, ja sie ging den schmalen Kanal ganz hinauf, unter den prächtigen Marmoraltan, welcher einen langen Schatten über das Wasser hinwarf. Hier saß sie und betrachtete den jungen Prinzen, der glaubte, er sei ganz allein in dem klaren Mondschein.

Sie sah ihn manchen Abend mit Musik in seinem prächtigen Boote, wo die Flaggen wehten, segeln; sie lauschte durch das grüne Schilf hervor, und ergriff der Wind ihren langen, silberweißen Schleier, und jemand sah ihn, so glaubte er, es sei ein Schwan, der die Flügel ausbreite.

Sie hörte in mancher Nacht, wenn die Fischer mit Fackeln auf der See waren, daß sie viel Gutes von dem jungen Prinzen erzählten, und es freute sie, daß sie sein Leben gerettet hatte, als er halb tot auf den Wogen herumtrieb, und sie dachte daran, wie fest sein Haupt an ihrem Busen geruht, und wie herzlich sie ihn da geküßt hatte; er wußte gar nichts davon, konnte nicht einmal von ihr träumen.

Mehr und mehr fing sie an die Menschen zu lieben, mehr und mehr wünschte sie, unter ihnen umherwandeln zu können, deren Welt ihr weit größer zu sein schien, als die ihrige; sie konnten ja auf Schiffen über das Meer fliegen, auf den hohen Bergen hoch über die Wolken emporsteigen, und die Länder, die sie besaßen, erstreckten sich mit Wäldern und Feldern weiter, als ihre Blicke reichten. Da war so vieles, was sie zu wissen wünschte, aber die Schwestern wußten ihr nicht alles zu beantworten, deshalb fragte sie die alte Großmutter, und diese kannte die höhere Welt recht gut, die sie sehr richtig die Länder über dem Meer nannte.

``Wenn die Menschen nicht ertrinken,'' fragte die kleine Seejungfrau, ``können sie dann ewig leben, sterben sie nicht, wie wir unten im Meer?''

``Ja,'' sagte die Alte, ``sie müssen auch sterben, und ihre Lebenszeit ist sogar noch kürzer, als die unsere. Wir können dreihundert Jahre alt werden, aber wenn wir dann aufhören zu sein, so werden wir in Schaum auf dem Wasser verwandelt, haben nicht einmal ein Grab hier unten unter unsern Lieben. Wir haben keine unsterbliche Seele, wir erhalten nie wieder Leben, wir sind gleich dem grünen Schilf, ist das einmal durchschnitten, so kann es nicht wieder grünen. Die Menschen dahingegen haben eine Seele, die ewig lebt, lebt, nachdem der Körper zu Erde geworden ist; sie steigt durch die klare Luft empor hinauf zu allen den glänzenden Sternen! So wie wir aus dem Wasser auftauchen und die Länder der Menschen erblicken, so steigen sie zu unbekannten, herrlichen Orten auf, die wir nie zu sehen bekommen.''

``Warum bekamen wir keine unsterbliche Seele?'' fragte die kleine Seejungfrau betrübt. ``Ich möchte alle meine Hunderte von Jahren, die ich zu leben habe, dafür geben, um nur einen Tag ein Mensch zu sein und dann Anteil an der himmlischen Welt zu haben.''

``Daran mußt Du nicht denken!'' sagte die Alte. ``Wir fühlen uns weit glücklicher und besser, als die Menschen dort oben!''

``Ich werde also sterben und als Schaum auf dem Meer treiben, nicht die Musik der Wogen hören, die schönen Blumen und die rote Sonne sehen? Kann ich denn gar nichts thun, um eine unsterbliche Seele zu gewinnen?''

``Nein,'' sagte die Alte, ``nur wenn ein Mensch Dich so lieben würde, daß Du ihm mehr als Vater und Mutter wärest; wenn er mit all' seinem Denken und all' seiner Liebe an Dir hinge, und dem Prediger seine rechte Hand in die Deinige, mit dem Versprechen der Treue hier und in alle Ewigkeit, legen ließe, dann flösse seine Seele in Deinen Körper über, und auch Du erhieltest Anteil an der Glückseligkeit der Menschen. Er gäbe Dir Seele und behielt doch seine eigene. Aber das kann nie geschehen! Was hier im Meer gerade schön ist, Dein Fischschwanz, finden sie dort auf der Erde häßlich, sie verstehen es nun nicht besser, man muß dort zwei plumpe Stützen haben, die sie Beine nennen, um schön zu sein!''

Da seufzte die kleine Seejungfrau und sah betrübt auf ihren Fischschwanz.

``Laß uns froh sein!'' sagte die Alte. ``Hüpfen und springen wollen wir in den dreihundert Jahren, die wir zu leben haben. Das ist wahrlich lange Zeit genug, später kann man um so besser ausruhen. Heute Abend werden wir Hofball haben!''

Das war auch eine Pracht, wie man sie nie auf Erden erblickt. Die Wände und die Decke des großen Tanzsaales waren von dickem, aber klarem Glase. Mehrere hundert ungeheure Muschelschalen, rosenrote und grasgrüne, standen zu jeder Seite in Reihen mit einem blau brennenden Feuer, welches den ganzen Saal beleuchtete und durch die Wände hinausschien, sodaß die See draußen ganz beleuchtet war; man konnte alle die unzähligen Fische sehen, große und kleine, die gegen die Glasmauern hinschwammen; auf einigen glänzten die Schuppen purpurrot, auf andern erschienen sie wie Silber und Gold. --- Mitten durch den Saal floß ein breiter Strom, und auf diesem tanzten die Meermänner und Meerweibchen zu ihrem eigenen lieblichen Gesang. So schöne Stimmen haben die Menschen auf der Erde nicht. Die kleine Seejungfrau sang am schönsten von ihnen allen, sie wurde deshalb beklatscht, und einen Augenblick fühlte sie eine Freude in ihrem Herzen, denn sie wußte, daß sie die schönste Stimme von allen auf der Erde und im Meere hatte. Aber bald gedachte sie wieder der Welt oben über sich; sie konnte den hübschen Prinzen und ihren Kummer, daß sie keine unsterbliche Seele wie er besaß, nicht vergessen. Deshalb schlich sie sich aus ihres Vaters Schloß hinaus, und während alles drinnen Gesang und Frohsinn war, saß sie betrübt in ihrem kleinen Garten. Da hörte sie das Waldhorn durch das Wasser ertönen, und sie dachte: ``Nun segelt er sicher dort oben, er, von dem ich mehr halte, als von Vater und Mutter, er, an dem meine Sinne hängen und in dessen Hand ich meines Lebens Glück legen möchte. Alles will ich wagen, um ihn und eine unsterbliche Seele zu gewinnen! Während meine Schwestern dort in meines Vaters Schloß tanzen, will ich zur Meerhexe gehen, vor der ich mich immer gefürchtet habe, aber sie kann mir vielleicht raten und helfen!''

Nun ging die kleine Seejungfrau aus ihrem Garten hinaus nach den brausenden Strudeln hin, hinter denen die Hexe wohnte. Den Weg hatte sie früher nie zurückgelegt; da wuchsen keine Blumen, kein Seegras, nur der nackte, graue Sandboden erstreckte sich gegen die Strudel hin, wo das Wasser gleich brausenden Mühlrädern herumwirbelte und alles, was es erfaßte, mit sich in die Tiefe riß. Mitten zwischen diesen zermalmenden Wirbeln mußte sie hindurch, um in den Bereich der Meerhexe zu gelangen, und hier war ein langes Stück kein anderer Weg, als über warmen sprudelnden Schlamm, welchen die Hexe ihren Torfmoor nannte. Dahinter lag ihr Haus mitten in einem seltsamen Walde. Alle Bäume und Büsche waren Polypen, halb Tier, halb Pflanze, sie sahen aus, wie hundertköpfige Schlangen, die aus der Erde hervorwuchsen; alle Zweige waren lange, schleimige Arme, mit Fingern, wie geschmeidige Würmer, und Glied um Glied bewegten sie sich, von der Wurzel bis zur äußersten Spitze. Alles, was sie im Meer erfassen konnten, umschlangen sie fest und ließen es nie wieder fahren. Die kleine Seejungfrau blieb ganz erschrocken stehen; ihr Herz pochte vor Furcht, fast wäre sie umgekehrt, aber da dachte sie an den Prinzen und an die Seele des Menschen, und da bekam sie Mut. Ihr langes, fliegendes Haar band sie fest um das Haupt, damit die Polypen sie nicht daran ergreifen möchten, beide Hände legte sie über ihre Brust zusammen, und schoß so davon, wie der Fisch durch das Wasser schießen kann, zwischen den häßlichen Polypen hindurch, die ihre geschmeidigen Arme und Finger hinter ihr herstreckten. Sie sah, wie jeder von ihnen etwas, was er ergriffen hatte, mit Hunderten von kleinen Armen, gleich starken Eisenbanden, hielt. Menschen, die auf der See umgekommen und tief hinunter gesunken waren, sahen als weiße Gerippe aus den Armen der Polypen hervor. Schiffsruder und Kisten hielten sie fest, Knochen von Landtieren und ein kleines Meerweib, welches sie gefangen und erstickt hatten, das war ihr fast das Schrecklichste.

Nun kam sie zu einem großen, sumpfigen Platz im Walde, wo große, fette Wasserschlangen sich wälzten und ihren häßlichen weißgelben Bauch zeigten. Mitten auf dem Platze war ein Haus, von weißen Knochen gestrandeter Menschen errichtet, da saß die Meerhexe und ließ eine Kröte aus ihrem Munde fressen, gerade wie die Menschen einem kleinen Kanarienvogel Zucker zu essen geben. Die häßlichen, fetten Wasserschlangen nannte sie ihre Küchlein und ließ sie sich auf ihrer schwammigen Brust wälzen.

``Ich weiß schon was Du willst!'' sagte die Meerhexe; ``es ist zwar dumm von Dir, doch sollst Du Deinen Willen haben, denn er wird Dich ins Unglück stürzen, meine schöne Prinzessin. Du willst gern Deinen Fischschwanz los sein und statt dessen zwei Stützen gleich wie die Menschen zum Gehen haben, damit der junge Prinz verliebt in Dich werden möge, und Du ihn und eine unsterbliche Seele erhalten kannst!'' Dabei lachte die Hexe widerlich, sodaß die Kröte und die Schlange auf die Erde fielen, wo sie sich wälzten. ``Du kommst gerade zur rechten Zeit,'' sagte die Hexe, ``morgen, wenn die Sonne aufgeht, könnte ich Dir nicht helfen, bis wieder ein Jahr vorüber wäre. Ich werde Dir einen Trank bereiten, mit dem mußt Du, bevor die Sonne aufgeht, nach dem Lande schwimmen, Dich dort an das Ufer setzen und ihn trinken, dann schwindet Dein Schweif und schrumpft zu dem, was die Menschen niedliche Beine nennen, ein; aber das thut wehe, es ist, als ob ein scharfes Schwert Dich durchdränge. Alle, die Dich sehen, werden sagen, Du seiest das schönste Menschenkind, was sie gesehen haben! Du behältst Deinen schwebenden Gang, keine Tänzerin kann schweben wie Du, aber bei jedem Schritt, den Du machst, ist Dir, als ob Du auf scharfe Messer trätest, als ob Dein Blut fließen müßte. Willst Du alles dies leiden, so werde ich Dir helfen!''

``Ja!'' sagte die kleine Seejungfrau mit bebender Stimme, und gedachte des Prinzen und der unsterblichen Seele.

``Aber bedenke,'' sagte die Hexe, ``hast Du erst menschliche Gestalt bekommen, so kannst Du nie wieder eine Seejungfrau werden! Du kannst nie durch das Wasser zu Deinen Schwestern und zum Schlosse Deines Vaters zurückkehren, und gewinnst Du des Prinzen Liebe nicht, sodaß er für Dich Vater und Mutter vergißt, an Dir mit Leib und Seele hängt und den Prediger Eure Hände in einander legen läßt, daß Ihr Mann und Frau werdet, so bekommst Du keine unsterbliche Seele! Am ersten Morgen, nachdem er mit einer andern verheiratet ist, da wird Dein Herz brechen, und Du wirst zu Schaum auf dem Wasser.''

``Ich will es!'' sagte die kleine Seejungfrau und ward bleich wie der Tod.

``Aber Du mußt mich auch bezahlen!'' sagte die Hexe, ``und es ist nicht wenig, was ich verlange. Du hast die schönste Stimme von allen hier auf dem Grunde des Meeres, damit glaubst Du wohl, ihn bezaubern zu können, aber diese Stimme mußt Du mir geben. Das Beste, was Du besitzest, will ich für meinen köstlichen Trank haben! Mein eigen Blut muß ich Dir ja darin geben, damit der Trank scharf werde, wie ein zweischneidig Schwert!''

``Aber wenn Du meine Stimme nimmst,'' sagte die kleine Seejungfrau, ``was bleibt mir dann übrig?''

``Deine schöne Gestalt,'' sagte die Hexe, ``Dein schwebender Gang und Deine sprechenden Augen, damit kannst Du schon ein Menschenherz bethören. Nun, hast Du den Mut verloren? --- Strecke Deine kleine Zunge hervor, dann schneide ich sie an Zahlungs Statt ab, und Du erhältst den kräftigen Trank!''

``Es geschehe!'' sagte die kleine Seejungfrau und die Hexe setzte ihren Kessel auf, um den Zaubertrank zu kochen. ``Reinlichkeit ist eine gute Sache!'' sagte sie und scheuerte den Kessel mit den Schlangen ab, die sie in einen Knoten band; nun ritzte sie sich selbst in die Brust und ließ ihr schwarzes Blut dahinein tröpfeln; der Dampf bildete die sonderbarsten Gestalten, sodaß einem angst und bange werden mußte. Jeden Augenblick warf die alte Hexe neue Sachen in den Kessel, und als es recht kochte, klang es, als ob ein Krokodil weinte. Zuletzt war der Trank fertig, er sah aus wie das klarste Wasser.

``Da hast Du ihn!'' sagte die Hexe und schnitt der kleinen Seejungfrau die Zunge ab, die nun stumm war, weder singen noch sprechen konnte.

``Sollten die Polypen Dich ergreifen, wenn Du durch meinen Wald zurückkehrst,'' sagte die Hexe, ``so wirf nur einen einzigen Tropfen dieses Getränkes auf sie, davon zerspringen ihre Arme und Finger in tausend Stücke!'' Aber das brauchte die kleine Seejungfrau nicht zu thun, die Polypen zogen sich erschrocken von ihr zurück, als sie den glänzenden Trank erblickten, der in ihrer Hand leuchtete, als sei es ein funkelnder Stern. So kam sie schnell durch den Wald, den Moor und die brausenden Strudel.

Sie konnte ihres Vaters Schloß sehen, die Fackeln waren in dem großen Tanzsaal erloschen; sie schliefen sicher alle darin, aber sie wagte doch nicht, sie aufzusuchen, nun, da sie stumm war und sie auf immer verlassen wollte. Es war, als ob ihr Herz vor Trauer zerspringen sollte. Sie schlich in den Garten, nahm eine Blume von jedem Blumenbeet ihrer Schwestern, warf tausende von Kußfingern dem Schlosse zu und stieg durch die dunkelblaue See hinauf.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie des Prinzen Schloß erblickte und die prächtige Marmortreppe hinanstieg. Der Mond schien herrlich klar. Die kleine Seejungfrau trank den brennenden, scharfen Trank, und es war, als ginge ein zweischneidig Schwert durch ihren feinen Körper, sie fiel dabei in Ohnmacht und lag wie tot da. Als die Sonne über die See schien, erwachte sie und fühlte einen schneidenden Schmerz, aber vor ihr stand der schöne junge Prinz und heftete seine kohlschwarzen Augen auf sie, sodaß sie die ihrigen niederschlug. Da sah sie, daß ihr Fischschwanz fort war, und daß sie die niedlichsten, kleinen weißen Beine hatte, die nur ein Mädchen haben kann; aber sie war ganz nackt, deshalb hüllte sie sich in ihr großes, langes Haar ein. Der Prinz fragte, wer sie sei, und wie sie dahin gekommen sei, und sie sah ihn milde und doch betrübt mit ihren dunkelblauen Augen an, sprechen konnte sie ja nicht. Da nahm er sie bei der Hand und führte sie in das Schloß hinein. Bei jedem Schritt, den sie that, war ihr, wie die Hexe vorausgesagt hatte, als träte sie auf spitze Nadeln und scharfe Messer, aber das ertrug sie gern; an des Prinzen Hand stieg sie so leicht wie eine Seifenblase, und er sowie alle wunderten sich über ihren lieblichen, schwebenden Gang.

Köstliche Kleider von Seide und Musselin bekam sie nun anzuziehen, im Schlosse war sie die Schönste von allen, aber sie war stumm, konnte weder singen, noch sprechen. Herrliche Sklavinnen, in Seide und Gold gekleidet, kamen hervor und sangen vor dem Prinzen und seinen königlichen Eltern; eine sang schöner als alle die andern, und der Prinz klatschte in die Hände und lächelte sie an, da wurde die kleine Seejungfrau betrübt, sie wußte, daß sie selbst weit schöner gesungen hatte. ``O,'' dachte sie, ``er sollte nur wissen, daß ich, um bei ihm zu sein, meine Stimme für alle Ewigkeit dahingegeben habe.''

Nun tanzten die Sklavinnen niedliche, schwebende Tänze zur herrlichsten Musik; da erhob die kleine Seejungfrau ihre schönen, weißen Arme, richtete sich auf den Zehenspitzen empor und schwebte tanzend über den Fußboden hin, wie noch keine getanzt hatte; bei jeder Bewegung wurde ihre Schönheit noch sichtbarer, und ihre Augen sprachen tiefer zum Herzen, als der Gesang der Sklavinnen.

Alle waren entzückt davon, besonders der Prinz, der sie sein kleines Findelkind nannte, und sie tanzte immer fort, obwohl es jedesmal, wenn ihr Fuß die Erde berührte, war, als ob sie auf scharfe Messer träte. Der Prinz sagte, daß sie immer bei ihm sein solle, und sie erhielt die Erlaubnis, vor seiner Thür auf einem Samtkissen zu schlafen.

Er ließ ihr eine Männertracht machen, damit sie ihn zu Pferde begleiten könne. Sie ritten durch die duftenden Wälder, wo die grünen Zweige ihre Schultern berührten, und die kleinen Vögel hinter den frischen Blättern sangen. Sie kletterte mit dem Prinzen auf die hohen Berge hinauf, und obgleich ihre zarten Füße bluteten, sodaß die andern es sehen konnten, lachte sie doch darüber und folgte ihm, bis sie die Wolken unter sich segeln sahen, als wäre es ein Schwarm Vögel, die nach fremden Ländern zögen.

Zu Hause in des Prinzen Schloß, wenn nachts die andern schliefen, ging sie auf die breite Marmortreppe hinaus, und es kühlte ihre brennenden Füße, im kalten Seewasser zu stehen, und dann gedachte sie derer dort unten in der Tiefe.

Einmal nachts kamen ihre Schwestern Arm in Arm, sie sangen sehr traurig, indem sie über dem Wasser schwammen, und sie winkte ihnen, und sie erkannten sie und erzählten, wie sie sie allesamt betrübt habe. Darauf besuchten sie dieselbe in jeder Nacht, und einst erblickte sie auch in weiter Ferne ihre alte Großmutter, die in vielen Jahren nicht über der Meeresfläche gewesen war, und den Seekönig, mit seiner Krone auf dem Haupte; sie streckten beide die Hände gegen sie aus, wagten sich aber dem Lande nicht so nahe, als die Schwestern.

Tag für Tag wurde sie dem Prinzen lieber, er hatte sie so lieb, wie man nur ein gutes, liebes Kind lieben kann, aber sie zur Königin zu machen, kam ihm nicht in den Sinn, und seine Frau mußte sie doch werden, sonst erhielt sie keine unsterbliche Seele, und mußte an seinem Hochzeitsmorgen zu Schaum auf dem Meere werden.

``Liebst Du mich nicht am meisten von ihnen allen?'' schienen der kleinen Seejungfrau Augen zu sagen, wenn er sie in seine Arme nahm und ihre schöne Stirne küßte.

``Ja, Du bist mir die liebste,'' sagte der Prinz, ``denn Du hast das beste Herz von allen, Du bist mir am meisten ergeben, und Du gleichst einem jungen Mädchen, die ich einmal sah, aber sicher nie wieder finde. Ich war auf einem Schiffe, welches strandete, die Wellen warfen mich bei einem Tempel an das Land, wo mehrere junge Mädchen den Dienst verrichteten; die jüngste dort fand mich am Ufer und rettete mein Leben; ich sah sie nur zweimal; sie wäre die einzige, die ich in dieser Welt lieben könnte, aber Du gleichst ihr, Du verdrängst fast ihr Bild aus meiner Seele, sie gehört dem heiligen Tempel an, und deshalb hat mein gutes Glück Dich mir gesendet, nie wollen wir uns trennen!'' --- ``Ach, er weiß nicht, daß ich sein Leben gerettet habe!'' dachte die kleine Seejungfrau. ``Ich trug ihn über das Meer zum Walde hin, wo der Tempel steht, ich saß hinter dem Schaume und sah, ob keine Menschen kommen würden. Ich sah das hübsche Mädchen, das er mehr liebt, als mich!'' Und die Seejungfrau seufzte tief, weinen konnte sie nicht. ``Das Mädchen gehört dem heiligen Tempel an, hat er gesagt, sie kommt nie in die Welt hinaus, sie begegnen sich nicht mehr, ich bin bei ihm, sehe ihn jeden Tag, ich will ihn pflegen, lieben, ihm mein Leben opfern!''

Aber nun sollte der Prinz sich verheiraten und des Nachbarkönigs schöne Tochter haben, erzählte man, deswegen rüstete er ein prächtiges Schiff aus. Der Prinz reist, um des Nachbarkönigs Länder zu besichtigen, heißt es wohl, aber es geschieht, um des Nachbarkönigs Tochter zu sehen, ein großes Gefolge soll ihn begleiten; aber die kleine Seejungfrau schüttelte das Haupt und lächelte; sie kannte des Prinzen Gedanken weit besser, als die andern. ``Ich muß reisen!'' hatte er zu ihr gesagt. ``Ich muß die schöne Prinzessin sehen, meine Eltern verlangen es, aber sie wollen mich nicht zwingen, sie als meine Braut heimzuführen. Ich kann sie nicht lieben, sie gleichet nicht dem schönen Mädchen im Tempel, der Du ähnlich bist; sollte ich einst eine Braut wählen, so würdest Du es eher sein, mein liebes, gutes Findelkind mit den sprechenden Augen!'' Und er küßte sie auf ihren roten Mund, spielte mit ihren schönen, langen Haaren und legte sein Haupt an ihr Herz, sodaß dieses von Menschenglück und einer unsterblichen Seele träumte.

``Du fürchtest doch das Meer nicht, mein stummes Kind?'' sagte er, als sie auf dem prächtigen Schiffe standen, welches ihn nach dem Lande des Nachbarkönigs führen sollte, und er erzählte ihr vom Sturm und von der Windstille, von seltsamen Fischen in der Tiefe und was die Taucher dort gesehen, und sie lächelte bei seiner Erzählung, sie wußte ja besser, als sonst jemand, auf dem Grunde des Meeres Bescheid.

In der mondhellen Nacht, wenn sie alle bis auf den Steuermann, der am Ruder stand, schliefen, saß sie an dem Bord des Schiffes und starrte durch das klare Wasser hinunter, und sie glaubte ihres Vaters Schloß zu erblicken; hoch auf demselben stand die alte Großmutter mit der Silberkrone auf dem Haupte und starrte durch die reißenden Ströme nach des Schiffes Kiel empor. Da kamen ihre Schwestern über das Wasser hervor, und starrten sie traurig an und rangen ihre weißen Hände; sie winkte ihnen zu, lächelte und wollte erzählen, daß es ihr gut gehe, daß sie glücklich sei, aber der Schiffsjunge näherte sich ihr und die Schwestern tauchten unter, sodaß er glaubte, das Weiße, was er gesehen, sei nur Schaum auf der See gewesen.

Am nächsten Morgen segelte das Schiff in den Hafen von des Nachbarkönigs prächtiger Stadt. Alle Kirchenglocken läuteten und von den hohen Türmen wurden die Posaunen geblasen, während die Soldaten mit fliegenden Fahnen und blitzenden Bajonetten in Reihe und Glied dastanden. Jeder Tag führte ein neues Fest mit sich. Bälle und Gesellschaften folgten einander, aber die Prinzessin war noch nicht da, sie werde weit davon entfernt in einem Tempel erzogen, sagten sie, dort lerne sie alle königlichen Tugenden. Endlich traf sie ein.

Die kleine Seejungfrau war begierig, ihre Schönheit zu sehen, und sie mußte anerkennen, daß sie eine lieblichere Erscheinung noch nie gesehen habe. Die Haut war fein und klar und hinter den langen, dunklen Augenwimpern lächelten ein paar schwarzblaue, treue Augen.

``Du bist es,'' sagte der Prinz, ``Du, die mich gerettet hat, als ich einer Leiche gleich an der Küste lag!'' Und er drückte seine errötende Braut in seine Arme. ``O, ich bin allzuglücklich!'' sagte er zur kleinen Seejungfrau. ``Das Beste, was ich je hoffen durfte, ist mir in Erfüllung gegangen. Du wirst Dich über mein Glück freuen, denn Du meinst es am besten mit mir von ihnen allen!'' Die kleine Seejungfrau küßte seine Hand, und es kam ihr schon vor, als fühle sie ihr Herz brechen. Sein Hochzeitsmorgen sollte ihr ja den Tod geben und sie in Schaum auf dem Meere verwandeln.

Alle Kirchenglocken läuteten, die Herolde ritten in den Straßen umher und verkündeten die Verlobung. Auf allen Altären brannte duftendes Öl in köstlichen Silberlampen. Die Priester schwangen die Räucherfässer, und Braut und Bräutigam reichten einander die Hand und erhielten den Segen des Bischofs. Die kleine Seejungfrau stand in Seide und Gold und hielt die Schleppe der Braut, aber ihre Ohren hörten die festliche Musik nicht, ihr Auge sah die heilige Handlung nicht, sie gedachte ihrer Todesnacht, und alles dessen, was sie in dieser Welt verloren hatte.

Noch an demselben Abend gingen die Braut und der Bräutigam an Bord des Schiffes; die Kanonen donnerten, alle Flaggen wehten und mitten auf dem Schiffe war ein köstliches Zelt von Gold und Purpur und mit den schönsten Kissen errichtet, da sollte das Brautpaar in der stillen, kühlen Nacht schlafen.

Die Segel schwollen im Winde, und das Schiff glitt leicht und ohne große Bewegung über die klare See dahin.

Als es dunkelte, wurden bunte Lampen angezündet und die Seeleute tanzten lustige Tänze auf dem Verdeck. Die kleine Seejungfrau mußte ihres ersten Auftauchens aus dem Meere gedenken, wo sie dieselbe Pracht und Freude erblickt hatte, und sie drehte sich mit im Tanze, schwebte, wie die Schwalbe schwebt, wenn sie verfolgt wird, und alle jubelten ihr Bewunderung zu, nie hatte sie so herrlich getanzt; es schnitt wie scharfe Messer in die zarten Füße, aber sie fühlte es nicht; es schnitt ihr noch schmerzlicher durch das Herz. Sie wußte, es sei der letzte Abend, an dem sie ihn erblickte, für den sie ihre Verwandten und ihre Heimat verlassen, ihre schöne Stimme dahingegeben und täglich unendliche Qualen ertragen, ohne daß er eine Ahnung davon hatte. Es war die letzte Nacht, daß sie dieselbe Luft mit ihm einatmete, das tiefe Meer und den sternklaren Himmel erblickte, eine ewige Nacht ohne Gedanken und Traum harrte ihrer, die keine Seele hatte, keine Seele gewinnen konnte. Alles war Freude und Heiterkeit auf dem Schiffe bis weit über Mitternacht hinaus, sie lachte und tanzte mit Todesgedanken im Herzen. Der Prinz küßte seine schöne Braut, und sie spielte mit seinen schwarzen Haaren, und Arm in Arm gingen sie zur Ruhe in das prächtige Zelt.

Es wurde tot und stille auf dem Schiffe, nur der Steuermann stand am Ruder, die kleine Seejungfrau legte ihre weißen Arme auf den Schiffsrand und blickte gegen Osten nach der Morgenröte, der erste Sonnenstrahl, wußte sie, würde sie töten. Da sah sie ihre Schwestern aus dem Meere aufsteigen, sie waren bleich, wie sie; ihre langen, schönen Haare wehten nicht mehr im Winde, sie waren abgeschnitten.

``Wir haben sie der Hexe gegeben, um Dir Hilfe bringen zu können, damit Du diese Nacht nicht sterben mußt! Sie hat uns ein Messer gegeben, hier ist es! Siehst Du, wie scharf? Bevor die Sonne aufgeht, mußt Du in das Herz des Prinzen stechen, und wenn dann das warme Blut auf Deine Füße spritzt, so wachsen diese in einen Fischschwanz zusammen und Du wirst wieder eine Seejungfrau, kannst zu uns herabsteigen und lebst Deine dreihundert Jahre, bevor Du der tote, salzige Seeschaum wirst. Beeile Dich! Er oder Du mußt sterben, bevor die Sonne aufgeht! Unsere alte Großmutter trauert so, daß ihr weißes Haar gefallen ist wie das unsrige, von der Schere der Hexe. Töte den Prinzen und komm' zurück! Beeile Dich, siehst Du den roten Streifen am Himmel? In wenigen Minuten steigt die Sonne auf und dann mußt Du sterben!'' Und sie stießen einen tiefen Seufzer aus und versanken in die Wogen.

Die kleine Seejungfrau zog den Purpurteppich vom Zelte fort, und sie sah die schöne Braut mit ihrem Haupte an des Prinzen Brust ruhen, und sie bog sich nieder, küßte ihn auf seine schöne Stirn, blickte gen Himmel auf, wo die Morgenröte mehr und mehr leuchtete, betrachtete das scharfe Messer und heftete die Augen wieder auf den Prinzen, der im Traum seine Braut beim Namen nannte; nur sie war in seinen Gedanken, und das Messer zitterte in der Seejungfrau Hand, --- aber da warf sie es weit hinaus in die Wogen, die glänzten rot; wo es hinfiel, sah es aus, als keimten Blutstropfen aus dem Wasser auf. Noch einmal sah sie mit halbgebrochenem Blicke auf den Prinzen, stürzte sich vom Schiffe in das Meer hinab und fühlte, wie ihr Körper sich in Schaum auflöste.

Nun stieg die Sonne aus dem Meere auf, die Strahlen fielen mild und warm auf den todkalten Meeresschaum und die kleine Seejungfrau fühlte nichts vom Tode; sie sah die klare Sonne, und oben über ihr schwebten Hunderte von durchsichtigen, herrlichen Geschöpfen, sie konnte durch dieselben des Schiffes weiße Segel und des Himmels rote Wolken erblicken. Die Sprache derselben war melodisch, aber so geistig, daß kein menschliches Ohr es vernehmen, ebenso wie kein menschliches Auge sie erblicken konnte; ohne Schwingen schwebten sie vermittelst ihrer eigenen Leichtigkeit durch die Luft. Die kleine Seejungfrau sah, daß sie einen Körper hatte, wie diese, der sich mehr und mehr aus dem Schaume erhob.

``Zu wem komme ich?'' fragte sie, und ihre Stimme klang wie die der andern Wesen, so geistig, daß keine irdische Musik sie wiederzugeben vermag.

``Zu den Töchtern der Luft!'' erwiderten die andern. ``Die Seejungfrau hat keine unsterbliche Seele, kann sie nie erhalten, wenn sie nicht eines Menschen Liebe gewinnt; von einer fremden Macht hängt ihr ewiges Dasein ab. Die Töchter der Luft haben auch keine ewige Seele, aber sie können durch gute Handlungen sich selbst eine schaffen. Wir fliegen nach den warmen Ländern, wo die schwüle Pestluft den Menschen tötet; dort fächeln wir Kühlung. Wir breiten den Duft der Blumen durch die Luft aus und senden Erquickung und Heilung. Wenn wir dreihundert Jahre lang gestrebt haben, alles Gute, was wir vermögen, zu vollbringen, so erhalten wir eine unsterbliche Seele und nehmen teil an dem ewigen Glücke der Menschen. Du arme, kleine Seejungfrau hast mit ganzem Herzen nach demselben, wie wir gestrebt, Du hast gelitten und geduldet, Dich zur Luftgeisterwelt erhoben, nun kannst Du Dir selbst, durch gute Werke nach drei Jahrhunderten eine unsterbliche Seele schaffen.''

Die kleine Seejungfrau erhob ihre verklärten Arme gegen Gottes Sonne, und zum erstenmal fühlte sie Thränen in ihren Augen. --- Auf dem Schiffe war wieder Lärm und Leben, sie sah den Prinzen mit seiner schönen Braut nach ihr suchen; wehmütig starrten sie den perlenden Schaum an, als ob sie wüßten, daß sie sich in die Fluten gestürzt habe. Unsichtbar küßte sie die Stirn der Braut, lächelte ihn an, und stieg mit den übrigen Kindern der Luft auf die rosenrote Wolke hinauf, welche den Äther durchschiffte.

``Nach dreihundert Jahren schweben wir so in das Reich Gottes hinein!''

``Auch können wir noch früher dahin gelangen!'' flüsterte eine Tochter der Luft. ``Unsichtbar schweben wir in die Häuser der Menschen hinein, wo Kinder sind, und für jeden Tag, an dem wir ein gutes Kind finden, welches seinen Eltern Freude bereitet und deren Liebe verdient, verkürzt Gott unsere Prüfungszeit. Das Kind weiß nicht, wann wir durch die Stube fliegen, und müssen wir aus Freude über dasselbe lächeln, so wird ein Jahr von den dreihundert abgerechnet, aber sehen wir ein unartiges und böses Kind, so müssen wir Thränen der Trauer vergießen, und jede Thräne legt unserer Prüfungszeit einen Tag zu!''

Die Galoschen des Glückes

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\AMsection{Die Galoschen des Glückes}

\AMsubsection{I. Ein Anfang}

In einem Hause in Kopenhagen, nicht weit vom Königsneumarkt, war eine Gesellschaft eingeladen, eine sehr große Gesellschaft, um von den Eingeladenen wieder Einladungen zu erhalten. Die eine Hälfte der Gesellschaft saß schon an den Spieltischen, die andere Hälfte erwartete das Ergebnis von dem ``Was wollen wir denn nun anfangen?'' der Wirtin. So weit war man, und die Unterhaltung kam so gut als möglich in Gang. Unter anderem fiel auch die Rede auf das Mittelalter. Einzelne hielten es für weit hübscher als unsere Zeit, ja der Gerichtsrat Knapp verteidigte die Meinung so eifrig, daß die Frau vom Hause sogleich auf seine Seite übertrat und beide eiferten nun gegen Oersteds Abhandlung im Almanach über alte und neue Zeiten, worin unserm Zeitalter im wesentlichen der Vorzug gegeben wird. Der Gerichtsrat betrachtete die Zeit des Dänenkönigs Hans als die edelste und glücklichste.

Während dies der Stoff der Unterhaltung war, und dieselbe nur auf Augenblicke durch die Ankunft eines Tageblattes unterbrochen wurde, welches nichts enthielt, was zu lesen der Mühe wert gewesen wäre, wollen wir uns in das Vorzimmer hinausbegeben, wo die Mäntel, Stöcke und Galoschen Platz gefunden hatten. Hier saßen zwei Mädchen, ein junges und ein altes. Man hätte glauben können, sie seien gekommen, um ihre weibliche Herrschaft nach Hause zu geleiten; betrachtete man sie aber etwas genauer, so begriff man bald, daß sie keine gewöhnlichen Dienstboten waren, dazu waren die Formen zu edel, die Haut zu fein, der Schnitt der Kleider zu gewagt. Es waren zwei Feen, die jüngste zwar nicht das Glück selbst, aber ein Kammermädchen einer der Kammerjungfrauen desselben, welche die geringeren Gaben des Glückes umhertragen; die ältere sah etwas finster aus, es war die Trauer. Sie geht immer selbst in höchsteigener Person ihre Geschäfte zu besorgen, dann weiß sie, daß dieselben gut ausgeführt werden.

Die beiden Feen erzählten einander, wo sie an diesem Tage gewesen waren. Die Abgesandte des Glückes hatte nur einige unbedeutende Handlungen ausgeführt, einen neuen Hut vorm Regenguß bewahrt, einem ehrlichen Mann einen Gruß von einer vornehmen Null verschafft u.s.w., aber was ihr noch übrig blieb, war etwas ganz Ungewöhnliches.

``Ich kann auch erzählen,'' sagte sie, ``daß heute mein Geburtstag ist, und zur Ehre desselben sind mir ein paar Galoschen anvertraut, die ich der Menschheit bringen soll. Diese Galoschen haben die Eigenschaft, daß ein jeder, der sie anzieht, augenblicklich an die Stelle und in die Zeit versetzt wird, wo er am liebsten sein will; ein jeder Wunsch, mit Rücksicht auf Zeit, Ort oder Dauer wird sogleich erfüllt, und der Mensch so endlich einmal glücklich hienieden!''

``Ja, das magst Du glauben!'' sagte die Trauer; ``er wird sehr unglücklich und segnet den Augenblick, wo er die Galoschen wieder los sein wird!''

``Wo denkst Du hin?'' sagte die andere. ``Nun stelle ich sie an die Thür, einer vergreift sich und wird der Glückliche!''

Sieh, das war das Zwiegespräch.

\AMsubsection{II. Wie es dem Gerichtsrat erging}

Es war spät geworden; der Gerichtsrat Knapp, in die Zeit des Königs Hans vertieft, wollte heimkehren, und das Schicksal lenkte es so, daß er anstatt seiner Galoschen die des Glücks bekam und nun auf die Oststraße hinaustrat; aber er war durch die Zauberkraft der Galoschen in die Zeit des Königs Hans zurückversetzt, und deshalb setzte er den Fuß geradezu in Kot und Morast auf die Straße, weil es zu jener Zeit noch kein Steinpflaster gab.

``Es ist ja greulich, wie schmutzig es hier ist!'' sagte der Gerichtsrat. ``Der ganze Bürgersteig ist fort und alle Laternen sind ausgelöscht.''

Der Mond war noch nicht hoch genug heraufgekommen und die Luft überdies ziemlich dick, sodaß alle Gegenstände ringsumher bei dieser Dunkelheit in einander verschwammen. An der nächsten Ecke hing jedoch eine Laterne vor einem Marienbilde, aber die Beleuchtung war so gut wie keine, er bemerkte sie erst, als er gerade darunter stand, und seine Augen fielen auf das gemalte Bild mit der Mutter und dem Kinde.

``Das ist wohl,'' dachte er, ``eine Kunstsammlung, wo man vergessen hat, das Schild abzunehmen.''

Ein paar Menschen, in der Tracht des Zeitalters, gingen an ihm vorbei.

``Wie sahen sie doch aus! Sie kamen wohl aus einer Maskerade!''

Plötzlich ertönten Trommeln und Pfeifen, Fackeln leuchteten hell. Der Gerichtsrat stutzte und sah nun einen sonderbaren Zug vorbeiziehen. Zuerst kam ein ganzer Trupp Trommelschläger, die ihre Trommeln recht tüchtig bearbeiteten, ihnen folgten Trabanten mit Bogen und Armbrüsten. Der Vornehmste im Zuge war ein geistlicher Herr. Erstaunt fragte der Gerichtsrat, was das zu bedeuten habe und wer der Mann sei.

``Das ist der Bischof von Seeland!''

``Was fällt dem Bischof ein?'' seufzte der Gerichtsrat und schüttelte mit dem Haupte; der Bischof konnte es nicht sein. Darüber grübelnd und ohne zur Rechten oder Linken zu sehen, ging der Gerichtsrat durch die Oststraße und über den Hohenbrückenplatz. Die Brücke, die nach dem Schloßplatze führt, war nicht zu finden, er wurde ein seichtes Ufer gewahr und stieß endlich hier auf zwei Leute, die in einem Boote waren.

``Will der Herr nach dem Holm übergesetzt werden?'' fragten sie.

``Nach dem Holm hinüber?'' sagte der Gerichtsrat, der ja nicht wußte, in welchem Zeitalter er sich befand. ``Ich will nach Christianshafen in die kleine Torfstraße!''

Die Leute betrachteten ihn.

``Sagt mir nur, wo die Brücke ist!'' sagte er ``Es ist schändlich, daß hier keine Laternen angezündet sind, und dann ist es ein Schmutz, als ginge man in einem Sumpf!''

Je länger er mit den Bootsmännern sprach, desto unverständlicher waren sie ihm.

``Ich verstehe Euer Bornholmisch nicht!'' sagte er zuletzt ärgerlich und kehrte ihnen den Rücken. Die Brücke konnte er nicht finden, ein Geländer war auch nicht da. ``Es ist eine Schande, wie es hier aussieht!'' sagte er. Nie hatte er sein Zeitalter elender gefunden, als an diesem Abend. ``Ich glaube, ich werde am besten thun, einen Wagen zu nehmen!'' dachte er, aber wo war einer zu finden? Keiner war zu erblicken. ``Ich werde nach dem Königs-Neumarkt zurückgehen müssen, dort halten wohl Wagen, sonst komme ich nie nach Christianshafen hinaus!''

Nun ging er nach der Oststraße und war fast hindurch gekommen, als der Mond hervorbrach.

``Mein Gott, was ist das für ein Gerüst, was man hier errichtet hat!'' rief er aus, als er das Ostthor erblickte, welches zu jener Zeit am Ende der Oststraße stand.

Inzwischen fand er doch einen Durchgang offen und durch diesen kam er nach unserm Neumarkt hinaus; aber das war ein großer Wiesengrund, einzelne Büsche ragten hervor und quer durch die Wiese ging ein breiter Strom. Einige erbärmliche Holzbuden für holländische Schiffer, nach denen der Ort den Namen Hollandsaue hatte, lagen auf dem entgegengesetzten Ufer.

``Entweder erblicke ich eine Lufterscheinung oder ich bin betrunken!'' jammerte der Gerichtsrat. ``Was ist das doch? Was ist das doch?''

Er kehrte wieder um in der festen Überzeugung, daß er krank sei; indem er in die Straße zurückkam, betrachtete er die Häuser etwas genauer, die meisten waren nur von Fachwerk und viele hatten nur ein Strohdach.

``Nein, mir ist gar nicht wohl,'' seufzte er, ``und ich trank doch nur ein Glas Punsch, aber ich kann ihn nicht vertragen; und es war auch ganz und gar verkehrt, uns Punsch und warmen Lachs zu geben, das werde ich der Frau auch sagen. Ob ich wohl wieder zurückkehre und sage, wie mir zu Mute ist? Aber das sieht lächerlich aus und es ist die Frage, ob sie noch wach sind!''

Er suchte nach dem Hause, aber es war gar nicht zu finden.

``Es ist doch erschrecklich, ich kann die Oststraße nicht wieder erkennen, nicht ein Laden ist da! Alte, elende, verfallene Häuser erblicke ich, als ob ich in Roeskilde oder Ringstedt wäre! Ach, ich bin krank! Es nützt nichts, ängstlich zu sein! Aber wo in aller Welt ist des Stadtrats Haus? Es ist nicht mehr dasselbe, aber dort drinnen sind noch Leute auf; ach, ich bin sicher krank!''

Nun stieß er auf eine halb offene Thür, wo das Licht durch eine Spalte fiel. Es war eine Herberge jener Zeit, eine Art von Bierhaus. Die Stube hatte das Ansehen einer holländischen Diele; eine Anzahl Leute, bestehend aus Schiffern, Kopenhagener Bürgern und ein paar Gelehrten, saßen hier im eifrigsten Gespräch bei ihren Krügen und betrachteten den Eintretenden nur wenig.

``Um Entschuldigung,'' sagte der Gerichtsrat zu der Wirtin, die ihm entgegenkam, ``ich bin sehr unwohl geworden, wollen sie mir nicht einen Wagen nach Christianshafen hinaus besorgen lassen?''

Die Frau betrachtete ihn und schüttelte mit dem Kopfe; darauf redete sie ihn in deutscher Sprache an. Der Gerichtsrat nahm an, daß sie der dänischen Zunge nicht mächtig sei und brachte deshalb seinen Wunsch auf Deutsch an. Dies im Verein mit seiner Kleidung bestärkte die Frau darin, daß er ein Ausländer sei; daß er sich unwohl befinde, begriff sie bald, und brachte ihm deshalb einen Krug Wasser, freilich hatte es etwas vom Seewasser, wiewohl es draußen aus dem Brunnen geschöpft war.

Der Gerichtsrat stützte sein Haupt in die Hand, holte tief Atem und grübelte über alles Seltsame rings um sich her nach.

``Ist das `Der Tag' von heute Abend?'' fragte er ganz mechanisch, indem er sah, wie die Frau ein großes Stück Papier fortlegte.

Sie verstand nicht, was er damit meinte, reichte ihm aber das Blatt, es war ein Holzschnitt, welcher eine Lufterscheinung zeigte, die in der Stadt Köln gesehen worden war.

``Das ist sehr alt!'' sagte der Gerichtsrat und wurde durch dieses vergilbte Blatt ganz aufgeräumt. ``Wie sind Sie doch zu diesem seltenen Blatt gelangt? Das ist höchst merkwürdig, obgleich das Ganze eine Fabel ist! Man erklärt dergleichen Lufterscheinungen dadurch, daß es Nordlichter sind, die man erblickt hat; wahrscheinlich entstehen sie durch die Elektrizität!''

Die, welche ihm zunächst saßen und seine Rede hörten, sahen ihn erstaunt an und einer von ihnen erhob sich, nahm ehrerbietig den Hut ab und sagte mit der ernsthaftesten Miene: ``Ihr seid sicher ein höchst gelehrter Mann.''

``O, nein!'' erwiderte der Gerichtsrat, ``ich kann nur von einem und dem andern mitsprechen, was man ja verstehen muß!''

``Bescheidenheit ist eine schöne Tugend!'' sagte der Mann. ``Übrigens muß ich zu Eurer Rede sagen: ich habe eine andere Ansicht, doch will ich hier gern mein Urteil zurückhalten!''

``Darf ich wohl fragen, mit wem ich das Vergnügen habe, zu sprechen?'' fragte der Gerichtsrat.

``Ich bin Magister der heiligen Schrift!'' erwiderte der Mann.

Diese Antwort war dem Gerichtsrat genügend, der Titel entsprach hier der Tracht. ``Das ist sicher,'' dachte er, ``ein alter Dorfschulmeister, ein naturwüchsiger Mann, wie man sie zuweilen oben in Jütland treffen kann.''

``Hier ist zwar eigentlich nicht der Platz zu gelehrten Gesprächen,'' begann der Mann, ``doch bitte ich, daß Ihr Euch herablasset, zu sprechen! Ihr seid sicher in den Alten sehr belesen!''

``O, ja wohl!'' antwortete der Rat, ``ich lese gern alte, nützliche Schriften, habe aber auch die neueren recht gern, mit Ausnahme der `Alltagsgeschichten', deren wir in Wirklichkeit genug haben!''

``Alltagsgeschichten?'' fragte unser Magister.

``Ja, ich meine diese neuen Romane, die man jetzt hat.''

``O,'' lächelte der Mann, ``sie enthalten doch vielen Witz und werden bei Hofe gelesen, der König liebt besonders den Roman von Herrn Ivent und Herrn Gaudian, welcher von König Artus und seinen Helden der Tafelrunde handelt, er hat mit seinen hohen Herren darüber gescherzt.''

``Ja, den habe ich noch nicht gelesen!'' sagte der Gerichtsrat, ``das muß ein ganz neuer sein, den Heiberg herausgegeben hat!''

``Nein,'' erwiderte der Mann, ``der ist nicht bei Heiberg, sondern bei Godfred von Gehmen herausgekommen!''

``So ist das der Verfasser!'' sagte der Gerichtsrat. ``Das ist ein sehr alter Name, so hieß ja wohl der erste Buchdrucker, der in Dänemark gewesen ist?''

``Ja, das ist unser erster Buchdrucker,'' sagte der Mann.

So weit ging es ganz gut; nun sprach einer der guten Bürgersleute von der schweren Pestilenz, die vor ein paar Jahren regiert hatte, und meinte die im Jahre 1484; der Gerichtsrat nahm an, daß es die Cholera sei, von der die Rede war, und so ging die Unterhaltung ganz gut. Der Freibeuterkrieg von 1490 lag so nahe, daß er berührt werden mußte; die englischen Freibeuter hatten Schiffe auf der Rhede genommen, sagten sie; und der Gerichtsrat, der sich in die Begebenheiten von 1801 recht hineingelebt hatte, stimmte vortrefflich gegen die Engländer mit ein. Das übrige Gespräch dagegen ging nicht so gut, jeden Augenblick wurde es gegenseitig zum Leichenbitterstyl; der Magister war nicht zu unwissend, und die einfachsten Äußerungen des Gerichtsrats klangen ihm wieder zu dreist und zu überspannt. Sie betrachteten einander, und wurde es gar zu arg, dann sprach der Magister lateinisch, in der Hoffnung, besser verstanden zu werden, aber es half doch nichts.

``Wie ist es mit Ihnen?'' fragte die Wirtin, und zog den Rat beim Ärmel; nun kam seine Besinnung zurück, im Laufe der Unterhaltung hatte er alles rein vergessen, was vorangegangen war.

``Mein Gott, wo bin ich?'' fragte er, und es schwindelte ihm, wie er daran dachte.

``Klaret wollen wir trinken! Met und Bremer Bier,'' rief einer der Gäste, ``und Ihr sollt mittrinken!''

Zwei Mädchen kamen herein und schenkten ein.

Er mußte mit den andern trinken, sie bemächtigten sich ganz artig des guten Mannes, er war höchst verzweifelt, und als der eine sagte, daß er betrunken sei, so zweifelte er durchaus nicht an des Mannes Wort, bat sie nur, ihm einen Wagen zu verschaffen, und dann glaubten sie, er spreche moskowitisch.

Nie war er in so roher Gesellschaft gewesen. ``Man könnte glauben, das Land sei zum Heidentume zurückgekehrt,'' meinte er, ``das ist der schrecklichste Augenblick in meinem Leben!'' Doch plötzlich kam ihm der Gedanke, sich unter den Tisch hinab zu bücken und dann nach der Thür zu kriechen. Das that er, aber indem er beim Ausgange war, bemerkten die andern, was er vor hatte, sie ergriffen ihn bei den Füßen, und nun gingen die Galoschen zu seinem Glücke ab, und --- mit diesen die ganze Bezauberung.

Der Gerichtsrat sah ganz deutlich vor sich eine Laterne brennen, und hinter dieser ein großes Gebäude, alles sah bekannt und prächtig aus, das war die Oststraße, wie wir sie kennen, er lag mit den Beinen gegen eine Pforte hin, und gerade gegenüber saß der Wächter und schlief.

``Du mein Schöpfer, habe ich hier auf der Straße gelegen und geträumt!'' sagte er. ``Ja, das ist die Oststraße! Wie prächtig hell und bunt! Es ist doch erschrecklich, wie das Glas Punsch auf mich gewirkt haben muß.''

Zwei Minuten später saß er in einem Wagen, der mit ihm nach Christianshafen fuhr, er gedachte der Angst und Not, die er ausgestanden, und pries von Herzen die glückliche Wirklichkeit, unsere Zeit, die mit allen ihren Mängeln doch weit besser sei, als die, in der er vor kurzem gewesen war.

\AMsubsection{III. Des Wächters Abenteuer}

``Da liegen ja wahrlich ein paar Galoschen!'' sagte der Wächter. ``Die gehören sicher dem Leutnant, der dort oben wohnt. Sie liegen gerade bei der Thür!''

Gern hätte der ehrliche Mann geklingelt und sie abgeliefert, denn da war noch Licht, aber er wollte nicht die übrigen Leute im Hause wecken und deshalb unterließ er es.

``Das muß recht warm sein, ein Paar solcher Dinger am Fuße zu haben!'' sagte er. ``Sie sind weich im Leder. Sie paßten gut an meine Füße. Wie ist es doch drollig in der Welt! Nun könnte der Leutnant sich in sein warmes Bett legen, doch sieh, ob er es thut! Da geht er im Zimmer auf und nieder; das ist ein glücklicher Mensch! Er hat weder eine Frau noch Kinder, jeden Abend ist er in Gesellschaft; wäre ich doch er, ja dann wäre ich ein glücklicher Mann!''

Indem er den Wunsch aussprach, wirkten die Galoschen, die er angezogen hatte, der Wächter ging in des Leutnants Sein und Wesen über. Da stand er oben im Zimmer und hielt ein kleines rosenrotes Papier zwischen den Fingern, worauf ein Gedicht stand, ein Gedicht des Herrn Leutnants selbst. Denn wer hat in seinem Leben nicht einmal einen dichterischen Augenblick gehabt, und schreibt man dann den Gedanken nieder, so hat man ein Gedicht. Hier stand geschrieben:

\AMcentering{``O, wär' ich reich!''}

\AMquote{
        ``O wär' ich reich!'' so wünscht' ich mir schon oft, \\
        Als ich, kaum ellengroß, auf viel gehofft. \\
        O, wär' ich reich! so würd' ich Offizier, \\
        Mit Säbel, Uniform und Bandelier. \\
        Die Zeit kam auch, und ich ward Offizier; \\
        Doch nun und nimmer ward ich reich, ich Armer; \\
        Hilf mir, Erbarmer!

        Einst saß ich abends, lebensfroh und jung, \\
        Ein kleines Mädchen küßte meinen Mund, \\
        Denn ich war reich an Märchenpoesie, \\
        An Gold dagegen, ach, so arm, wie nie --- ; \\
        Das Kind nur wollte diese Poesie; \\
        Da war ich reich, doch nicht an Geld, ich Armer; \\
        Du weißt's, Erbarmer.

        ``O wär' ich reich!'' so tönt zu Gott mein Fleh'n, \\
        Das Kind hab' ich zur Jungfrau reifen seh'n, \\
        Sie ist so klug, so hübsch, so seelengut; \\
        O, wüßte sie, was mir im Herzen ruht, \\
        Das große Märchen, --- --- wäre sie mir gut! \\
        Doch bin zum Schweigen ich verdammt, ich Armer; \\
        Du willst's, Erbarmer!

        O, wär' ich reich an Trost und Ruhe hier, \\
        Mein Leiden käme dann nicht auf's Papier. \\
        Verstehst Du mich, Du, der ich mich geweiht, \\
        So lies dies Blatt aus meiner Jugendzeit, \\
        Ein dunkles Märchen, dunkler Nacht geweiht. \\
        Nur finst're Zukunft seh' ich, ach, ich Armer! \\
        Dich segne der Erbarmer!
}

Ja, solche Gedichte schreibt man, wenn man verliebt ist, aber ein besonnener Mann läßt sie nicht drucken. Leutnant, Liebe und Mangel, das ist ein Dreieck, oder, ebensogut, die Hälfte des zerbrochenen Würfels des Glückes. Das fühlte der Leutnant recht lebendig und deshalb legte er das Haupt gegen den Fensterrahmen und seufzte tief.

``Der arme Wächter draußen auf der Straße ist weit glücklicher als ich, er kennt nicht, was ich Mangel nenne; er hat eine Heimat, Frau und Kinder, die bei seiner Trauer weinen, sich bei seiner Lust freuen! O, ich wäre glücklicher, als ich bin, könnte ich in sein Wesen und Sein übergehen, mit seinen Forderungen und Hoffnungen durch dieses Leben wandeln! Ja, er ist glücklicher als ich!''

Im selben Augenblicke war der Wächter wieder Wächter, denn durch die Galoschen des Glückes war er in das Wesen und Sein des Leutnants übergegangen, aber da, wie wir sehen, fühlte er sich noch weniger zufrieden und zog gerade das vor, was er vor kurzem verworfen hatte. Also war der Wächter wieder Wächter.

``Das war ein häßlicher Traum!'' sagte er, ``aber drollig genug. Es war mir, als ob ich der Leutnant dort oben sei, und das war durchaus kein Vergnügen. Ich entbehrte die Frau und die Kinder, die mich halbtot küssen!''

Er saß wieder und nickte, der Traum wollte ihm nicht recht aus den Gedanken, die Galoschen hatte er noch an den Füßen. Eine Sternschnuppe gleitete über den Horizont.

``Da ging die!'' sagte er, ``doch was thut's, es sind ihrer noch genug. Ich hätte wohl Lust, die Dinger etwas näher zu betrachten, besonders den Mond, denn der kommt einem doch nicht unter den Händen fort. Wenn wir sterben, sagte der Student, für den meine Frau wäscht, fliegen wir von dem einen zum andern. Das ist eine Lüge, könnte aber recht hübsch sein. Könnte ich doch einen kleinen Sprung da hinauf machen, dann möchte der Körper gern hier auf der Treppe liegen bleiben!''

Sieh, es giebt nun gewisse Dinge in der Welt, die man auszusprechen sehr vorsichtig sein muß, aber doppelt vorsichtig muß man sein, wenn man die Galoschen des Glückes an den Füßen hat. Höre nur, wie es dem Wächter erging.

Wir kennen alle die Schnelligkeit der Dampfbeförderung, wir haben sie entweder mit Eisenbahnen oder mit Schiffen über das Meer hin erprobt; doch dieser Flug ist wie die Wanderung des Faultieres oder der Marsch der Schnecke im Verhältnis zu der Schnelligkeit, die das Licht hat; es fliegt neunzehn Millionen Mal schneller, als der beste Wettrenner, und doch ist die Elektrizität noch schneller. Der Tod ist ein elektrischer Stoß, den wir in das Herz erhalten; auf den Flügeln der Elektrizität fliegt die befreite Seele. Acht Minuten und wenige Sekunden gebraucht das Sonnenlicht zu einer Reise von über zwanzig Millionen Meilen; mit der Schnellpost der Elektrizität bedarf die Seele nur weniger Minuten, um denselben Flug zu vollbringen. Der Raum zwischen den Weltkörpern ist für sie nicht größer, als es für uns in einer und derselben Stadt Entfernungen zwischen den Häusern unserer Freunde sind, selbst wenn diese ziemlich nahe bei einander liegen. Inzwischen kostet dieser elektrische Herzensstoß uns den Gebrauch des Körpers hienieden, im Fall wir nicht, gerade wie der Wächter, die Galoschen des Glückes haben.

In wenigen Sekunden hatte der Wächter die 52000 Meilen bis zum Monde zurückgelegt, welcher, wie man weiß, von einem weit leichteren Stoff als unsere Erde geschaffen und weich wie frischgefallener Schnee ist, wie wir sagen würden. Er befand sich auf einem der unzählig vielen Ringberge, die wir aus Mädler's großer Karte über den Mond kennen. Innerhalb ging es in einen Kessel, ungefähr eine halbe Meile senkrecht hinab; dort unten lag eine Stadt, von deren Aussehen wir allein einen Begriff bekommen können, wenn wir Eiweiß in ein Glas Wasser ausschlagen; das Material hier war ebenso weich und bildete ähnliche Türme mit Kuppeln und segelförmigen Altanen, durchsichtig und in der dünnen Luft schwebend. Unsere Erde schwebte wie eine dunkelrote Kugel über seinem Haupte.

Er wurde sogleich eine Menge Geschöpfe gewahr, die sicherlich das waren, was wir ``Menschen'' nennen, aber sie sahen ganz anders aus, als wir; die reichste Einbildungskraft hatte sie geschaffen; würden sie in Reihe und Glied aufgestellt und so abgemalt, so würde man sagen: das ist eine hübsche Arabeske! Sie hatten auch eine Sprache, aber es kann niemand verlangen, daß die Seele des Wächters sie verstehen sollte; dessenungeachtet konnte sie es, denn unsere Seele hat weit größere Fähigkeiten, als wir glauben. Zeigt sie uns nicht in unseren Träumen ihre erstaunliche schöpferische Kraft? Ein jeder Bekannter tritt da sprechend auf, so völlig in Gewohnheiten und Worten ähnlich, daß niemand von uns wachend es nachahmen kann. Wie weiß sie uns Personen zurückzurufen, an die wir in vielen Jahren nicht gedacht haben! Plötzlich treten sie in unseren Träumen lebendig bis auf die feinsten Züge hervor. Im Grunde sieht es mit unserem Seelengedächtnis ängstlich aus; jeden bösen Gedanken wird sie ja wiederholen können, dann wird es darauf ankommen, ob wir Rechenschaft von jedem ungebührlichen Worte im Herzen und auf der Lippe werden geben können.

Die Seele des Wächters verstand auf diese Weise die Sprache der Mondbewohner sehr gut. Sie unterhielten sich über unsere Erde und bezweifelten, daß sie bewohnt sein könne. Die Luft müßte dort zu dick sein, als daß ein vernünftiges Mondgeschöpf dort leben könnte. Sie hielten den Mond allein für bewohnt, er war der eigentliche Weltkörper, wo die alten Weltbewohner lebten.

Sie sprachen auch von unserer jetzigen Zeit; doch wir begeben uns nach der Oststraße zurück, und sehen da, wie es dem Körper des Wächters ergeht.

Leblos saß derselbe auf der Treppe, der Stock war ihm aus der Hand gefallen, und die Augen blickten zum Monde empor, auf dem die ehrliche Seele herumwandelte.

``Was ist die Uhr, Wächter?'' fragte ein Vorübergehender. Wer aber nicht antwortete, das war der Wächter; dann gab ihm der Mann ganz sacht einen Nasenstüber, und nun verlor er das Gleichgewicht; da lag der Körper, so lang er war, der Mensch war tot. Alle seine Kameraden erschraken sehr, tot war und blieb er, er wurde gemeldet und es wurde besprochen, und in der Morgenstunde trug man den Körper nach dem Hospital hinaus.

Das konnte nun einen ganz hübschen Spaß für die Seele abgeben, im Fall sie zurückkehrte und aller Wahrscheinlichkeit nach den Körper auf der Oststraße suchen, aber keinen finden würde; wahrscheinlich würde sie dann auf die Polizei laufen, daß von dort aus Nachfrage unter den fortgekommenen Sachen darüber angestellt werden könnte, und dann nach dem Hospital hinaus wandern; doch wir können uns damit trösten, daß die Seele am klügsten ist, wenn sie für sich handelt, nur der Körper macht sie dumm.

Wie gesagt, des Wächters Körper kam nach dem Hospital, wurde dort in die Reinigungsstube gebracht, und das erste, was man hier that, war natürlicherweise, daß man die Galoschen abnahm, und da mußte die Seele zurück; sie nahm sogleich die Richtung gerade nach dem Körper, und ein paar Sekunden darauf war wieder Leben in dem Manne. Er versicherte, daß es die schrecklichste Nacht seines Lebens gewesen sei; nicht für einen Thaler wollte er solche Empfindungen wieder haben, aber nun war es ja überstanden.

An demselben Tage wurde er wieder entlassen, aber die Galoschen blieben in dem Hospital.

\AMsubsection{IV. Ein Hauptmoment}

\AMcentering{Eine höchst ungewöhnliche Reise}

Ein jeder Kopenhagener weiß, wie der Eingang zum Friedrichshospital in Kopenhagen aussieht; da aber wahrscheinlich auch einige Nichtkopenhagener diese kleine Schrift lesen, müssen wir eine kurze Beschreibung davon geben.

Das Hospital ist von der Straße durch ein ziemlich hohes Gitter geschieden, in welchem die dicken Eisenstäbe so weit von einander abstehen, daß, wie man sich erzählt, sich sehr dünne Leute hindurchgeklemmt und so ihre kleinen Besuche außerhalb abgestattet haben. Der Teil des Körpers, der am schwierigsten hinauszubringen war, war der Kopf; hier, wie oft in der Welt, waren also die kleinen Köpfe die glücklichsten. Dieses wird als Einleitung genug sein.

Einer der jungen Leute, von dem man nur in körperlicher Hinsicht sagen konnte, daß er einen großen, dicken Kopf habe, hatte gerade die Wache an diesem Abend. Der Regen strömte herab, doch ungeachtet dieser beiden Hindernisse mußte er hinaus, nur eine Viertelstunde; das war ja nichts, was er dem Pförtner zu vertrauen brauche, meinte er, wenn man durch die Eisenstangen schlüpfen könne. Da lagen die Galoschen, die der Wächter vergessen hatte; es fiel ihm nicht im mindesten ein, daß es die des Glückes seien, sie konnten in diesem Wetter recht gute Dienste leisten, daher zog er sie an. Nun kam es darauf an, ob er sich würde durchklemmen können, er hatte es früher nie versucht. Da stand er nun.

``Gott gebe, daß ich den Kopf hinaus bekomme!'' sagte er, und sofort, obgleich derselbe sehr dick und groß war, glitt er leicht und glücklich hindurch, das mußten die Galoschen verstehen, aber nun sollte der Körper mit hinaus; hier stand er.

``Ach, ich bin zu dick!'' sagte er. ``Der Kopf, dachte ich, sei das Schlimmste; ich komme nicht hindurch.''

Nun wollte er rasch den Kopf zurückziehen, aber das ging nicht. Den Hals konnte er bequem bewegen, aber das war auch alles. Das erste Gefühl war, daß er ärgerlich wurde, das zweite, daß seine Laune unter Null fiel. Die Galoschen des Glückes hatten ihn in diese schreckliche Lage gebracht, und unglücklicherweise fiel es ihm nicht ein, sich frei zu wünschen, nein, er handelte, und kam nicht von der Stelle. Der Regen strömte herab, nicht ein Mensch war auf der Straße zu erblicken. Die Pfortenklingel konnte er nicht erreichen, wie sollte er nun loskommen! Er sah voraus, daß er hier bis zur Morgenstunde stehen könne, dann mußte man nach einem Schmied senden, damit die Eisenstäbe zerfeilt werden könnten, aber das geht nicht so geschwind, die ganze Knabenschule gerade gegenüber würde auf die Beine kommen, um ihn am Pranger zu sehen, es würde einen ungeheuren Zulauf abgeben. ``Hu, das Blut steigt mir zu Kopfe, sodaß ich wahnsinnig werden muß! --- Ja, ich werde verrückt! O, wäre ich doch wieder los, dann ginge es wohl vorüber.''

Sieh, das hätte er etwas früher sagen sollen, augenblicklich, sowie der Gedanke ausgesprochen war, hatte er den Kopf los und stürzte nun hinein, ganz verwirrt über den Schreck, den ihm die Galoschen des Glückes eingejagt hatten.

Hiermit dürfen wir nicht glauben, daß das Ganze vorbei war, nein --- es wird noch ärger.

Die Nacht verstrich und der folgende Tag mit, es wurde nicht nach den Galoschen geschickt.

Am Abend sollte eine Vorstellung auf einem Liebhaber-Theater gegeben werden. Das Haus war gepfropft voll; unter den Zuschauern befand sich der junge Mann aus dem Hospital, der sein Abenteuer der vergangenen Nacht vergessen zu haben schien; die Galoschen hatte er angezogen, denn sie waren nicht abgeholt worden, und da es auf der Straße schmutzig war, konnten sie ihm ja gute Dienste leisten. Ein neues Gedicht, ``Die Brille der Muhme'', wurde vorgetragen. Das war eine Brille, wenn man diese aufgesetzt hatte und vor einer großen Versammlung von Menschen saß, so sahen die Menschen wie Karten aus, und man konnte aus diesen alles, was im kommenden Jahre geschehen werde, prophezeihen.

Der Gedanke beschäftigte ihn, er hätte wohl eine solche Brille haben mögen; wenn man sie richtig gebrauchte, könnte man vielleicht den Leuten gerade in die Herzen hineinschauen, das wäre eigentlich noch hübscher, meinte er, als zu sehen, was im nächsten Jahre geschehen werde, denn das bekomme man doch zu wissen, das andere dagegen nie. ``Ich denke mir nun die ganze Reihe von Herren und Damen auf der ersten Bank, --- könnte man ihnen gerade in das Herz sehen, ja, da müßte eine Öffnung, eine Art von Laden sein; wie sollten meine Augen im Laden herumschweifen! Bei jener Dame dort würde ich sicher einen großen Modehandel finden, bei dieser da ist der Laden leer, doch würde es ihm nicht schaden, gereinigt zu werden. Würden da auch gute Läden sein? Ach ja,'' seufzte er, ``ich kenne einen, in dem ist alles gut, aber da ist schon ein Diener darin, das ist das einzige Übel im ganzen Laden! Aus dem einen und dem andern würde es schallen: Treten Sie gefälligst näher! Ja, könnte ich nur wie ein kleiner, niedlicher Gedanke hineinschlüpfen!''

Sieh, das war das Stichwort für die Galoschen, der junge Mann schrumpfte zusammen, und eine höchst ungewöhnliche Reise begann mitten durch die Herzen der vordersten Reihe der Zuschauer. Das erste Herz, durch welches er kam, war das einer Dame; doch glaubte er augenblicklich in einer Heilanstalt, in dem Zimmer zu sein, wo die Gipsabgüsse der verwachsenen Glieder an den Wänden hängen; nur war hier der Unterschied der, daß sie in der Anstalt genommen werden, wenn der Kranke hineinkommt, aber hier im Herzen waren sie genommen, und aufbewahrt, indem die guten Personen hinausgegangen waren. Es waren Abgüsse von Freundinnen, deren körperliche und geistige Fehler hier aufbewahrt wurden.

Schnell war er in einem andern Herzen, aber dieses erschien ihm wie eine große Kirche. Die weiße Taube der Unschuld flatterte über dem Altar; wie gern wäre er auf die Knie niedergesunken! Aber fort mußte er, in das nächste Herz hinein, doch hörte er noch die Orgeltöne, und er selbst kam sich vor, als wäre er ein neuer und besserer Mensch geworden, er fühlte sich nicht unwürdig, das nächste Heiligtum zu betreten, welches ihm eine ärmliche Dachkammer mit einer kranken Mutter zeigte. Durch das offene Fenster strahlte Gottes warme Sonne, herrliche Rosen nickten von dem kleinen Holzkasten auf dem Dache, und zwei himmelblaue Vögel sangen von kindlicher Freude, während die kranke Mutter um Segen für die Tochter flehte.

Nun kroch er auf Händen und Füßen durch einen überfüllten Fleischerladen, das war Fleisch und nur Fleisch, worauf er stieß, das war das Herz in einem reichen, geachteten Manne, dessen Name allgemein bekannt ist.

Nun war er in dem Herzen der Gemahlin desselben, das war ein alter, verfallener Taubenschlag. Das Bild des Mannes wurde als Wetterfahne benutzt, diese stand in Verbindung mit den Thüren, und so gingen diese auf und zu, so wie der Mann sich drehte.

Darauf kam er in ein Spiegelzimmer, aber die Spiegel vergrößerten in einem unglaublichen Grade. Mitten auf dem Fußboden saß wie ein Dalailama das unbedeutende Ich der Person, erstaunt seine eigene Größe zu betrachten.

Hierauf glaubte er sich in eine enge Nadelbüchse voller spitzer Nadeln versetzt zu sehen, er mußte denken: ``Das ist sicher das Herz einer alten unverheirateten Jungfrau!'' Aber das war nicht der Fall, das war ein ganz junger Krieger mit mehreren Orden, von dem man sagte: ein Mann von Geist und Herz.

Ganz betäubt kam der arme Mann aus dem letzten Herzen in der Reihe, er vermochte seine Gedanken nicht zu ordnen, sondern meinte, daß seine allzustarke Einbildungskraft mit ihm durchgegangen sei.

``Mein Gott,'' seufzte er, ``ich habe gewiß Anlage, verrückt zu werden. Hier drinnen ist es auch unverzeihlich heiß, das Blut steigt mir zu Kopfe!'' Und nun erinnerte er sich der großen Begebenheit des vorhergehenden Abends, wie sein Kopf zwischen den Eisenstäben des Hospitals festgesessen hatte. ``Da habe ich es gewiß bekommen!'' meinte er. ``Ich muß bei Zeiten etwas dazu thun. Ein russisches Bad könnte recht gut sein. Läge ich nur erst auf dem höchsten Brette!''

Und da lag er auf dem obersten Brette im Dampfbade, aber er lag da mit allen Kleidern, mit Stiefeln und Galoschen; die heißen Wassertropfen von der Decke fielen ihm ins Antlitz.

``Hu!'' schrie er, und fuhr herab, um ein Sturzbad zu nehmen. Der Aufwärter stieß einen lauten Schrei aus, wie er den angekleideten Menschen darin erblickte.

Der junge Mann hatte indes so viel Fassung, daß er ihm zuflüsterte: ``Es gilt eine Wette!'' Aber das erste, was er that, als er sein eigenes Zimmer erreichte, war, daß er sich ein großes spanisches Fliegenpflaster in den Nacken und eins den Rücken hinab legte, damit die Verrücktheit herausziehen könne.

Am nächsten Morgen hatte er einen blutigen Rücken, das war alles, was er durch die Galoschen des Glückes gewonnen hatte.

\AMsubsection{V. Die Verwandlung des Schreibers}

Der Wächter, den wir sicher noch nicht vergessen haben, gedachte inzwischen der Galoschen, die er gefunden und mit nach dem Hospital hinausgebracht hatte; er holte sie ab, aber da weder der Leutnant noch sonst jemand in der Straße sie als die seinigen anerkennen wollte, wurden sie auf die Polizei abgeliefert.

``Es sieht aus, als wären es meine eigenen Galoschen,'' sagte einer der Schreiber, indem er das gefundene Gut betrachtete und sie an die Seite der seinigen stellte. ``Da gehört mehr als ein Schuhmacherauge dazu, um sie von einander unterscheiden zu können!''

Ein Diener, der mit einigen Papieren hereintrat, rief ihn.

Der Schreiber wendete sich um und sprach mit dem Manne; nachdem das aber geschehen war und er wieder die Galoschen ansah, war er in großer Ungewißheit darüber, ob es die zur Linken oder die zur Rechten seien, die ihm gehörten.

``Es müssen die sein, die naß sind!'' dachte er, aber es war gerade verkehrt gedacht, denn das waren die des Glückes; aber weshalb sollte nicht auch die Polizei fehlen können! Er zog sie an, steckte seine Papiere in die Tasche und einige Schriftstücke unter den Arm, die zu Hause durchgelesen und abgeschrieben werden sollten; aber nun war es gerade Sonntag Vormittag und das Wetter gut, ``ein Ausflug nach Friedrichsburg könnte mir wohlthun!'' dachte er, und so ging er hinaus.

Niemand konnte ein stillerer und nüchternerer Mensch sein, als dieser junge Mann, wir gönnen ihm darum diesen kleinen Spaziergang wohl, er wird nach dem vielen Sitzen sicher recht wohlthuend auf ihn wirken. Anfangs ging er nur wie ein gewöhnlicher Mensch, deshalb hatten die Galoschen keine Gelegenheit, ihre Zauberkraft zu bethätigen.

Unterwegs begegnete er einem Bekannten, einem unserer jüngeren Dichter, der ihm erzählte, daß er am folgenden Tage seine Sommerreise beginnen werde.

``Nun wollen Sie wieder fort!'' sagte der Schreiber. ``Sie sind doch ein glücklicher, freier Mensch. Sie können fliegen, wohin Sie wollen, wir andern haben eine Kette an dem Fuß!''

``Aber sie ist an dem Brotbaum befestigt!'' erwiderte der Dichter. ``Sie brauchen nicht für den morgenden Tag zu sorgen, und werden Sie alt, so erhalten Sie Ihr Einkommen fortbezahlt!''

``Sie haben es doch am besten,'' sagte der Schreiber. ``Es ist ja ein Vergnügen, zu sitzen und zu dichten; die ganze Welt sagt Ihnen angenehmes, und dann sind Sie Ihr eigener Herr! Ja, Sie sollten es nur versuchen, im Gericht bei den langweiligen Sachen zu sitzen!''

Der Dichter schüttelte mit dem Haupte, der Schreiber schüttelte auch mit dem Haupte, jeder blieb bei seiner Meinung, und sie trennten sich.

``Es ist ein eigenes Volk, diese Dichter,'' sagte der Schreiber; ``ich möchte wohl versuchen, in eine solche Natur einzugehen, um selbst ein Dichter zu werden; ich bin gewiß, daß ich nicht solche Klageverse schreiben würde, wie die andern! --- --- Das ist ein rechter Frühlingstag für einen Dichter! Die Luft ist ungewöhnlich klar, die Wolken so schön, und das Grüne duftet so prächtig! Ja, in vielen Jahren habe ich es nicht so gefühlt, wie in diesem Augenblick.''

Wir bemerken schon, daß er ein Dichter geworden ist; das anzudeuten, würde in den meisten Fällen abgeschmackt sein, denn es ist eine thörichte Vorstellung, sich einen Dichter anders als andere Menschen zu denken, es können unter diesen weit mehr dichterische Naturen sein, als manche große anerkannte Dichter es sind. Der Unterschied ist nur der, daß der Dichter besseres geistiges Gedächtnis hat, er kann den Gedanken und das Gefühl festhalten, bis es klar und deutlich durch das Wort verkörpert ist, das können die andern nicht. Aber der Übergang von einer Alltagsnatur zu einer begabten ist immer ein Übergang, und so muß er bei dem Schreiber in das Auge fallen.

``Der herrliche Duft!'' sagte er; ``wie erinnert er mich an die Veilchen bei der Tante! Ja, das war, als ich ein kleiner Knabe war! Daran habe ich seit langer Zeit nicht gedacht; das gute, alte Mädchen, sie wohnte dort herum hinter der Börse. Immer hatte sie einen Zweig oder ein paar grüne Schößlinge im Wasser, der Winter mochte so streng sein wie er wollte. Die Veilchen dufteten, während ich die erwärmten Kupferdreier gegen die gefrorene Fensterscheibe legte und Gucklöcher machte. Das war ein hübscher Anblick. Draußen lagen die Schiffe eingefroren, von der ganzen Mannschaft verlassen, eine schreiende Krähe bildete die ganze Besatzung; wenn die Frühlingslüfte wehten, dann wurde es lebendig, unter Gesang und Hurraruf sägte man das Eis entzwei, die Schiffe wurden geteert und getakelt, dann fuhren sie nach fremden Ländern. Ich bin hier geblieben und muß immer bleiben, immer auf der Polizei sitzen und die andern Pässe zu den Reisen nach dem Auslande nehmen sehen, das ist mein Loos! Ach ja!'' seufzte er tief, dann hielt er plötzlich an. ``Wie ist mir denn! So habe ich früher nie gedacht und gefühlt, das muß die Frühjahrsluft sein, das ist ebenso ängstlich wie angenehm!'' Er griff in die Tasche nach seinen Papieren. ``Diese geben mir etwas anderes zu denken!'' sagte er, und ließ die Augen über das erste Blatt hingleiten. ``Frau Sigbrith, Trauerspiel in fünf Aufzügen,'' las er, ``was ist das, und das ist ja meine eigene Hand? Habe ich dieses Stück geschrieben? `Der Scherz auf dem Walle, oder der Bußtag, Lustspiel.' --- Aber wo habe ich das bekommen? Man muß mir das in die Tasche gesteckt haben; hier ist ein Brief!'' Der war von dem Unternehmer einer Volksbühne, die Stücke waren verworfen und der Brief war durchaus nicht höflich abgefaßt. ``Hm! hm!'' sagte der Schreiber, und setzte sich auf eine Bank nieder; seine Gedanken schweiften in die Ferne; sein Herz war weich; unwillkürlich ergriff er eine der nächsten Blumen. Es war eine gewöhnliche kleine Gänseblume; was uns die Naturforscher erst durch manche Vorlesungen sagen, verkündete sie in einer Minute; sie erzählte von ihrer Geburt, von der Kraft des Sonnenlichts, welches die feinen Blätter ausspannte und sie zum Duften zwang; da gedachte er der Kämpfe des Lebens, die gleichfalls Gefühle in unserer Brust erwecken. Luft und Licht sind die Liebhaber der Blume, aber das Licht ist der begünstigte, nach dem Licht wendete sie sich, verschwand dieses, so rollte sie ihre Blätter zusammen, und schlief in der Umarmung der Luft ein. ``Das Licht ist es, was mich schmückt!'' sagte die Blume. ``Aber die Luft läßt Dich atmen!'' flüsterte die Dichterstimme.

Dicht dabei stand ein Knabe und schlug mit seinem Stocke in einen morastigen Graben; die Wassertropfen spritzten zwischen die grünen Zweige hinauf und der Schreiber gedachte der Millionen Tierchen, die in dem Tropfen in die Höhe geschleudert wurden, was nach ihrer Größe für sie dasselbe war, was es für uns sein würde, bis hoch über die Wolkenregion emporgewirbelt zu werden. Indem der Schreiber daran dachte und an die ganze Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, lächelte er: ``Ich schlafe und träume! Merkwürdig ist es gleichwohl, wie man natürlich träumen und doch wissen kann, daß es nur ein Traum ist. Möchte ich mich doch morgen seiner entsinnen können, wenn ich erwache; nun scheine ich ganz ungewöhnlich aufgelegt zu sein! Ich habe eine klare Anschauung von allem, fühle mich so aufgeweckt, aber ich bin sicher, daß wenn ich morgen etwas davon behalten habe, so ist es dummes Zeug, das ist mir schon früher begegnet! Es geht mit allem Klugen und Prächtigen, welches man im Traum sagt und hört, wie mit dem Gelde der Unterirdischen; indem man es erhält, ist es reich und herrlich, aber bei Tage besehen, sind es nur Steine und vertrocknete Blätter. Ach,'' seufzte er ganz wehmütig und betrachtete die singenden Vögel, die fröhlich von Zweig zu Zweig sprangen, ``die haben es weit besser als ich! Fliegen, das ist eine herrliche Kunst, glücklich der, welcher damit geboren! Ja, könnte ich mich in etwas verwandeln, dann möchte ich eine kleine Lerche sein!''

In demselben Augenblick flogen Rockschöße und Ärmel in Flügel zusammen, die Kleider wurden zu Federn und die Galoschen zu Klauen; er bemerkte es ganz wohl und lachte innerlich. ``So, nun kann ich doch sehen, daß ich träume; aber so närrisch habe ich es früher nicht gethan!'' Und er flog in die grünen Zweige hinauf und sang, aber es war kein Schwung im Gesange, denn die Dichternatur war fort. Die Galoschen konnten, wie ein jeder, der etwas gründlich thut, nur eine Sache auf einmal besorgen, er wollte Dichter sein, das wurde er, nun wollte er ein kleiner Vogel sein, und indem er dieses wurde, hörte die vorige Eigentümlichkeit auf.

``Das ist allerliebst!'' sagte er. ``Bei Tage sitze ich in der Polizei unter den Abhandlungen, nachts kann ich träumen, als Lerche im Friedrichsburger Garten zu fliegen. Es könnte wahrlich ein ganzes Volksstück davon geschrieben werden!''

Nun flog er in das Gras nieder, drehte den Kopf nach allen Seiten herum und schlug mit dem Schnabel auf die geschmeidigen Grashalme, die im Verhältnis zu seiner gegenwärtigen Größe ihm so lang wie die Palmenzweige Nordafrikas erschienen.

Es war nur einen Augenblick so, dann wurde es kohlschwarze Nacht um ihn; ein, wie es ihm erschien, ungeheurer Gegenstand wurde über ihn hingeworfen, es war eine große Mütze, welche ein Knabe über den Vogel warf. Eine Hand kam herein und ergriff den Schreiber um Rücken und Flügel, sodaß er pfiff; im ersten Schreck rief er laut: ``Du unverschämter Junge! Ich bin Beamter der Polizei!'' Aber das klang dem Knaben wie ein pipipip! Er schlug den Vogel auf den Schnabel und wanderte davon.

Unterwegs begegnete er zwei Schulknaben; sie kauften den Vogel für zwei Groschen, und so kam der Schreiber nach Kopenhagen zu einer Familie in der Oststraße.

``Es ist gut, daß ich träume,'' sagte der Schreiber, ``sonst würde ich wahrlich böse. Zuerst war ich Dichter, nun bin ich eine Lerche; ja, das war sicher die Dichternatur, die mich in das kleine Tier verwandelte! Es ist doch eine jämmerliche Geschichte, besonders wenn man einigen Knaben in die Hände fällt. Ich möchte wohl wissen, wie das abläuft!''

Die Knaben brachten ihn in ein sehr schönes Zimmer; eine dicke, lächelnde Dame empfing sie, aber sie war durchaus nicht darüber erfreut, daß der gemeine Feldvogel, wie sie die Lerche nannte, mit hereinkam; doch für heute wollte sie es sich gefallen lassen, und sie mußten ihn in den leeren Käfig setzen, der am Fenster stand. ``Das wird vielleicht dem Papchen Freude machen!'' fügte sie hinzu und lachte einen großen Papagei an, der sich vornehm in seinem Ring in dem prächtigen Messingkäfig schaukelte. ``Es ist Papchens Geburtstag!'' sagte sie, ``deshalb will der kleine Feldvogel Glück wünschen!''

Papchen erwiderte nicht ein einziges Wort, sondern schaukelte vornehm hin und her, dagegen fing ein hübscher Kanarienvogel, der im letzten Sommer von seinem warmen, duftenden Vaterlande hierher gebracht war, laut zu singen an.

``Schreihals!'' sagte die Dame und warf ein weißes Taschentuch über den Käfig.

``Pipip!'' seufzte er, ``das ist ein erschreckliches Schneewetter!'' und mit diesem Seufzer schwieg er.

Der Schreiber, oder, wie die Dame sagte, der Feldvogel, kam in einen kleinen Käfig, dicht neben den Kanarienvogel, nicht weit vom Papagai. Den einzigen Satz, welchen Papchen plaudern konnte, und der oft recht belustigend klang, war der: ``Nein, laßt uns nun Menschen sein!'' Alles übrige, was er schrie, war ebenso unverständlich, wie das Zwitschern des Kanarienvogels, nur nicht für den Schreiber, der nun selbst ein Vogel war, er verstand die Kameraden sehr gut.

``Ich flog unter der grünen Palme und dem blühenden Mandelbaume!'' sang der Kanarienvogel. ``Ich flog mit meinen Brüdern und Schwestern über die prächtigen Blumen und über den spiegelklaren See hin, wo die Pflanzen sich auf dem Boden wiegten. Ich erblickte auch viel schöne Papageien, welche die lustigsten Geschichten erzählten.''

``Das waren wilde Vögel,'' erwiderte der Papagei, ``die besaßen keine Bildung. Nein, laßt uns nun Menschen sein! --- Weshalb lachst Du nicht? Wenn die Dame und alle Fremden darüber lachen können, so kannst Du es auch. Es ist ein großer Fehler, das Ergötzliche nicht heiter zu finden. Nein, laßt uns nun Menschen sein!''

``O, entsinnst Du Dich der hübschen Mädchen, die unter dem ausgespannten Zelte bei den blühenden Bäumen tanzten? Entsinnst Du Dich der süßen Früchte und des kühlenden Saftes in den wild wachsenden Kräutern?''

``O ja,'' sagte der Papagei, ``aber hier habe ich es weit besser; ich habe gutes Essen und eine gute Behandlung; ich weiß, ich bin ein guter Kopf, und mehr verlange ich nicht. Laßt uns nun Menschen sein! Du bist eine Dichterseele, wie sie es nennen, ich habe gründliche Kenntnisse und Witz, Du hast viele Gaben, aber keine Besonnenheit, steigst in diesen hohen Naturtönen hinauf, und deshalb wirst Du zugedeckt. Das bietet man mir nicht, nein, denn ich habe ihnen mehr gekostet! Ich mache Eindruck mit meinem Schnabel und kann mit `Witz' schlagen. Nein, laßt uns nun Menschen sein!''

``O, mein warmes, blühendes Vaterland!'' sang der Kanarienvogel. ``Ich will Deine dunkelgrünen Bäume und Deine stillen Meerbusen besingen, wo die Zweige die klare Wasserfläche küssen, singen von dem Jubel aller meiner schimmernden Brüder und Schwestern, wo der Wüste Pflanzenquellen wachsen!''

``Laß doch nur die traurigen Töne!'' sagte der Papagei. ``Sage etwas, worüber man lachen kann! Gelächter ist das Zeichen des höchsten geistigen Standpunktes. Sieh, ob ein Hund oder Pferd lachen kann; nein, weinen können sie, aber lachen, das ist allein dem Menschen gegeben. Ho, ho, ho!'' lachte das Papchen, und fügte seinen Witz: ``Laßt uns nun Menschen sein!'' hinzu.

``Du kleiner, grauer Vogel,'' sagte der Kanarienvogel, ``Du bist auch Gefangener geworden, es ist sicher kalt in Deinen Wäldern, aber da ist doch Freiheit, fliege hinaus! Man hat vergessen Deinen Käfig zu schließen; das oberste Fenster steht offen. Fliege, fliege!''

Unwillkürlich gehorchte der Schreiber und flog aus dem Käfig; in demselben Augenblicke knarrte die halbgeöffnete Thür zum nächsten Zimmer, und geschmeidig mit grünen funkelnden Augen, schlich sich die Hauskatze herein und machte Jagd auf ihn. Der Kanarienvogel flatterte im Käfig, der Papagai schlug mit den Flügeln und rief: ``Laßt uns nun Menschen sein!'' Der Schreiber fühlte den tötlichsten Schreck und flog durch das Fenster, über die Häuser und Straßen davon, zuletzt mußte er etwas ausruhen. Das gegenüberliegende Haus hatte etwas Heimisches, ein Fenster stand offen, er flog hinein, es war sein eigenes Zimmer; er setzte sich auf den Tisch.

``Laßt uns nun Menschen sein!'' sprach er unwillkürlich dem Papagei nach, und im selben Augenblick war er der Schreiber, aber er saß auf dem Tische.

``Gott bewahre mich!'' sagte er, ``wie bin ich hier herauf gekommen und eingeschlafen? Das war ein unruhiger Traum, den ich hatte. Dummes Zeug war doch die ganze Geschichte.''

\AMsubsection{VI. Das Beste, was die Galoschen brachten}

Am darauf folgenden Tage, in der frühen Morgenstunde, als der Schreiber noch im Bett lag, klopfte es an seine Thür, es war sein Nachbar in demselben Stockwerk, ein junger Theolog, der hereintrat.

``Leihe mir Deine Galoschen,'' sagte er, ``es ist so naß im Garten, aber die Sonne scheint herrlich, ich möchte eine Pfeife dort unten rauchen.''

Die Galoschen zog er an und war bald unten im Garten, welcher einen Pflaumen- und einen Apfelbaum enthielt. Selbst ein so kleiner Garten, wie dieser war, gilt in einer großen Stadt für eine Herrlichkeit.

Der Theolog wanderte im Gange auf und nieder; die Uhr war erst sechs; draußen von der Straße ertönte ein Posthorn.

``O, reisen! reisen!'' rief er aus, ``das ist doch das größte Glück in der Welt, das ist meiner Wünsche höchstes Ziel! Da würde diese Unruhe, die ich fühle, gestillt werden. Aber weit fort müßte es sein; ich möchte die herrliche Schweiz sehen, Italien bereisen und --- ''.

Ja, gut war es, daß die Galoschen sogleich wirkten, sonst wäre er gar zu weit herumgekommen, sowohl für sich selbst, wie für uns andere. Er reiste. Er war mitten in der Schweiz, aber mit acht andern in das Innere eines Wagens eingepackt; er hatte Kopfschmerzen, fühlte sich müde im Nacken und das Blut war ihm in die Füße hinabgesunken, die angeschwollen von den Stiefeln gedrückt wurden. Er befand sich in einem Zustande zwischen Schlafen und Wachen. In seiner Tasche zur Rechten hatte er den Wechsel, in seiner Tasche zur Linken den Paß, und in einem kleinen Lederbeutel auf der Brust einige festgenähte Goldstücke; jeder Traum verkündete, daß eines oder das andere dieser Kostbarkeiten verloren sei, und deshalb fuhr er wie im Fieber empor, und die erste Bewegung, welche die Hand machte, war ein Dreieck von der Rechten zur Linken und gegen die Brust hinauf, um zu fühlen, ob er seine Sachen habe oder nicht. Schirme, Stöcke und Hüte schaukelten im Netze über ihm und benahmen so ziemlich eine Aussicht, die wundervoll war; er schielte danach, während das Herz sang, was wenigstens schon ein Dichter, den wir kennen, in der Schweiz gesungen, was er aber bis jetzt noch nicht hat drucken lassen:

\AMquote{
        Hier ist's schön, so frei und still, \\
        Montblanc seh' ich, den steilen, \\
        Wenn nur das Geld ausreichen will, \\
        Ach, dann ist hier gut weilen!
}

Groß, ernst und dunkel war die ganze Natur rings um ihn.

Die Tannenwälder erschienen wie Haidekraut auf den hohen Felsen, deren Gipfel im Wolkennebel verborgen waren; nun begann es zu schneien, der kalte Wind blies.

``Uh!'' seufzte er, ``wären wir doch auf der andern Seite der Alpen, dann wäre es Sommer und ich hätte Geld auf meinen Wechsel erhoben; die Angst, die ich für diesen fühle, macht, daß ich die Schweiz nicht genieße, o, wäre ich doch schon auf der andern Seite!''

Und da war er auf der andern Seite; mitten in Italien war er, zwischen Florenz und Rom. Der Trasimener See lag in der Abendbeleuchtung, wie flammendes Gold, zwischen den dunkelblauen Bergen. Hier, wo Hannibal den Flaminius schlug, hielten sich nun die Weinranken friedlich an den grünen Fingern; liebliche, halbnackte Kinder hüteten eine Herde kohlschwarzer Schweine unter einer Gruppe duftender Lorbeerbäume am Wege. Könnten wir dieses Gemälde richtig wiedergeben, so würden alle jubeln: ``Herrliches Italien!'' Aber das sagte keineswegs der Theolog oder ein einziger der Reisegefährten im Wagen.

Giftige Fliegen und Mücken flogen bei ihnen zu Dutzenden in den Wagen hinein, vergebens schlugen sie mit einem Myrtenzweige um sich, die Fliegen stachen dennoch; es war nicht ein Mensch im Wagen, dessen Gesicht nicht von den blutigen Bissen angeschwollen gewesen wäre. Die armen Pferde sahen wie tot aus, die Fliegen saßen in großen Scharen auf denselben, und nur augenblicklich half es, daß der Kutscher hinabstieg und die Tiere abschabte. Nun sank die Sonne unter, eine kurze, aber eisige Kälte ging durch die ganze Natur, es war gleich des Grabgewölbes kaltem Luftzug nach einem heißen Sommertage, aber ringsumher erhielten Berge und Wolken den sonderbaren grünen Ton, welchen wir auf einzelnen alten Gemälden finden, und, wenn wir ein solches Farbenspiel nicht im Süden erlebt haben, für unnatürlich halten. Es war ein herrliches Schauspiel, aber --- der Magen war leer, der Körper ermüdet, alle Sehnsucht des Herzens drehte sich um ein Nachtlager, aber wie wird dies ausfallen? Man blickte weit inniger danach, als nach der schönen Natur.

Der Weg ging durch einen Olivenwald, es war, als führe er daheim zwischen knotigen Weiden, hier lag das einsame Wirtshaus. Ein Dutzend bettelnder Krüppel hatte sich vor demselben gelagert; der rascheste derselben sah aus, um einen Ausdruck von Marryat zu gebrauchen, wie ``der älteste Sohn des Hungers, der das Alter seiner Volljährigkeit erreicht hat'', die andern waren entweder blind, hatten vertrocknete Beine und krochen auf den Händen, oder zeigten abgezehrte Arme mit fingerlosen Händen. Das war das Elend recht aus den Lumpen gezogen. ``Erbarmen, meine Herren!'' seufzten sie und streckten die kranken Glieder vor. Die Wirtin selbst mit bloßen Füßen, ungekämmten Haaren und nur mit einer schmutzigen Blouse bedeckt, empfing die Gäste. Die Thüren waren mit Bindfaden zusammengebunden, der Fußboden in den Zimmern bot ein halbaufgewühltes Pflaster von Mauersteinen dar; Fledermäuse flogen unter der Decke hin, und der Gestank hier drinnen --- ---

``Decken Sie unten im Stall!'' sagte einer der Reisenden, ``dort unten weiß man doch, was man einatmet!''

Die Fenster wurden geöffnet, damit etwas frische Luft hereindringen könnte, aber schneller als diese kamen die verdorrten Arme und das ewige Jammern: ``Erbarmen!'' herein. Auf den Wänden standen viele Inschriften, die Hälfte war gegen das schöne Italien.

Das Essen wurde aufgetragen; es gab eine Suppe von Wasser, gewürzt mit Pfeffer und ranzigem Öl. Letzteres spielte die Hauptrolle beim Salat; verdorbene Eier und gebratene Hahnekämme waren die Prachtgerichte, selbst der Wein hatte einen Beigeschmack, er war eine wahre Arznei.

Zur Nacht wurden die Koffer gegen die Thür aufgestellt; einer der Reisenden hatte die Wache, während die andern schliefen; der Theolog war der Wachthabende; o, wie schwül war es hier drinnen! die Hitze drückte, die Mücken summten und stachen, die Armen draußen jammerten im Traum.

``Ja, reisen ist schon gut,'' sagte der Theolog, ``hätte man nur keinen Körper; könnte dieser ruhen und der Geist dagegen fliegen. Wohin ich komme, fühle ich einen Mangel, der das Herz drückt; etwas Besseres als das Augenblickliche ist es, was ich haben will; ja, etwas Besseres, das Beste, aber wo und was ist es? Im Grunde weiß ich wohl, was ich will, ich will zu einem glücklichen Ziel, dem glücklichsten von allen!''

So wie das Wort ausgesprochen war, befand er sich in der Heimat; die langen, weißen Vorhänge hingen vor den Fenstern herab und mitten auf dem Fußboden stand der schwarze Sarg, in diesem lag er in seinem stillen Todesschlaf, sein Wunsch war erfüllt, der Körper ruhte, der Geist reiste. ``Preise niemand glücklich, bevor er in seinem Grabe ist!'' waren die Worte Solons, hier wurde ihre Wahrheit erneut.

Jede Leiche ist die Sphinx der Unsterblichkeit; auch die Sphinx hier auf dem Sarge beantwortete uns, was der Lebende zwei Tage im voraus niedergeschrieben hatte:

\AMquote{
        Du starker Tod, Dein Schweigen machet Graun; \\
        Hast Du uns nur die Totengruft zu bieten, \\
        Sollt nicht der Geist die Jakobsleiter schaun, \\
        Und fortbestehn nur in den Grabesblüten? \\
        Das größte Leiden sieht die Welt oft nicht! \\
        Du, der Du einsam warst bis an Dein Ende, \\
        Weit schwerer drückt das Herz so manche Pflicht, \\
        Als hier die Erde an des Sarges Wände!
}

Zwei Gestalten bewegten sich im Zimmer, wir kennen sie beide, es war die Fee der Trauer und die Abgesandte des Glückes; sie beugten sich über den Toten hin.

``Siehst Du,'' sagte die Trauer, ``welches Glück brachten Deine Galoschen wohl der Menschheit?''

``Sie brachten wenigstens ihm, der hier schlummert, ein dauerndes Gut!'' antwortete die Freude.

``O nein!'' sagte die Trauer. ``Selbst ging er fort, er wurde nicht gerufen; seine geistige Kraft war nicht stark genug, um die Schätze hier zu heben, die er seiner Bestimmung nach heben muß! Ich will ihm eine Wohlthat erweisen!''

Sie zog die Galoschen von seinen Füßen; da war der Todesschlaf geendet, der Wiederbelebte erhob sich. Die Trauer verschwand, mit ihr aber auch die Galoschen; sie hat sie sicher als ihr Eigentum betrachtet.

Die Schneekönigin

[edit]
Extended content
\AMsection{Die Schneekönigin}

(In sieben Geschichten)

\AMsubsection{Erste Geschichte}

\AMcentering{welche von dem Spiegel und den Scherben handelt}

Seht, nun fangen wir an. Wenn wir am Ende der Geschichte sind, wissen wir mehr als jetzt, denn es war ein böser Zauberer, einer der allerärgsten, es war der Teufel! Eines Tages war er recht bei Laune, denn er hatte einen Spiegel gemacht, welcher die Eigenschaft besaß, daß alles Gute und Schöne, was sich darin spiegelte, fast zu nichts zusammenschwand, aber das, was nichts taugte und sich schlecht ausnahm, das trat hervor und wurde noch ärger. Die herrlichsten Landschaften sahen wie gekochter Spinat darin aus und die besten Menschen wurden darin widerlich oder standen auf dem Kopfe ohne Rumpf, ihre Gesichter wurden so verdreht, daß sie nicht zu erkennen waren, und hatte man einen Sonnenfleck, so konnte man versichert sein, daß er sich über Mund und Nase ausbreitete. Das sei äußerst belustigend, sagte der Teufel. Fuhr nun ein guter, frommer Gedanke durch einen Menschen, dann zeigte sich ein Grinsen im Spiegel, sodaß der Zauberteufel über seine künstliche Erfindung lachen mußte. Alle, die seine Zauberschule besuchten, denn er hielt Zauberschule, erzählten rings umher, daß ein Wunder geschehen sei; nun könne man erst sehen, meinten sie, wie die Welt und die Menschen wirklich aussehen. Sie liefen mit dem Spiegel umher, und zuletzt gab es kein Land oder keinen Menschen, welcher nicht verdreht darin gewesen wäre. Nun wollten sie auch zum Himmel selbst auffliegen, um sich über die Engel und den lieben Gott lustig zu machen. Je höher sie mit dem Spiegel flogen, um so mehr grinste er, sie konnten ihn kaum festhalten; sie flogen höher und höher, Gott und den Engeln näher; da erzitterte der Spiegel so fürchterlich in seinem Grinsen, daß er ihren Händen entflog und zur Erde stürzte, wo er in hundert Millionen Stücke zersprang. Da gerade verursachte er weit größeres Unglück als zuvor, denn einige Stücke waren so groß als ein Sandkorn, und diese flogen rings herum in der weiten Welt, und wo sie Leute in das Auge bekamen, da blieben sie sitzen, und da sahen die Menschen alles verkehrt, oder hatten nur Augen für das Verkehrte bei einer Sache, denn jede kleine Spiegelscherbe hatte dieselben Kräfte behalten, welche der ganze Spiegel besaß. Einige Menschen bekamen sogar eine kleine Spiegelscherbe in das Herz, und dann war es ganz gräulich; das Herz wurde einem Klumpen Eise gleich. Einige Spiegelscherben waren so groß, daß sie zu Fensterscheiben gebraucht wurden, aber durch diese Scheiben taugte es nichts, seine Freunde zu betrachten. Andere Stücke kamen in Brillen, und dann ging es schlecht, wenn die Leute diese Brillen aufsetzten, um recht zu sehen und gerecht zu sein. Der Böse lachte, daß ihm beinahe der Bauch platzte, und das kitzelte ihn angenehm. Aber draußen flogen noch kleine Glasscherben in der Luft umher. Nun werden wir's hören.

\AMsubsection{Zweite Geschichte}

\AMcentering{Ein kleiner Knabe und ein kleines Mädchen}

Drinnen in der großen Stadt, wo so viele Menschen und Häuser sind, sodaß dort nicht Platz genug ist, daß alle Leute einen kleinen Garten besitzen können, und wo sich deshalb die meisten mit Blumen in Blumentöpfen begnügen müssen, da waren doch zwei arme Kinder, die einen etwas größeren Garten als einen Blumentopf besaßen. Sie waren nicht Bruder und Schwester, aber sie waren sich so gut, als wenn sie es gewesen wären. Die Eltern wohnten einander gerade gegenüber; sie wohnten in zwei Dachkammern, da, wo das Dach des einen Nachbarhauses gegen das andere stieß und die Wasserrinne zwischen den Dächern entlang lief. Hier war in jedem Hause ein kleines Fenster; man brauchte nur über die Rinne zu schreiten, so konnte man von dem einen Fenster zum andern gelangen.

Die Eltern hatten draußen jedes einen großen Holzkasten, drin wuchsen Kü\-chen\-kräu\-ter, die sie brauchten, und ein kleiner Rosenstock; es stand einer in jedem Kasten, und sie wuchsen herrlich. Nun fiel es den Eltern ein, die Kasten quer über die Rinne zu stellen, sodaß sie fast von dem einen bis zum andern Fenster reichten und zwei Blumenwällen ganz ähnlich sahen. Erbsenranken hingen über die Kasten hinunter und die Rosenstöcke schossen lange Zweige, die sich um die Fenster rankten und sich einander entgegenbogen, es war fast einer Ehrenpforte von Blättern und Blumen gleich. Da die Kasten sehr hoch waren und die Kinder wußten, daß sie nicht hinaufkriechen durften, so erhielten sie oft die Erlaubnis, zu einander hinauszusteigen, auf ihren kleinen Schemeln unter den Rosen zu sitzen, und da spielten sie dann prächtig.

Im Winter hatte dies Vergnügen ein Ende. Die Fenster waren oft ganz zugefroren. Aber dann wärmten die Kinder Kupferdreier auf dem Ofen, legten den warmen Dreier gegen die gefrorene Scheibe, und dann entstand da ein rundes, schönes Guckloch; dahinter blitzte ein lieblich mildes Auge, eins von jedem Fenster; das war der kleine Knabe und das kleine Mädchen. Er hieß Karl und sie hieß Gretchen. Im Sommer konnten sie mit einem Sprunge zu einander gelangen, im Winter mußten sie erst die vielen Treppen hinunter- und die andern Treppen hinaufsteigen; draußen trieb der Schnee.

``Das sind die weißen Bienen, die schwärmen!'' sagte die alte Großmutter.

``Haben sie auch eine Bienenkönigin?'' fragte der kleine Knabe, denn er wußte, daß unter den wirklichen Bienen eine solche ist.

``Die haben sie!'' sagte die Großmutter. ``Sie fliegt dort, wo sie am dichtesten schwärmen, sie ist die größte von allen, und nie ist sie stille auf Erden, sie fliegt wieder in die schwarze Wolke hinauf. Manche Winternacht fliegt sie durch die Straßen der Stadt und blickt zu den Fenstern hinein, und dann gefrieren diese sonderbar, gleich wie mit Blumen.''

``Ja, das habe ich gesehen!'' sagten beide Kinder und nun wußten sie, daß es wahr sei.

``Kann die Schneekönigin hier hereinkommen?'' fragte das kleine Mädchen.

``Laß sie nur kommen,'' sagte der Knabe, ``dann setze ich sie auf den warmen Ofen, und dann schmilzt sie.''

Aber die Großmutter glättete sein Haar und erzählte andere Geschichten.

Am Abend, als der kleine Karl zu Hause und halb entkleidet war, kletterte er auf den Stuhl am Fenster und guckte aus dem kleinen Loche. Ein paar Schneeflocken fielen draußen und eine derselben, die allergrößte, blieb auf dem Rande des einen Blumenkasten liegen; sie wuchs mehr und mehr und wurde zuletzt ein ganzes Frauenzimmer, in den feinsten, weißen Flor gekleidet, der wie von Millionen sternartiger Flocken zusammengesetzt war. Sie war schön und fein, aber von Eis, dem blendenden, blinkenden Eise, und doch war sie lebend; die Augen blitzten wie zwei klare Sterne, aber es war keine Ruhe noch Rast in ihnen. Sie nickte dem Fenster zu und winkte mit der Hand. Der kleine Knabe erschrak und sprang vom Stuhle hernieder, da war es, als ob draußen vor dem Fenster ein großer Vogel vorbei flöge.

Am nächsten Tage wurde es klarer Frost, --- und dann kam das Frühjahr, die Sonne schien, das Grün keimte hervor, Schwalben bauten Nester, die Fenster wurden geöffnet, und die kleinen Kinder saßen wieder in ihrem kleinen Garten hoch oben in der Dachrinne über allen Stockwerken.

Die Rosen blühten diesmal prachtvoll. Das kleine Mädchen hatte in diesem Sommer ein Lied gelernt, in welchem auch von Rosen die Rede war, und bei den Rosen dachte sie an ihre eigenen, und sie sang es dem kleinen Knaben vor, und er sang mit:

\AMquote{
        ``Die Rosen, sie blühen und verwehen, \\
        Wir werden das Christkind wieder sehen!''
}

Und die Kleinen hielten einander bei den Händen, küßten die Rosen und blickten in Gottes klaren Sonnenschein hinein und sprachen zu demselben, als ob das Jesuskind da wäre. Was waren das für herrliche Sommertage, wie schön war es draußen, bei den frischen Rosenstöcken, welche mit dem Blühen nie aufhören wollten!

Karl und Gretchen saßen und blickten in das Bilderbuch mit Thieren und Vögeln, da war es --- die Uhr schlug gerade fünf auf dem großen Kirchturme --- daß Karl sagte: ``Au, es stach mir in das Herz! Und nun flog mir etwas in das Auge!''

Das kleine Mädchen nahm ihn um den Hals, er blinzelte mit den Augen, aber es war gar nichts zu sehen.

``Ich glaube, es ist fort!'' sagte er; aber weg war es nicht. Es war eins von den Glaskörnern, welches vom Spiegel gesprungen war, dem Zauberspiegel, wir entsinnen uns seiner wohl, das häßliche Glas, welches alles Große und Gute, was sich darin abspiegelte, klein und häßlich machte, aber das Böse und Schlechte trat ordentlich hervor, und jeder Fehler an einer Sache war gleich zu bemerken. Der arme Karl hatte auch ein Korn gerade in das Herz hinein bekommen. Das wird nun bald wie ein Eisklumpen werden. Nun that es nicht mehr wehe, aber es war da.

``Weshalb weinst Du?'' fragte er. ``So siehst Du häßlich aus! Mir fehlt ja nichts! Pfui!'' rief er auf einmal, ``die Rose dort hat einen Wurmstich! und sieh, diese da ist ja ganz schief! Im Grunde sind es häßliche Rosen! sie gleichen dem Kasten, in welchem sie stehen!'' und dann stieß er mit dem Fuße gegen den Kasten und riß die beiden Rosen ab.

``Karl, was machst Du?'' rief das kleine Mädchen; und als er ihren Schreck gewahr wurde, riß er noch eine Rose ab und lief dann in sein Fenster hinein von dem kleinen, lieblichen Gretchen fort.

Wenn sie später mit dem Bilderbuche kam, dann sagte er, daß das für Säuglinge sei, und erzählte die Großmutter Geschichten, so kam er immer mit einem Aber; ja, konnte er dazu gelangen, dann ging er hinter ihr her, setzte eine Brille auf und sprach eben so wie sie; das machte er ganz treffend, und dann lachten die Leute über ihn. Bald konnte er allen Menschen in der ganzen Straße nachsprechen und nachgehen. Alles, was ihnen eigen und unschön war, das wußte Karl nachzumachen, und dann sagten die Leute: ``Das ist sicher ein ausgezeichneter Kopf, den der Knabe hat!'' Aber das war das Glas, was ihm in das Auge gekommen, das Glas, welches ihm in dem Herzen saß; daher kam es, daß er selbst das kleine Gretchen neckte, die ihm von ganzem Herzen gut war.

Seine Spiele wurden nun ganz anders als früher, sie wurden ganz verständig! An einem Wintertage, als es schneite, kam er mit einem großen Brennglase, hielt seinen blauen Rockzipfel hinaus und ließ die Schneeflocken darauf fallen.

``Sieh nun in das Glas, Gretchen!'' sagte er, und jede Schneeflocke wurde viel größer und sah aus wie eine prächtige Blume oder ein zehneckiger Stern; es war schön anzusehen. ``Siehst Du, wie künstlich!'' sagte Karl. ``Das ist weit hübscher als die wirklichen Blumen, und es ist kein einziger Fehler daran, sie sind ganz regelmäßig, wenn sie nur nicht schmelzen würden!''

Bald darauf kam Karl mit großen Handschuhen und seinem Schlitten auf dem Rücken und rief Gretchen in die Ohren: ``Ich habe Erlaubnis erhalten, auf den großen Platz zu fahren, wo die andern Knaben spielen!'' und weg war er.

Dort auf dem Platze banden oft die kecksten Knaben ihre Schlitten an die Wagen der Landleute fest und dann fuhren sie ein gutes Stück Weges mit. Das ging prächtig. Als sie im besten Spielen waren, da kam ein großer Schlitten, der war ganz weiß angestrichen, und darin saß jemand in einen rauhen, weißen Pelz gehüllt und mit einer weißen, rauhen Mütze. Der Schlitten fuhr zweimal herum um den Platz, und Karl band seinen kleinen Schlitten schnell daran fest und nun fuhr er mit. Es ging rascher und rascher, gerade hinein in die nächste Straße; der, welcher fuhr, wendete das Haupt und nickte freundlich zu, es war gerade, als ob sie einander kannten. Jedesmal, wenn Karl seinen kleinen Schlitten ablösen wollte, nickte die Person wieder, und dann blieb Karl sitzen. Sie fuhren endlich zum Stadtthor hinaus, da begann der Schnee so stark hernieder zu fallen, daß der kleine Knabe keine Hand vor sich erblicken konnte, aber er fuhr davon. Da ließ er schnell die Schnur fallen, um von dem großen Schlitten loszukommen, aber das half nichts, sein kleines Fahrzeug hing fest, und es ging mit Windeseile. Da rief er ganz laut, aber niemand hörte ihn, der Schnee trieb und der Schlitten flog von dannen; mitunter gab es einen Sprung, es war, als führe er über Gräben und Hecken. Er war ganz erschrocken, er wollte sein Vaterunser beten, aber er konnte sich nur des großen Einmaleins entsinnen.

Die Schneeflocken wurden größer und größer, zuletzt sahen sie aus wie große, weiße Hühner; auf einmal sprangen sie zur Seite, der große Schlitten hielt, und die Person, die ihn fuhr, erhob sich. Pelz und Mütze waren ganz und gar von Schnee, es war eine Dame, hoch und schlank, glänzend weiß, es war die Schneekönigin.

``Wir sind gut gefahren!'' sagte sie, ``aber wer wird frieren! Krieche in meinen Bärenpelz!'' und sie setzte ihn neben sich in den Schlitten, schlug den Pelz um ihn und es war, als versinke er in einem Schneetreiben.

``Friert Dich noch?'' fragte sie, und dann küßte sie ihn auf die Stirn. O! das war kälter als Eis, das ging ihm gerade hinein bis an sein Herz, welches ja doch zur Hälfte ein Eisklumpen war. Es war, als sollte er sterben, aber nur einen Augenblick, dann that es ihm gerade recht wohl; er spürte nichts mehr von der Kälte ringsumher.

``Meinen Schlitten! vergiß nicht meinen Schlitten!'' daran dachte er zuerst, und der wurde an eines der weißen Hühner festgebunden, und dieses flog hinterher mit dem Schlitten auf dem Rücken. Die Schneekönigin küßte Karl nochmals und dann hatte er das kleine Gretchen, die Großmutter und alle daheim vergessen.

``Nun bekommst Du keine Küsse mehr,'' sagte sie, ``denn sonst küsse ich Dich tot!''

Karl sah sie an, sie war sehr schön, ein klügeres, lieblicheres Antlitz konnte er sich nicht denken. Sie erschien ihm nun nicht von Eis, wie damals, als sie draußen vor dem Fenster saß und ihm winkte; in seinen Augen war sie vollkommen, er fühlte gar keine Furcht; er erzählte ihr, daß er im Kopfe rechnen könnte, und zwar mit Brüchen, er wisse die Größe des Landes und die Einwohnerzahl, und sie lächelte immer. Das kam ihm vor, als wäre es noch nicht genug, was er wisse, und er blickte hinauf in den großen, großen Luftraum und sie flog mit ihm, flog hoch hinauf in die schwarze Wolke, und der Sturm sauste und brauste, es war, als sänge er alte Lieder. Sie flogen über Wälder und Seen, über Meere und Länder; unter ihnen sauste der kalte Wind, die Wölfe heulten, der Schnee funkelte, über demselben flogen die schwarzen, schreienden Krähen dahin, aber hoch oben schien der Mond groß und klar, und den betrachtete Karl die lange, lange Winternacht; am Tage schlief er zu den Füßen der Schneekönigin.

\AMsubsection{Dritte Geschichte}

\AMcentering{Der Blumengarten bei der Frau, welche zaubern konnte}

Aber wie erging es dem kleinen Gretchen, als Karl nicht zurückkehrte? Wo war er doch geblieben? --- Niemand wußte es, niemand konnte Bescheid geben. Die Knaben erzählten nur, daß sie ihn seinen Schlitten an einen prächtig großen haben binden sehen, der in die Straße hinein und aus dem Stadtthore gefahren sei, niemand wußte, wo er war, viele Thränen flossen, das kleine Gretchen weinte viel und lange; dann sagten sie, er sei tot, er sei im Flusse versunken, der nahe bei der Stadt vorbeifloß. O, das waren recht lange, finstere Wintertage.

Nun kam der Frühling mit warmem Sonnenschein.

``Karl ist tot!'' sagte das kleine Gretchen.

``Das glaube ich nicht!'' sagte der Sonnenschein.

``Er ist tot!'' sagte sie zu den Schwalben.

``Das glauben wir nicht!'' erwiderten diese, und am Ende glaubte das kleine Gretchen es auch nicht.

``Ich will meine neuen, roten Schuhe anziehen,'' sagte sie eines Morgens, ``die welche Karl noch nie gesehen hat, und dann will ich zum Flusse hinunter gehen und diesen nach ihm fragen!''

Es war noch ganz früh, sie küßte die alte Großmutter, welche noch schlief, zog die roten Schuhe an und ging ganz allein aus dem Stadtthore nach dem Flusse.

``Ist es wahr, daß Du meinen kleinen Spielkameraden genommen hast? Ich will Dir meine roten Schuhe geben, wenn Du mir ihn wiedergeben willst!''

Und es war, als nickten die Wogen sonderbar; da nahm sie ihre roten Schuhe, das, was sie am liebsten hatte, und warf sie beide in den Fluß hinaus, aber sie fielen dicht an das Ufer, und die kleinen Wellen trugen sie ihr wieder an das Land. Es war, als wollte der Fluß das Liebste, was sie hatte, nicht nehmen, weil er den kleinen Karl ja nicht hatte. Gretchen aber glaubte nun, daß sie die Schuhe nicht weit genug hinausgeworfen habe, und so kroch sie in ein Boot, welches im Schilfe lag, ging ganz an das Ende desselben und warf die Schuhe von da aus in das Wasser. Aber das Boot war nicht festgebunden, und bei der Bewegung, welche sie verursachte, glitt es vom Lande ab; sie bemerkte es und beeilte sich fortzukommen, aber ehe sie zurückkam, war das Boot über eine Elle vom Lande, und nun trieb es schneller von dannen.

Da wurde das kleine Gretchen ganz erschrocken und fing an zu weinen; aber niemand außer den Sperlingen hörte sie, und die konnten sie nicht an das Land tragen, aber sie flogen längs dem Ufer und sangen gleichsam, um sie zu trösten: ``Hier sind wir, hier sind wir!'' Das Boot trieb mit dem Strome; das kleine Gretchen saß ganz still in den bloßen Strümpfen; ihre kleinen, roten Schuhe trieben hinterher, aber sie konnten das Boot nicht erreichen, das hatte stärkere Fahrt.

Hübsch war es an beiden Ufern, schöne Blumen, alte Bäume und Abhänge mit Schafen und Kühen, aber nicht ein Mensch war zu erblicken.

``Vielleicht trägt mich der Fluß zu dem kleinen Karl hin!'' dachte Gretchen und da wurde sie heiter, erhob sich und betrachtete viele Stunden die schönen, grünen Ufer; dann gelangte sie zu einem großen Kirschengarten, worin ein kleines Haus mit sonderbar roten und blauen Fenstern war, übrigens hatte es ein Strohdach und draußen standen zwei hölzerne Soldaten, die vor den Vorbeisegelnden das Gewehr schulterten.

Gretchen rief nach ihnen; sie glaubte, daß sie lebend seien, aber sie antworteten natürlich nicht; sie kam ihnen ganz nahe, der Fluß trieb das Bot gerade auf das Land zu.

Gretchen rief noch lauter, und da kam eine alte, alte Frau aus dem Hause, die sich auf einen Krückenstock stützte; sie hatte einen großen Sonnenhut auf, und der war mit den schönsten Blumen bemalt.

``Du kleines, armes Kind!'' sagte die alte Frau. ``Wie bist Du doch auf den großen, reißenden Strom gekommen und weit in die Welt hinaus getrieben?'' Und dann ging die alte Frau an das Wasser, erfaßte mit ihrem Krückstock das Boot, zog es an das Land und hob das kleine Gretchen heraus.

Diese war froh, wieder auf das Trockene zu gelangen, obgleich sie sich vor der alten Frau ein wenig fürchtete.

``Komm doch und erzähle mir, wer Du bist, und wie Du hierher kommst?'' sagte sie.

Gretchen erzählte ihr alles; und die Alte schüttelte mit dem Kopfe und sagte: ``Hm! hm!'' und als ihr Gretchen alles gesagt und gefragt hatte, ob sie nicht den kleinen Karl gesehen habe, sagte die Frau, daß er nicht vorbeigekommen sei, aber er komme wohl noch, sie solle nur nicht betrübt sein, sondern die Kirschen kosten, ihre Blumen betrachten, die seien schöner als irgend ein Bilderbuch, eine jede könne eine Geschichte erzählen. Da nahm sie Gretchen bei der Hand, sie gingen in das kleine Haus hinein, und die alte Frau schloß die Thüre zu.

Die Fenster lagen sehr hoch und die Scheiben waren rot, blau und gelb, und das Tageslicht schien ganz sonderbar herein; aber auf dem Tische standen die schönsten Kirschen, und Gretchen aß davon so viel sie wollte, denn das war ihr erlaubt. Während sie speiste, kämmte die alte Frau ihr Haar mit einem goldenen Kamme, und das Haar ringelte sich und glänzte herrlich gelb rings um das kleine, freundliche Antlitz, welches rund war und wie eine Rose aussah.

``Nach einem so lieben kleinen Mädchen habe ich mich schon lange gesehnt!'' sagte die Alte. ``Nun wirst Du sehen, wie gut wir mit einander leben werden!'' Und so wie sie dem kleinen Gretchen das Haar kämmte, vergaß diese mehr und mehr ihren Kameraden Karl, denn die alte Frau konnte zaubern, aber eine böse Zauberin war sie nicht. Sie zauberte nur ein bißchen zu ihrem eigenen Vergnügen, und wollte gern das kleine Gretchen behalten. Deshalb ging sie hinaus in den Garten, streckte ihren Krückstock gegen alle Rosensträuche aus, und wie schön sie auch blühten, so sanken sie alle in die schwarze Erde hinunter, und man konnte nicht sehen, wo sie gestanden hatten. Die Alte fürchtete, daß Gretchen, wenn sie die Rosen erblickte, an ihre eigenen denken, sich dann des kleinen Karl erinnern und davonlaufen würde.

Nun führte sie Gretchen in den Blumengarten. Was war da für ein Duft und eine Herrlichkeit! Alle nur denkbaren Blumen, für jede Jahreszeit, standen hier in der prächtigsten Blüte; kein Bilderbuch konnte hübscher und bunter sein. Gretchen sprang vor Freude, und spielte, bis die Sonne hinter den hohen Kirschbäumen unterging, dann bekam sie ein schönes Bett mit roten Seidenkissen, die mit Veilchen gestopft waren, und sie schlief und träumte da so herrlich, wie nur eine Königin an ihrem Hochzeitstage.

Am nächsten Tage konnte sie wieder mit den Blumen im warmen Sonnenschein spielen. So verflossen viele Tage. Gretchen kannte jede Blume, aber wie viele es auch waren, wo war es ihr doch, als ob eine fehlte, aber welche, das wußte sie nicht. Da sitzt sie eines Tages und betrachtet den Sonnenhut der alten Frau mit den gemalten Blumen, und gerade die schönste darunter war eine Rose. Die Alte hatte vergessen, diese vom Hute wegzuwischen, als sie die anderen in die Erde verbannte. Aber so ist es, wenn man die Gedanken nicht immer gesammelt hat! ``Was!'' sagte Gretchen, ``sind hier keine Rosen?'' und sprang zwischen die Beete, suchte und suchte, aber da waren keine zu finden. Da setzte sie sich hin und weinte; aber ihre Thränen fielen gerade auf eine Stelle, wo ein Rosenstrauch versunken war, und als die warmen Thränen die Erde benetzten, schoß der Strauch auf einmal empor, so blühend als er versunken war, und Gretchen umarmte ihn, küßte die Rosen und gedachte der herrlichen Rosen daheim und mit ihnen auch des kleinen Karl.

``O, wie bin ich aufgehalten worden!'' sagte das kleine Mädchen. ``Ich wollte ja den kleinen Karl suchen! --- Wißt Ihr nicht, wo er ist?'' fragte sie die Rosen. ``Glaubt Ihr, er sei tot?''

``Tot ist er nicht,'' sagten die Rosen. ``Wir sind ja in der Erde gewesen, dort sind ja alle die Toten, aber Karl war nicht da!''

``Ich danke Euch!'' sagte das kleine Gretchen, und sie ging zu den andern Blumen hin, sah in deren Kelch hinein und fragte: ``Wißt Ihr nicht, wo der kleine Karl ist?''

Aber jede Blume stand in der Sonne und träumte ihr eigenes Märchen oder Geschichtchen, davon hörte Gretchen viele, viele, aber keine wußte etwas von Karl.

Und was sagte denn die Feuerlilie?

``Hörst Du die Trommel? Bum! Bum! Es sind nur zwei Töne, immer bum! bum! Höre der Frauen Trauergesang! höre den Ruf der Priester! --- In ihrem langen, roten Mantel steht das Hinduweib auf dem Scheiterhaufen, die Flammen lodern um sie und ihren toten Mann empor. Aber das Hinduweib denkt an den Lebenden hier im Kreise, an ihn, dessen Augen heißer als die Flammen brennen, an ihn, dessen Augenfeuer ihr Herz stärker berührt, als die Flammen, welche bald ihren Körper zu Asche verbrennen. Kann die Flamme des Herzens in der Flamme des Scheiterhaufens ersterben?''

``Das verstehe ich durchaus nicht!'' sagte das kleine Gretchen.

``Das ist mein Märchen!'' sagte die Feuerlilie.

Was sagt die Winde?

``Über den schmalen Feldweg hinaus hängt eine alte Ritterburg; dichtes Immergrün wächst um die alten, roten Mauern empor, Blatt an Blatt, um den Altan herum, und da steht ein schönes Mädchen; sie beugt sich über das Geländer hinaus und sieht den Weg hinunter. Keine Rose hängt frischer an den Zweigen als sie, keine Apfelblüte, wenn der Wind sie dem Baume entführt, ist schwebender als sie; wie rauscht das prächtige Seidengewand! `Kommt er noch nicht?' ''

``Ist es Karl, den Du meinst?'' fragte das kleine Gretchen.

``Ich spreche nur von meinem Märchen, meinem Traume!'' erwiderte die Winde.

Was sagt die kleine Schneeblume?

``Zwischen Bäumen hängt an Seilen das lange Brett, das ist eine Schaukel. Zwei niedliche, kleine Mädchen --- die Kleider sind weiß wie der Schnee, lange, grüne Seidenbänder flattern von den Hüten --- sitzen und schaukeln sich; der Bruder, welcher größer ist, als sie, steht in der Schaukel, er hat den Arm um das Seil geschlagen, um sich zu halten, denn in der einen Hand hält er eine kleine Schale, in der andern eine Thonpfeife, er bläst Seifenblasen. Die Schaukel geht und die Blasen fliegen mit schönen, wechselnden Farben; die letzte hängt noch am Pfeifenstiele, und biegt sich im Winde; die Schaukel geht. Der kleine, schwarze Hund, leicht wie die Blasen, erhebt sich auf den Hinterfüßen, und will mit in die Schaukel; sie fliegt; der Hund fällt, bellt und ist böse; er wird geneckt, die Blasen bersten. --- Ein schaukelndes Brett, ein zerspringendes Schaumbild ist mein Gesang!''

``Es ist wohl möglich, daß es hübsch ist, was Du erzählst, aber Du sagst es so traurig und erwähnst des kleinen Karl gar nicht.''

Was sagen die Hyacinthen?

``Es waren drei schöne Schwestern, durchsichtig und fein. Das Kleid der einen war rot, das der andern blau, das der dritten ganz weiß. Hand in Hand tanzten sie beim stillen See im klaren Mondscheine. Es waren keine Elfen, es waren Menschenkinder. Dort duftete es süß, und die Mädchen verschwanden im Walde; der Duft wurde stärker; drei Särge, darin lagen die schönen Mädchen, glitten von des Waldes Dickicht über den See dahin; die Johanniswürmchen flogen leuchtend ringsumher als kleine, schwebende Lichter. Schlafen die tanzenden Mädchen oder sind sie tot? --- Der Blumenduft sagt, sie sind Leichen; die Abendglocke läutet den Grabgesang.''

``Du machst mich ganz betrübt!'' sagte das kleine Gretchen. ``Du duftest so stark; ich muß an die toten Mädchen denken! Ach, ist denn der kleine Karl wirklich tot? Die Rosen sind unten in der Erde gewesen, und sie sagten: nein!''

``Kling, klang!'' läuteten die Hyacinthenglocken. ``Wir läuten nicht für den kleinen Karl, wir kennen ihn nicht! Wir singen nur unser Lied, das einzige, welches wir können!''

Und Gretchen ging zur Butterblume, die aus den glänzenden, grünen Blättern hervorschien.

``Du bist eine kleine, klare Sonne!'' sagte Gretchen. ``Sage mir, ob Du weißt, wo ich meinen Gespielen finden kann?''

Und die Butterblume glänzte so schön und sah wieder auf Gretchen. Welches Lied konnte die Butterblume wohl singen? Es handelte auch nicht von Karl.

``In einem kleinen Hofe schien die liebe Gottessonne am ersten Frühlingstage schön warm, ihre Strahlen glitten an des Nachbarhauses weißen Wänden hinab, dicht dabei wuchs die erste gelbe Blume und glänzte golden in den warmen Sonnenstrahlen. Die alte Großmutter saß draußen in ihrem Stuhl, die Enkelin, ein armes, schönes Dienstmädchen, kehrte von einem kurzen Besuche heim; sie küßte die Großmutter. Es war Gold, Herzensgold in dem gesegneten Kusse. Gold im Munde, Gold im Grunde, Gold dort in der Morgenstunde! Sieh, das ist meine kleine Geschichte!'' sagte die Butterblume.

``Meine arme, alte Großmutter!'' seufzte Gretchen. ``Ja, sie sehnt sich gewiß nach mir, ist betrübt über mich, ebenso, wie sie es über den kleinen Karl war. Aber ich komme bald wieder nach Hause, und dann bringe ich ihn mit. --- Es nützt zu nichts, daß ich die Blumen frage, die wissen nur ihr eigenes Lied, sie geben mir keinen Bescheid!'' Und dann band sie ihr kleines Kleid auf, damit sie rascher gehen könne; aber die Pfingstlilie schlug ihr über das Bein, indem sie darüber hinsprang. Da blieb sie stehen, betrachtete die lange, gelbe Blume und fragte: ``Weißt Du vielleicht etwas?'' und sie bog sich ganz zur Pfingstlilie herab; und was sagte die?

``Ich kann mich selbst erblicken, ich kann mich selbst sehen,'' sagte die Pfingstlilie. ``O, o, wie ich dufte! --- Oben in dem kleinen Erkerzimmer steht, halb bekleidet, eine kleine Tänzerin, sie steht bald auf einem Beine, bald auf beiden, sie tritt die ganze Welt mit Füßen, sie ist nichts als Augenverblendung. Sie gießt Wasser aus dem Theetopf auf ein Stück Zeug aus, welches sie hält, es ist der Schnürleib --- Reinlichkeit ist eine schöne Sache! Das weiße Kleid hängt am Haken, das ist auch im Theetopf gewaschen und auf dem Dache getrocknet; sie zieht es an, nimmt das safrangelbe Tuch um den Hals, so scheint das Kleid weißer. Das Bein ausgestreckt! Sieh, wie sie auf einem Stiele prangt! Ich kann mich selbst erblicken! Ich kann mich selbst sehen!''

``Darum kümmere ich mich gar nicht!'' sagte Gretchen. ``Das brauchst Du mir nicht zu erzählen!'' Und dann lief sie nach dem Ende des Gartens.

Die Thür war verschlossen, aber sie drückte auf die verrostete Klinke, sodaß diese los ging; die Thür sprang auf, und da lief das kleine Gretchen mit bloßen Füßen in die weite Welt hinaus. Sie blickte dreimal zurück, aber da war niemand, der sie verfolgte; zuletzt konnte sie nicht mehr gehen und setzte sich auf einen großen Stein, und als sie ringsum sah, war der Sommer vorbei, es war Spätherbst, das konnte man in dem schönen Garten gar nicht bemerken, wo immer Sonnenschein und Blumen aller Jahreszeiten waren.

``Gott, wie habe ich mich verspätet!'' sagte das kleine Gretchen. ``Es ist ja Herbst geworden, da darf ich nicht ruhen!'' und sie erhob sich, um weiter zu gehen.

O, wie waren die kleinen Füße wund und müde! Rings umher sah es kalt und rauh aus; die langen Weidenblätter waren ganz gelb und der Thau tröpfelte als Wasser herab, ein Blatt fiel nach dem andern ab, nur der Schlehendorn trug noch Früchte, die waren herbe und zogen den Mund zusammen. O, wie war es grau und schwer in der weiten Welt!

\AMsubsection{Vierte Geschichte}

\AMcentering{Prinz und Prinzessin}

Gretchen mußte wieder ausruhen. Da hüpfte dort auf dem Schnee, der Stelle, wo sie saß, gerade gegenüber, eine große Krähe, die hatte lange gesessen, sie betrachtet und mit dem Kopfe gewackelt; nun sagte sie: ``Kra; kra! --- gut' Tag! gut' Tag!'' Besser konnte sie es nicht herausbringen, aber sie meinte es gut mit dem kleinen Mädchen und fragte, wohin sie allein in die weite Welt hinausgehe. Das Wort ``allein'' verstand Gretchen sehr wohl und fühlte recht, wie viel darin lag, und dann erzählte sie der Krähe ihr ganzes Leben und Geschick, und fragte, ob sie Karl nicht gesehen habe.

Die Krähe nickte ganz bedächtig und sagte: ``Das könnte sein!''

``Wie? Glaubst Du?'' rief das kleine Mädchen, und hätte fast die Krähe tot gedrückt, so küßte sie diese.

``Vernünftig, vernünftig!'' sagte die Krähe. ``Ich glaube, ich weiß, --- ich glaube, es kann der kleine Karl sein! aber nun hat er Dich sicher über der Prinzessin vergessen!''

``Wohnt er bei einer Prinzessin?'' fragte Gretchen.

``Ja, höre!'' sagte die Krähe. ``Aber es fällt mir schwer, Deine Sprache zu reden. Verstehst Du die Krähensprache, dann will ich besser erzählen!''

``Nein, diese habe ich nicht gelernt!'' sagte Gretchen, ``aber die Großmutter konnte sie, und auch die P-Sprache konnte sie sprechen. Hätte ich es nur gelernt!''

``Schadet gar nichts!'' sagte die Krähe. ``Ich werde erzählen, so gut ich kann, aber schlecht wird es immer!'' Dann erzählte sie, was sie wußte.

``In diesem Königreich, in welchem wir jetzt sitzen, wohnt eine Prinzessin, die ist ganz außerordentlich klug, aber sie hat auch alle Zeitungen, die es in der Welt giebt, gelesen und wieder vergessen, so klug ist sie. Vor kurzem sitzt sie auf dem Throne und das ist doch nicht angenehm, sagt man, da fängt sie an ein Lied zu singen: `Weshalb sollte ich mich nicht verheiraten?' `Höre, da ist etwas daran,' sagte sie, und so wollte sie sich verheiraten, aber sie wollte einen Mann haben, der zu antworten verstand, wenn man mit ihm sprach, einen, der nicht nur stand und vornehm aussah, denn das ist zu langweilig. Nun ließ sie alle Hofdamen zusammentrommeln, und als diese hörten, was sie wollte, wurden sie sehr vergnügt. `Das mag ich leiden!' sagten sie, `daran dachte ich neulich auch!' --- Du kannst glauben, daß jedes Wort, was ich sage, wahr ist!'' sagte die Krähe. ``Ich habe eine zahme Geliebte, die geht frei im Schlosse umher, und die hat mir alles erzählt!''

Die Geliebte war natürlicherweise auch eine Krähe. Denn eine Krähe sucht die andere, und das bleibt immer eine Krähe.

``Die Zeitungen kamen sogleich mit einem Rande von Herzen und der Prinzessin Namenszug heraus. Man konnte darin lesen, daß es jedem jungen Mann, der gut aussah, frei stehe, auf das Schloß zu kommen und mit der Prinzessin zu sprechen, und derjenige, welcher rede, daß man hören könne, er sei dort zu Hause, und der am besten spreche, den wolle die Prinzessin zum Mann nehmen! --- Ja, ja!'' sagte die Krähe, ``Du kannst es mir glauben, es ist so gewiß wahr, als ich hier sitze. Die Leute strömten herzu, da war ein Gedränge und ein Laufen, aber es glückte nicht, weder den ersten noch den zweiten Tag. Sie konnten alle gut sprechen, wenn sie draußen auf der Straße waren, aber wenn sie in das Schloßthor traten und sahen die Wachen in Silber und die Treppen hinauf die Diener in Gold, und die großen, erleuchteten Säle, dann wurden sie verwirrt; und standen sie vor dem Throne, wo die Prinzessin saß, dann wußten sie nichts zu sagen, als das letzte Wort, was sie gesprochen hatte, und sie kümmerte sich nicht darum, das noch einmal zu hören. Es war gerade, als ob die Leute dadrinnen Schnupftabak auf den Magen bekommen hätten und in den Schlaf gefallen wären, bis sie wieder auf die Straße kamen; dann konnten sie wieder sprechen. Da stand eine ganze Reihe vom Stadtthor an bis zum Schloß. Ich war selbst drinnen, um es zu sehen!'' sagte die Krähe. ``Sie wurden sowohl hungrig wie durstig! Aber auf dem Schloß erhielten sie nicht einmal ein Glas Wasser. Zwar hatten einige der Klügsten Butterbrot mitgenommen, aber sie teilten nicht mit ihrem Nachbar, sie dachten: `Laß ihn nur hungrig aussehen, dann nimmt die Prinzessin ihn nicht!' ''

``Aber Karl, der kleine Karl?'' fragte Gretchen. ``Wann kam der? War er unter der Menge?''

``Warte, warte, nun sind wir gerade bei ihm! Es war am dritten Tag, da kam eine kleine Person, ohne Pferd oder Wagen, ganz fröhlich gerade auf das Schloß marschiert; seine Augen glänzten wie Deine, er hatte schöne, lange Haare, aber sonst ärmliche Kleider.''

``Das war Karl!'' jubelte Gretchen. ``O, dann habe ich ihn gefunden!'' und dann klatschte sie in die Hände.

``Er hatte ein kleines Ränzel auf dem Rücken!'' sagte die Krähe.

``Nein, das war sicher sein Schlitten,'' sagte Gretchen, ``denn mit dem Schlitten ging er fort!''

``Das kann wohl sein,'' sagte die Krähe, ``ich sah nicht so genau danach; aber das weiß ich von meiner zahmen Geliebten, daß, wie er in das Schloßthor kam und die Leibwache in Silber und die Treppe hinauf die Diener in Gold sah, er nicht im mindesten verlegen wurde, nickte und zu ihnen sagte: `Das muß langweilig sein, auf der Treppe zu stehen, ich gehe lieber hinein!' Da glänzten die Säle von Lichtern; Geheimräte und Staatsräte gingen auf bloßen Füßen und trugen Goldgefäße; man konnte wohl bedenklich werden; seine Stiefel knarrten gewaltig laut, aber ihm wurde doch nicht bange!''

``Das ist ganz gewiß Karl!'' sagte Gretchen. ``Ich weiß, er hatte neue Stiefel, ich habe sie in der Großmutter Stube knarren hören!''

``Ja, sie knarrten,'' sagte die Krähe, ``und fröhlich ging er gerade zur Prinzessin hinein, die auf einer großen Perle saß, welche so groß wie ein Spinnrad war. Alle Hofdamen mit ihren Jungfern und den Jungfern der Jungfern, und alle Ritter mit ihren Dienern und den Dienern der Diener, die wieder einen Burschen hielten, standen ringsherum aufgestellt; und je näher sie der Thür standen, desto stolzer sahen sie aus. Des Dieners Dieners Burschen, der immer in Pantoffeln geht, darf man kaum anzusehen wagen, so stolz steht er in der Thür.''

``Das muß greulich sein!'' sagte das kleine Gretchen. ``Und Karl hat doch die Prinzessin erhalten?''

``Wäre ich nicht Krähe gewesen, so hätte ich sie genommen, und das ungeachtet ich verlobt bin. Er soll ebenso gut gesprochen haben, wie ich spreche, wenn ich die Krähensprache rede, das habe ich von meiner zahmen Geliebten gehört. Er war fröhlich und niedlich; er war gar nicht gekommen zum Freien, sondern nur, um der Prinzessin Klugheit zu hören, und die fand er gut, und sie fand ihn wieder gut.''

``Ja, sicher, das war Karl!'' sagte Gretchen. ``Er war so klug, er konnte die Kopfrechnung mit Brüchen! --- O, willst Du mich nicht auf dem Schlosse einführen?''

``Ja, das ist leicht gesagt!'' sagte die Krähe. ``Aber wie machen wir das? Ich werde darüber mit meiner zahmen Geliebten sprechen; sie kann uns wohl Rat erteilen; denn das muß ich Dir sagen, so ein kleines Mädchen, wie Du bist, bekommt nie Erlaubnis, hineinzukommen!''

``Ja, die erhalte ich!'' sagte Gretchen. ``Wenn Karl hört, daß ich da bin, kommt er sogleich heraus und holt mich!''

``Erwarte mich dort am Gitter!'' sagte die Krähe, wackelte mit dem Kopf und flog davon.

Erst als es spät Abend war, kehrte die Krähe zurück. ``Rar! rar!'' sagte sie. ``Ich soll Dich vielmal von ihr grüßen, und hier ist ein kleines Brot für Dich, das nahm sie aus der Küche, da ist Brot genug und Du bist sicher hungrig! --- Es ist nicht möglich, daß Du in das Schloß hineinkommst. Du hast ja bloße Füße. Die Wachen in Silber und die Diener in Gold würden es nicht erlauben. Aber weine nicht, Du sollst schon hinaufkommen. Meine Geliebte kennt eine kleine Hintertreppe, die zum Schlafgemach führt, und sie weiß, wo sie den Schlüssel erhalten kann.''

Sie gingen in den Garten hinein, in die große Allee, wo das eine Blatt nach dem andern abfiel, und als auf dem Schlosse die Lichter ausgelöscht wurden, das eine nach dem andern, führte die Krähe das kleine Gretchen zu einer Hinterthür, die angelehnt stand.

O, wie Gretchens Herz vor Angst und Sehnsucht pochte! Es war ihr, als ob sie etwas Böses thun wollte, und sie wollte ja doch nur wissen, ob der kleine Karl da sei. Ja, er mußte hier sein; sie gedachte ganz deutlich seiner klaren Augen, seines langen Haares; sie konnte ihn lächeln sehen, wie damals, als sie daheim unter den Rosen saßen. Er würde sicher froh sein, sie zu erblicken, zu hören, welchen langen Weg sie um seinetwillen zurückgelegt, zu wissen, wie betrübt sie alle daheim gewesen, als er nicht wiedergekommen. O, das war eine Furcht und eine Freude!

Nun waren sie auf der Treppe. Da brannte eine kleine Lampe auf einem Schranke, und mitten auf dem Fußboden stand die zahme Krähe und wendete den Kopf nach allen Seiten und betrachtete Gretchen, die sich verneigte, wie die Großmutter sie gelehrt hatte.

``Mein Verlobter hat mir sehr viel Gutes von Ihnen gesagt, mein kleines Fräulein,'' sagte die zahme Krähe, ``Ihr Lebenslauf ist auch sehr rührend! --- Wollen Sie die Lampe nehmen, dann werde ich vorangehen. Wir gehen hier den geraden Weg, denn da begegnen wir niemand!''

``Es ist mir, als käme gerade jemand hinter uns!'' sagte Gretchen, und es sauste an ihr vorbei; es war wie Schatten an der Wand entlang, Pferde mit fliegenden Mähnen und dünnen Beinen, Jägerburschen, Herren und Damen zu Pferde.

``Das sind nur Träume!'' sagte die Krähe, ``die kommen und holen der hohen Herrschaft Gedanken zur Jagd ab. Das ist recht gut, dann können Sie sie besser im Bette betrachten. Aber ich hoffe, wenn Sie zu Ehren und Würden gelangen, daß Sie dann ein dankbares Herz zeigen werden.''

``Darüber bedarf es keiner Worte!'' sagte die Krähe vom Wald.

Nun kamen sie in den ersten Saal, der war von rosenrotem Atlas mit künstlichen Blumen an den Wänden hinauf. Hier sausten die Träume schon an ihnen vorüber, aber sie fuhren so schnell, daß Gretchen nicht die hohen Herrschaften zu sehen bekam. Ein Saal war immer prächtiger als der andere, ja man konnte wohl betäubt werden, und nun waren sie im Schlafgemach. Die Decke hier glich einer großen Palme mit Blättern von Glas, kostbarem Glas, und mitten auf dem Fußboden hingen an einem dicken Stengel von Gold zwei Betten, von denen jedes wie eine Lilie aussah. Das eine Bett war weiß, in diesem lag die Prinzessin; das andere war rot und in diesem sollte Gretchen den kleinen Karl suchen. Sie bog eines der roten Blätter zur Seite, und da sah sie einen braunen Nacken. --- O, das war Karl! --- Sie rief ganz laut seinen Namen, hielt die Lampe gegen ihn hin --- die Träume sausten zu Pferde wieder in die Stube herein --- er erwachte, wendete das Haupt und --- es war nicht der kleine Karl.

Der Prinz glich ihm nur im Nacken, aber jung und hüsch war er. Und aus dem weißen Lilienblatt blinzelte die Prinzessin hervor, und fragte, was das sei. Da weinte das kleine Gretchen und erzählte ihre ganze Geschichte und alles, was die Krähen für sie gethan hatten.

``Du armes Kind!'' sagten der Prinz und die Prinzessin, belobten die Krähen und sagten, daß sie gar nicht böse auf sie seien, aber sie sollten es doch nicht wieder thun. Übrigens sollten sie eine Belohnung erhalten.

``Wollt Ihr frei fliegen?'' fragte die Prinzessin. ``Oder wollt Ihr feste Anstellung als Hofkrähen haben mit allem, was da in der Küche abfällt?''

Beide Krähen verneigten sich und baten um feste Anstellung, denn sie gedachten des Alters und sagten, es sei schön, etwas für das Alter zu haben.

Der Prinz stand aus seinem Bette auf und ließ Gretchen darin schlafen, mehr konnte er wirklich nicht thun. Sie faltete ihre kleinen Hände und dachte: ``Wie gut sind die Menschen und Tiere!'' und dann schloß sie ihre Augen und schlief sanft. Alle Träume kamen wieder hereingeflogen und da sahen sie wie Gottes Engel aus, und sie zogen einen kleinen Schlitten, auf welchem Karl saß und nickte. Aber das Ganze war nur Traum, und deshalb war es auch wieder fort, als sie erwachte.

Am nächsten Tage wurde sie vom Kopf bis zu Fuß in Seide und Samt gekleidet; es wurde ihr angeboten, auf dem Schloß zu bleiben und gute Tage zu genießen, aber sie bat nur um einen kleinen Wagen mit einem Pferd davor, und um ein Paar Schuhe, dann wollte sie wieder in die weite Welt hinausfahren und Karl suchen.

Sie erhielt sowohl Schuhe und Muff, sie wurde niedlich gekleidet, und als sie fort wollte, hielt vor der Thür eine neue Kutsche von reinem Gold; des Prinzen und der Prinzessin Wappen glänzte an derselben wie ein Stern. Kutscher, Diener und Vorreiter, denn da waren auch Vorreiter, saßen mit Goldkronen auf dem Kopfe. Der Prinz und die Prinzessin halfen ihr selbst in den Wagen und wünschten ihr alles Glück. Die Waldkrähe, welche nun verheiratet war, begleitete sie die ersten drei Meilen; sie saß ihr zur Seite, denn sie konnte nicht ertragen, rückwärts zu fahren. Die andere Krähe stand in der Thür und schlug mit den Flügeln, sie kam nicht mit, denn sie litt an Kopfschmerzen, seitdem sie feste Anstellung und zu viel zu essen erhalten hatte. Inwendig war die Kutsche mit Zuckerbrezeln gefüttert, und im Sitze waren Früchte und Pfeffernüsse.

``Lebe wohl! Lebe wohl!'' riefen der Prinz und die Prinzessin, das kleine Gretchen weinte und die Krähe weinte auch. --- So ging es die ersten Meilen, da sagte auch die Krähe Lebewohl, und das war der schwerste Abschied. Sie flog in einen Baum hinauf und schlug mit ihren schwarzen Flügeln, so lange sie den Wagen, welcher wie der klare Sonnenschein glänzte, erblicken konnte.

\AMsubsection{Fünfte Geschichte}

\AMcentering{Das kleine Räubermädchen}

Sie fuhren durch den dunkeln Wald, aber die Kutsche leuchtete gleich einer Fackel. Das stach den Räubern in die Augen, das konnten sie nicht ertragen.

``Das ist Gold! das ist Gold!'' riefen sie, stürzten hervor, ergriffen die Pferde, schlugen die kleinen Vorreiter, den Kutscher und die Diener tot, und zogen nun das kleine Gretchen aus dem Wagen.

``Sie ist fett, sie ist niedlich, sie ist mit Nußkernen gefüttert!'' sagte das alte Räuberweib, die einen struppigen Bart und Augenbrauen hatte, die ihr über die Augen herabhingen.

``Das ist so gut wie ein kleines, fettes Lamm! Na, wie soll die schmecken!'' und dann zog sie ihr blankes Messer heraus und das glänzte, daß es greulich war.

``Au!'' sagte das Weib zu gleicher Zeit, denn sie wurde von ihrer eigenen Tochter, die auf ihrem Rücken hing, so wild und unartig, daß es eine Lust war, in das Ohr gebissen. ``Du häßlicher Balg!'' sagte die Mutter, und kam nicht dazu, Gretchen zu schlachten.

``Sie soll mit mir spielen!'' sagte das kleine Räubermädchen.

``Sie soll mir ihren Muff, ihr hübsches Kleid geben, bei mir in meinem Bett schlafen!'' und dabei biß sie wieder, daß das Räuberweib in die Höhe sprang und sich rings herumdrehte, und alle Räuber lachten und sagten: ``Sieh, wie sie mit ihrem Jungen tanzt!''

``Ich will in den Wagen hinein!'' und sie mußte und wollte ihren Willen haben, denn sie war verzogen und hartnäckig. Sie und Gretchen saßen darinnen und so fuhren sie über Stock und Stein tiefer in den Wald hinein. Das kleine Räubermädchen war so groß wie Gretchen, aber stärker, breitschultriger und von dunkler Haut. Die Augen waren ganz schwarz, sie sahen fast traurig aus. Sie nahm das kleine Gretchen um den Leib und sagte: ``Sie sollen Dich nicht schlachten, so lange ich Dir nicht böse werde! Du bist wohl eine Prinzessin?''

``Nein!'' sagte Gretchen, und erzählte ihr alles, was sie erlebt hatte, und wieviel sie vom kleinen Karl hielt.

Das Räubermädchen betrachtete sie ganz ernsthaft, nickte ein wenig mit dem Kopfe und sagte: ``Sie sollen Dich nicht schlachten, selbst wenn ich Dir böse werde, dann werde ich es schon selbst thun!'' und dann trocknete sie Gretchens Augen und steckte ihre beiden Hände in den schönen Muff, der weich und warm war.

Nun hielt die Kutsche still; sie waren mitten auf dem Hofe eines Räuberschlosses, das von oben bis unten auseinander geborsten war. Raben und Krähen flogen aus den offenen Löchern, und die großen Bullenbeißer, von denen ein jeder aussah, als könne er einen Menschen verschlingen, sprangen hoch empor, aber sie bellten nicht, denn das war verboten.

In dem großen, alten, verräucherten Saale brannte mitten auf dem steinernen Fußboden ein großes Feuer; der Rauch zog unter der Decke hin und mußte sich selbst den Ausweg suchen; ein großer Braukessel mit Suppe kochte, und sowohl Hasen als Kaninchen wurden an Spießen gebraten.

``Du sollst diese Nacht mit mir bei allen meinen kleinen Tieren schlafen!'' sagte das Räubermädchen. Sie bekamen zu essen und zu trinken und gingen dann nach einer Ecke, wo Stroh und Teppiche lagen. Oben darüber saßen auf Latten und Stäben mehr als hundert Tauben, die alle zu schlafen schienen, sich aber doch ein wenig drehten, als die beiden kleinen Mädchen kamen.

``Die gehören mir alle!'' sagte das kleine Räubermädchen, und ergriff eine der nächsten, hielt sie bei den Füßen und schüttelte sie, daß sie mit den Flügeln schlug. ``Küsse sie!'' rief sie, und schlug sie ihr ins Gesicht. ``Da sitzen die Waldtauben!'' fuhr sie fort, und zeigte hinter eine Anzahl Stäbe, die vor einem Loche oben in die Mauer eingeschlagen waren. ``Das sind Waldtauben, die beiden, die fliegen gleich fort, wenn man sie nicht ordentlich eingeschlossen hält; und hier steht mein alter, liebster Bä!'' und damit zog sie ein Renntier am Horn, welches einen kupfernen Ring um den Hals trug und gebunden war. ``Den müssen wir auch in der Klemme halten, sonst springt er von uns fort. An jedem Abend kitzele ich ihn mit meinem scharfen Messer, davor fürchtet er sich!'' Und das kleine Mädchen zog ein langes Messer aus einer Spalte in der Mauer und ließ es über des Renntiers Hals hingleiten. Das arme Tier schlug mit den Beinen aus, aber das kleine Räubermädchen lachte und zog dann Gretchen mit in das Bett hinein.

``Willst Du das Messer behalten, wenn Du schläfst?'' fragte Gretchen und blickte etwas furchtsam nach demselben.

``Ich schlafe immer mit dem Messer!'' sagte das kleine Räubermädchen. ``Man weiß nie, was vorfallen kann. Aber erzähle mir nun wieder, was Du mir vorhin von dem kleinen Karl erzähltest, und weshalb Du in die weite Welt hinausgegangen bist.'' Gretchen erzählte wieder von vorn an, und die Waldtauben knurrten oben im Käfig und die andern Tauben schliefen. Das kleine Räubermädchen legte ihren Arm um Gretchens Hals, hielt das Messer in der andern Hand und schlief, daß man es hören konnte, aber Gretchen konnte ihre Augen nicht schließen, sie wußte nicht, ob sie leben oder sterben würde. Die Räuber saßen rings um das Feuer, sangen und tranken, und das Räuberweib schoß Purzelbäume. O, es war ganz greulich für das kleine Mädchen mit anzusehen.

Da sagten die Waldtauben: ``Kurre, kurre! wir haben den kleinen Karl gesehen. Ein weißes Huhn trug seinen Schlitten, er saß im Wagen der Schneekönigin, welche dicht über den Wald hinfuhr, als wir im Neste lagen; sie blies auf uns Junge, und außer uns beiden starben alle; kurre! kurre!''

``Was sagt Ihr dort oben?'' rief Gretchen. ``Wohin reiste die Schneekönigin? Wißt Ihr etwas davon?''

``Sie reiste wahrscheinlich nach Lappland, denn dort ist immer Schnee und Eis! Frage das Renntier, welches am Strick angebunden steht.''

``Dort ist Eis und Schnee, dort ist es herrlich und gut!'' sagte das Renntier; ``dort springt man frei umher in den großen glänzenden Thälern; dort hat die Schneekönigin ihr Sommerzelt, aber ihr festes Schloß hat sie droben gegen den Nordpol, auf der Insel, die Spitzbergen genannt wird!''

``O Karl, kleiner Karl!'' seufzte Gretchen.

``Nun mußt Du still liegen,'' sagte das Räubermädchen, ``sonst stoße ich Dir das Messer in den Leib!''

Am andern Morgen erzählte Gretchen ihr alles, was die Waldtauben gesagt hatten, und das Räubermädchen sah ganz ernsthaft aus, nickte aber mit dem Kopf und sagte: ``Das ist einerlei, das ist einerlei! --- Weißt Du, wo Lappland ist?'' fragte sie das Renntier.

``Wer könnte es wohl besser wissen, als ich!'' sagte das Tier, und die Augen funkelten ihm im Kopfe. ``Dort bin ich geboren und erzogen, dort bin ich auf den Schneefeldern herumgesprungen.''

``Höre!'' sagte das Räubermädchen zu Gretchen, ``Du siehst, alle unsere Mannsleute sind fort, jedoch die Mutter ist noch hier und sie bleibt zu Hause. Gegen Mittag aber trinkt sie aus der großen Flasche und schlummert dann ein wenig darauf; --- dann werde ich etwas für Dich thun!'' Nun sprang sie aus dem Bett, fuhr der Mutter um den Hals, zog sie am Knebelbart und sagte: ``Mein einzig lieber Ziegenbock, guten Morgen!'' Die Mutter gab ihr Nasenstüber, daß die Nase rot und blau wurde, aber alles aus lauter Liebe.

Als die Mutter dann aus der Flasche getrunken hatte und darauf einschlief, ging das Räubermädchen zum Renntier hin und sagte: ``Ich könnte große Freude davon haben, Dich noch manchesmal mit dem scharfen Messer zu kitzeln, denn dann bist Du so possierlich; aber das ist einerlei, ich will Deine Schnur lösen und Dir hinaushelfen, damit Du nach Lappland laufen kannst. Du mußt aber tüchtig springen und dieses kleine Mädchen zum Schloß der Schneekönigin bringen, wo ihr Spielkamerad ist. Du hast wohl gehört, was sie erzählte, denn sie sprach laut genug und Du lauschtest.''

Das Renntier sprang vor Freude hoch empor. Das Räubermädchen hob das kleine Gretchen hinauf und hatte die Vorsicht, sie fest zu binden, ja sogar ihr ein kleines Kissen zum Sitzen zu geben. ``Das ist einerlei,'' sagte sie, ``da hast Du Deine Pelzschuhe, denn es wird kalt, aber den Muff behalte ich, der ist gar zu niedlich! Darum sollst Du doch nicht frieren. Hier hast Du meiner Mutter große Fausthandschuhe, die reichen Dir gerade bis zum Ellenbogen hinauf; ziehe sie an! --- Nun siehst Du an den Händen gerade wie meine häßliche Mutter aus!''

Gretchen weinte vor Freude.

``Ich kann nicht leiden, daß Du weinst!'' sagte das kleine Räubermädchen. ``Nun mußt Du gerade recht froh aussehen; und da hast Du zwei Brote und einen Schinken, dann wirst Du nicht hungern.'' Beides wurde hinten auf das Renntier gebunden; das kleine Räubermädchen öffnete die Thür, lockte alle großen Hunde herein, durchschnitt dann den Strick mit ihrem scharfen Messer und sagte zum Renntier: ``Laufe, aber gieb recht auf das kleine Mädchen acht!''

Gretchen streckte die beiden Hände mit den großen Fausthandschuhen gegen das Räubermädchen aus und sagte Lebewohl, und dann flog das Renntier über Stock und Stein davon, durch den großen Wald, über Sümpfe und Steppen, soviel es nur konnte. Die Wölfe heulten und die Raben schrieen. Es war gerade, als sprühte der Himmel Feuer.

``Das sind meine alten Nordlichter!'' sagte das Renntier, ``sieh, wie sie leuchten!'' Und dann lief es noch schneller davon; Nacht und Tag. Die Brote wurden verzehrt, der Schinken auch, und dann waren sie in Lappland.

\AMsubsection{Sechste Geschichte}

\AMcentering{Die Lappin und die Finnin}

Vor einem kleinen Hause hielten sie an, es war sehr ärmlich; das Dach ging bis zur Erde hinunter, und die Thür war so niedrig, daß die Familie auf dem Bauch kriechen mußte, wenn sie heraus oder hinein kommen wollte. Hier war außer einer alten Lappin, welche bei einer Thranlampe Fische kochte, niemand zu Hause. Das Renntier erzählte Gretchens ganze Geschichte, aber zuerst seine eigene, denn diese erschien ihm weit wichtiger, und Gretchen war von der Kälte so mitgenommen, daß sie nicht sprechen konnte.

``Ach, Ihr Armen,'' sagte die Lappin, ``da habt Ihr noch weit zu laufen! Ihr müßt über hundert Meilen weit nach Finnmarken hinein, denn dort wohnt die Schneekönigin auf dem Lande und brennt jeden Abend bengalische Flammen. Ich werde ein paar Worte auf einen trockenen Klippfisch schreiben, Papier habe ich nicht, den werde ich Euch für die Finnin dort oben mitgeben; die kann Euch besser Bescheid erteilen als ich.''

Und als Gretchen nun erwärmt worden war und zu essen und zu trinken erhalten hatte, schrieb die Lappin ein paar Worte auf einen trockenen Klippfisch, bat Gretchen, wohl darauf zu achten, band sie wieder auf das Renntier fest, und dieses sprang davon. Die ganze Nacht brannten die schönsten, blauen Nordlichter; --- und dann kamen sie nach Finnland und klopften an den Schornstein der Finnin, denn sie hatte nicht einmal eine Thür.

Da war eine Hitze drinnen, sodaß die Finnin selbst fast ganz nackt ging; sie war klein und dabei ganz schmutzig. Sie löste gleich die Kleider des kleinen Gretchen auf, zog ihr die Fausthandschuhe und Stiefel aus, denn sonst wäre es ihr zu heiß geworden, legte dem Renntier ein Stück Eis auf den Kopf und las dann, was auf dem Klippfisch geschrieben stand. Sie las es dreimal, und dann wußte sie es auswendig und steckte den Fisch in den Suppenkessel, denn der konnte ja gut gegessen werden, und sie verschwendete nie etwas.

Nun erzählte das Renntier zuerst seine Geschichte, dann die des kleinen Gretchen, und die Finnin blinzelte mit den klugen Augen, sagte aber gar nichts.

``Du bist klug!'' sagte das Renntier. ``Ich weiß, Du kannst alle Winde der Welt in einen Zwirnsfaden zusammenbinden wenn der Schiffer den einen Knoten löst, so erhält er guten Wind, löst er den andern, dann weht es scharf, und löst er den dritten und vierten, dann stürmt es, daß die Wälder umfallen. Willst Du nicht dem kleinen Mädchen einen Trank geben, daß sie Zwölf-Männer-Kraft erhält und die Schneekönigin überwindet?''

``Zwölf-Männer-Kraft,'' sagte die Finnin, ``ja, das würde viel helfen!'' Und dann ging sie nach einem Brette, nahm ein großes zusammengerolltes Fell hervor und rollte es auf. Da waren wunderbare Buchstaben darauf geschrieben und die Finnin las, daß ihr das Wasser von der Stirn herunterlief.

Aber das Renntier bat so sehr für das kleine Gretchen und Gretchen blickte die Finnin mit so bittenden Augen voller Thränen an, daß diese wieder mit den ihrigen zu blinzeln anfing und das Renntier in einen Winkel zog, wo sie ihm zuflüsterte, während es wieder frisches Eis auf den Kopf bekam:

``Der kleine Karl ist noch bei der Schneekönigin und findet dort alles nach seinem Geschmack und Gefallen, und glaubt, es sei der beste Ort in der Welt. Das kommt aber davon, weil er einen Glassplitter in das Herz und ein kleines Glaskörnchen in das Auge bekommen hat; die müssen zuerst heraus, sonst wird er nie ein Mensch, und die Schneekönigin wird die Gewalt über ihn behalten!''

``Aber kannst Du nicht dem kleinen Gretchen etwas eingeben, sodaß sie Gewalt über das Ganze erhält?''

``Ich kann ihr keine größere Gewalt geben, als sie schon besitzt! Siehst Du nicht, wie groß diese ist? Siehst Du nicht, wie Menschen und Tiere ihr dienen müssen, wie sie auf bloßen Füßen so gut in der Welt fortgekommen ist? Sie kann ihre Macht nicht von uns erhalten, diese sitzt in ihrem Herzen und besteht darin, daß sie ein liebes, unschuldiges Kind ist. Kann sie nicht selbst zur Schneekönigin hineingelangen und das Glas aus dem kleinen Karl bringen, dann können wir nicht helfen! Zwei Meilen von hier beginnt der Garten der Schneekönigin, dahin kannst Du das kleine Mädchen tragen; setze sie beim großen Busche ab, welcher mit roten Beeren im Schnee steht, verliere aber nicht viele Worte und spute Dich, hierher zurückzukommen.'' Damit hob die Finnin das kleine Gretchen auf das Renntier, welches lief, was es konnte.

``O, ich bekam meine Schuhe nicht! Ich bekam meine Fausthandschuhe nicht!'' rief das kleine Gretchen in der schneidenden Kälte, aber das Renntier wagte nicht anzuhalten, es lief, bis es zu dem Busche mit den roten Beeren gelangte. Da setzte es Gretchen ab, küßte sie auf den Mund und es liefen einige große Thränen über des Tieres Backen, und dann lief es, was es nur konnte, wieder zurück. Da stand das arme Gretchen ohne Schuhe, ohne Handschuh, mitten in dem fürchterlich eiskalten Finnmarken.

Sie lief vorwärts, so schnell sie konnte; da kam ein ganzes Heer Schneeflocken, aber sie fielen nicht vom Himmel herunter; der war ganz klar und glänzte von Nordlichtern. Die Schneeflocken liefen gerade auf der Erde hin, und je näher sie kamen, desto größer wurden sie. Gretchen erinnerte sich noch, wie groß und künstlich sie damals ausgesehen hatten, als sie die Schneeflocken durch ein Brennglas betrachtet hatte, aber hier waren sie wahrlich noch viel größer und fürchterlicher, sie waren lebend, sie waren der Schneekönigin Vorposten. Sie hatten die sonderbarsten Gestalten; einige sahen aus wie häßliche, große Stachelschweine, andere wie ganze Knoten, gebildet von Schlangen, welche die Köpfe hervorstreckten, und andere wie kleine, dicke Bären, auf welchen die Haare sich sträubten, alle glänzten weiß, alle waren lebendige Schneeflocken.

Da betete das kleine Gretchen ihr Vaterunser, und die Kälte war so groß, daß sie ihren eigenen Atem sehen konnte, der stand ihr ganz wie Rauch aus dem Munde; der Atem wurde immer dichter und dichter und gestaltete sich zu kleinen, klaren Engeln, die mehr und mehr wuchsen, wenn sie die Erde berührten, und alle Helme auf dem Kopf und Spieß und Schild in den Händen hatten. Ihre Anzahl wurde größer und größer, und als Gretchen ihr Vaterunser geendet hatte, da war ein ganzes Heer um sie; sie stachen mit ihren Spießen gegen die greulichen Schneeflocken, sodaß diese in hundert Stücke zersprangen, und das kleine Gretchen ging ganz sicher und froh vorwärts. Die Engel liebkosten ihre Hände und Füße, da fühlte sie weniger, wie kalt es war, und ging rasch gegen der Schneekönigin Schloß vor.

Aber nun wollen wir erst sehen, wie es Karl geht. Er dachte freilich nicht an das kleine Gretchen, und am wenigsten, daß sie draußen vor dem Schloß stand.

\AMsubsection{Siebente Geschichte}

\AMcentering{Von dem Schlosse der Schneekönigin und was sich später darin zutrug}

Des Schlosses Wände waren gebildet von dem treibenden Schnee und Fenster und Thüren von den schneidenden Winden, da waren über hundert Säle, alle wie der Schnee sie zusammentrieb, der größte erstreckte sich mehrere Meilen lang, alle beleuchtet von dem starken Nordlicht, und sie waren leer, eisig, kalt und glänzend. Nie gab es hier Lustbarkeit, nicht einmal einen kleinen Bärenball, wozu der Sturm aufspielen und die Eisbären auf den Hinterfüßen gehen und dabei ihre Geberden hätten zeigen können; nie eine kleine Spielgesellschaft mit Maulklapp und Tatzenschlag; nie ein klein bißchen Kaffeeklatsch von den weißen Fuchsfräuleins; leer, groß und kalt war es in den Sälen der Schneekönigin. Die Nordlichter flammten so genau, daß man sie zählen konnte, wenn sie am höchsten und wenn sie am niedrigsten standen. Mitten in diesem leeren unendlichen Schneesaale war ein zugefrorener See, der war in tausend Stücke gesprungen, aber jedes Stück war dem andern so gleich, daß es ein wahres Kunstwerk war. Mitten auf diesem saß die Schneekönigin, wenn sie zu Hause war, und dann sagte sie, daß sie im Spiegel des Verstandes sitze, und daß dieser der einzige und der beste in der Welt sei.

Der kleine Karl war ganz blau vor Kälte, ja fast schwarz, aber er merkte es nicht, denn sie hatte ihm den Frostschauer abgeküßt, und sein Herz glich einem Eisklumpen. Er ging und schleppte einige scharfe, flache Eisstücke, die er auf alle mögliche Weise an einander paßte, gleich wie wenn wir kleine Holztafeln haben und diese in Figuren zusammenlegen, was man das chinesische Spiel nennt. Karl ging auch und legte Figuren, die allerkünstlichsten; das war das Eisspiel des Verstandes. In seinen Augen waren die Figuren ganz ausgezeichnet und von der höchsten Wichtigkeit; das machte das Glaskörnchen, welches ihm im Auge saß! Er legte ganze Figuren, die ein geschriebenes Wort waren, aber nie konnte er es herausbringen, das Wort zu legen, was er gerade haben wollte, das Wort ``Ewigkeit'', und die Schneekönigin hatte gesagt: ``Kannst Du die Figur ausfindig machen, dann sollst Du Dein eigener Herr sein und ich schenke Dir die ganze Welt und ein Paar neue Schlittschuhe.'' Aber er konnte es nicht.

``Nun sause ich fort nach den warmen Ländern!'' sagte die Schneekönigin. ``Ich will hinfahren und in die schwarzen Töpfe hineinsehen!'' --- Das waren die feuerspeienden Berge Ätna und Vesuv, wie man sie nennt. ``Ich werde sie ein wenig weiß machen, das gehört dazu, das thut den Citronen und Weintrauben gut!'' Damit flog die Schneekönigin davon, und Karl saß ganz allein in dem viele Meilen weiten, großen, leeren Eissaal, betrachtete die Eisstücke und dachte und dachte, sodaß es in ihm knackte, ganz stille und steif saß er, man hätte glauben können, er sei erfroren.

Da war es, daß das kleine Gretchen durch das Thor in das Schloß trat. Hier herrschten schneidende Winde; aber sie betete ein Abendgebet, und da legten sich die Winde, als ob sie schlafen wollten, und sie trat in die großen, leeren, kalten Säle hinein --- da erblickte sie Karl, sie erkannte ihn, sie flog ihm um den Hals, hielt ihn dann fest und rief: ``Karl! lieber kleiner Karl! da habe ich Dich endlich gefunden!''

Aber er saß ganz still, steif und kalt; da weinte das kleine Gretchen heiße Thränen, die fielen auf seine Brust, sie drangen in sein Herz, sie thauten den Eisklumpen auf und verzehrten das kleine Spiegelstück darin; er betrachtete sie, und sie sang:

\AMquote{
        ``Rosen, die blühen und verwehen, \\
        Wir werden das Christkindlein sehen!''
}

Da brach Karl in Thränen aus; er weinte, daß das Spiegelkörnchen aus dem Auge schwamm, er erkannte sie und jubelte: ``Gretchen! liebes, kleines Gretchen! --- Wo bist Du doch so lange gewesen? Und wo bin ich gewesen?'' Und er blickte rings um sich her. ``Wie kalt ist es hier! wie es hier weit und leer ist!'' Und er klammerte sich an Gretchen an, und sie lachte und weinte vor Freude. Das war so herrlich, daß selbst die Eisstücke vor Freude ringsumher tanzten, und als sie müde waren und sich niederlegten, lagen sie gerade in den Buchstaben, von denen die Schneekönigin gesagt hatte, daß er sie ausfindig machen sollte, dann sei er sein eigener Herr und sie wollte ihm die ganze Welt und ein Paar neue Schlittschuhe geben.

Gretchen küßte seine Wangen, und sie wurden blühend; sie küßte seine Augen, und sie leuchteten gleich den ihren; sie küßte seine Hände und Füße, und er war gesund und munter. Die Schneekönigin mochte nun nach Hause kommen, sein Freibrief stand da mit glänzenden Eisstücken geschrieben.

Sie faßten einander an den Händen und wanderten aus dem großen Schloß hinaus; sie sprachen von der Großmutter und von den Rosen auf dem Dache; und wo sie gingen, ruhten die Winde und die Sonne brach hervor. Als sie den Busch mit den roten Beeren erreichten, stand das Renntier da und wartete; es hatte ein anderes junges Renntier mit sich, dessen Euter voll war, und dieses gab den Kleinen seine warme Milch und küßte sie auf den Mund. Dann trugen sie Karl und Gretchen erst zur Finnin, wo sie sich in der heißen Stube auswärmten und über die Heimreise Bescheid erhielten, dann zur Lappin, welche ihnen neue Kleider genäht und ihren Schlitten in Stand gesetzt hatte.

Das Renntier und das Junge sprangen zur Seite und folgten mit, bis zur Grenze des Landes; dort sproßte das erste Grün hervor, da nahmen sie Abschied vom Renntier und von der Lappin. ``Lebt wohl!'' sagten alle. Und die ersten kleinen Vögel begannen zu zwitschern, der Wald hatte grüne Knospen, und aus ihm kam auf einem prächtigen Pferde, welches Gretchen kannte (es war vor die goldene Kutsche gespannt gewesen), ein junges Mädchen geritten, mit einer glänzenden, roten Mütze auf dem Kopfe und Pistolen im Halfter. Das war das kleine Räubermädchen, welches es satt hatte, zu Hause zu sein, und nun erst gegen Norden und später, wenn ihr dies zusagte, nach einer anderen Weltgegend hin wollte. Sie erkannte Gretchen sogleich, und Gretchen erkannte sie, das war eine Freude.

``Du bist ein wahrer Künstler im Herumstreifen!'' sagte sie zum kleinen Karl. ``Ich möchte wissen, ob Du verdienst, daß man Deinethalben bis an der Welt Ende läuft!''

Aber Gretchen klopfte ihr die Wangen, und fragte nach dem Prinzen und der Prinzessin.

``Die sind nach fremden Ländern gereist!'' sagte das Räubermädchen.

``Aber die Krähe?'' fragte Gretchen.

``Ja, die Krähe ist tot!'' erwiderte sie. ``Die zahme Geliebte ist Witwe geworden und geht mit einem Stückchen schwarzen, wollenen Garn um das Bein; sie klagt ganz jämmerlich, und Geschwätz ist das Ganze! --- Aber erzähle mir nun, wie es Dir ergangen ist und wie Du ihn erwischt hast.''

Gretchen und Karl erzählten.

Das Räubermädchen nahm beide bei den Händen und versprach, daß, wenn sie je durch ihre Stadt kommen sollte, so wolle sie hinaufkommen, sie zu besuchen, und dann ritt sie in die weite Welt hinaus. Aber Karl und Gretchen gingen Hand in Hand, und wie sie gingen, war es herrlicher Frühling mit Blumen und mit Grün; die Kirchenglocken läuteten, und sie erkannten die hohen Türme, die große Stadt, es war die, in der sie wohnten, und sie gingen in dieselbe hinein und hin zu der Thür der Großmutter, die Treppe hinauf, in die Stube hinein, wo alles wie früher auf derselben Stelle stand. Die Uhr sagte: ``Tick! tack!'' und die Zeiger drehten sich; aber indem sie durch die Thür gingen, bemerkten sie, daß sie erwachsene Menschen geworden waren. Die Rosen aus der Dachrinne blühten zum offenen Fenster herein, und da standen noch die kleinen Kinderstühle. Karl und Gretchen setzten sich ein jeder auf den seinigen und hielten einander bei den Händen; die kalte, leere Herrlichkeit bei der Schneekönigin hatten sie gleich einem schweren Traum vergessen. Die Großmutter saß in Gottes hellem Sonnenschein und las laut aus der Bibel: ``Werdet Ihr nicht wie die Kinder, so werdet Ihr das Reich Gottes nicht erben!''

Karl und Gretchen sahen einander in die Augen, und sie verstanden auf einmal den alten Gesang:

\AMquote{
        ``Rosen, die blühen und verwehen, \\
        Wir werden das Christkindlein sehen.''
}

Da saßen sie beide, erwachsen und doch Kinder, Kinder im Herzen; und es war Sommer, warmer, wohlthuender Sommer.

Moorkönigs Tochter

[edit]
Extended content
\AMsection{Moorkönigs Tochter}

Die Störche erzählen ihren Jungen gar viele Märchen, und alle handeln von Sumpf und Moor; gewöhnlich sind sie dem Alter und Fassungsvermögen angepaßt. Die kleinsten sind schon entzückt, wenn man ``Kribble, krabble, plurremurre'' sagt, das finden sie sehr ergötzlich; aber die älteren wollen Geschichten mit tieferem Inhalt hören, am liebsten, wenn sie von der Familie handeln. Von den zwei ältesten und längsten Märchen, die sich bei den Störchen erhalten haben, kennen wir alle das eine, das von Moses, der von seiner Mutter in den Fluten des Nils ausgesetzt und von der Tochter des Königs gefunden wurde, eine gute Erziehung erhielt und ein großer Mann wurde, von dem man nicht einmal weiß, wo er begraben wurde. Aber das ist etwas ganz Alltägliches.

Das andere Märchen ist nicht so bekannt, vielleicht weil es mehr inländisch ist. Dies Märchen hat sich wohl tausend Jahre schon von Storchmutter zu Storchmutter übertragen, und jede hat es besser und besser erzählt, und wir erzählen es am allerbesten.

Das erste Storchpaar, das es erzählte und erlebt hatte, hatte seinen Sommersitz auf einem Wikingerblockhaus bei dem großen Wildmoor in Jütland. Noch immer ist dort ein ungeheuer großes Moor, wie man aus allen Landesbeschreibungen ersehen kann. Hier sei einst Meeresboden gewesen, der sich gehoben habe, steht darin. Es erstreckt sich meilenweit, und ist von allen Seiten von feuchten Wiesen und schwankendem Torfboden umgeben, auf dem nur unbrauchbare Beeren und kümmerliche Bäume gedeihen. Fast immer schwebt ein Nebel darüber, und vor siebzig Jahren fanden sich hier noch Wölfe. Es trägt seinen Namen ``Wildmoor'' wirklich zu recht, und man kann sich wohl vorstellen, wie verwildert, voller Sümpfe und Seen, es hier vor tausend Jahren gewesen sein mag! Im einzelnen sah man damals hier, was man noch jetzt sieht. Die Rohrstangen hatten die gleiche Höhe, die gleiche Art langer Blätter und violettbraun gefiederte Blütenbüschel, wie sie sie jetzt noch tragen. Die Birke stand mit weißer Rinde und lose im Winde schaukelnden Blättern wie jetzt, und was die Lebewesen betrifft, die hierher kamen, ja, die Fliege trug ihr Florwämslein im selben Schnitt wie noch heute, die Leibfarbe der Störche war weiß und schwarz mit roten Strümpfen, die Menschen dagegen hatten einen anderen Kleiderschnitt als heutigentags, doch ein jeder, Sklave oder Jäger, wer sich auch hinaus auf den sumpfunterwühlten Boden wagte, dem erging es vor tausend Jahren wie jetzt, sie kamen her, brachen ein und sanken hinab zum Moorkönig, wie er genannt wurde, der drunten in dem großen Moorreiche regiert. Sehr wenig wußte man von seiner Regierung, doch das ist vielleicht ganz gut so.

Dicht beim Moor, nahe am Limfjord, lag das Blockhaus mit steinuntermauertem Keller, einem Turm und drei Stockwerken. Oben auf dem Dache hatte der Storch sein Nest gebaut, die Storchmutter lag auf ihren Eiern und wiegte sich in Sicherheit, daß ihr Vorhaben glücken werde.

Eines Abends blieb Storchvater etwas lange aus, und als er dann heimkam, sah er ganz verstört und abgehetzt aus.

``Ich muß Dir etwas ganz Furchtbares erzählen!'' sagte er zur Storchmutter.

``Laß es lieber sein'' sagte sie ``denke daran, daß ich auf den Eiern liege, ich könnte durch den Schreck Schaden nehmen, und das wirkt auf die Eier.''

``Du mußt es wissen!'' sagte er. ``Sie ist hergekommen, die Tochter unseres Wirtes in Ägypten. Sie hat die Reise hier herauf gewagt, und weg ist sie.''

``Ist es die, die aus dem Geschlecht der Feen ist? Erzähle doch nur, Du weißt, daß ich es gar nicht vertragen kann, in der Brutzeit zu warten!''

``Siehst Du, Mutter, sie hat doch dem Doktor geglaubt, daß die Moorblume von hier oben ihrem kranken Vater helfen könne. Da ist sie in ihrem Federkleide hergeflogen, zusammen mit den beiden anderen Federkleidprinzessinnen, die jedes Jahr hierher nach dem Norden sollen, um sich durch Baden zu verjüngen. Sie ist gekommen und sie ist weg.''

``Du erzählst immer so weitläufig!'' sagte die Storchmutter, ``die Eier können sich unterdessen erkälten! Ich kann soviel Spannung nicht vertragen!''

``Ich habe genau aufgepaßt'' sagte der Storchvater, ``und heute abend, als ich ins Schilf ging, wo der Moorboden mich tragen kann, kamen drei Schwäne. Es war etwas im Flügelschlage, das mir sagte: Nimm Dich in acht, das sind keine richtigen Schwäne, das sind nur Schwanenhäute, Du weißt ja, Mutter, wie man so etwas im Gefühl haben kann, Du fühlst auch, was das Richtige ist.''

``Ja gewiß'' sagte sie, ``aber erzähle nun von der Prinzessin, ich habe es über, von Schwanenhäuten zu hören.''

``Hier, mitten im Moor, ist, wie Du weißt, eine Art See,'' sagte der Storchvater. ``Du kannst ein Stückchen davon sehen, wenn Du Dich aufrichtest;'' dort zwischen dem Schilf und dem grünen Moorboden lag ein großer Erlenstamm. Auf diesem ließen sich die drei Schwäne nieder und blickten sich um; die eine von ihnen warf ihre Schwanenhaut ab, und ich erkannte in ihr die Prinzessin unseres Hauses in Ägypten. Sie saß da und hatte keinen anderen Mantel um sich, als ihr langes, schwarzes Haar. Ich hörte, wie sie die beiden anderen bat, wohl auf ihre Schwanenhaut achtzugeben, wenn sie unter das Wasser tauchen würde, um die Blume zu pflücken, die sie zu sehen glaubte. Sie nickten und richteten sich empor; dabei hoben sie das lose Federkleid auf. Sieh nur, was wollen sie wohl damit tun? dachte ich, und sie fragte sicherlich ebenfalls danach. Die Antwort bekam sie durch den Anblick der Tat --- sie flogen mit ihrem Federkleide in die Höhe und riefen: ``Tauch nur unter. Niemals mehr sollst Du im Schwanenkleide fliegen, nie das Land Ägypten wiedersehen. Bleib Du im Wildmoore sitzen!'' Und dann rissen sie ihr Federkleid in hundert Fetzen, daß die Federn rings umher flogen, als seien es Schneeflocken, und fort flogen sie, die beiden bösen Prinzessinnen.

``Das ist schrecklich!'' sagte die Storchmutter, ``ich kann das gar nicht mit anhören! --- Sag mir schnell, was dann weiter geschah!''

``Die Prinzessin jammerte und weinte, Ihre Tränen rollten auf den Erlenstamm nieder. Da bewegte er sich, denn es war der Moorkönig selbst, der dort im Moore wohnt. Ich sah, wie der Stamm sich umdrehte, und da war er kein Stamm mehr; lange schlammbedeckte Zweige reckten sich empor wie Arme. Das arme Kind erschrak und sprang davon auf dem schwankenden Moorboden. Aber der kann an dieser Stelle mich nicht einmal tragen, geschweige denn sie. Sie versank sogleich, und der Erlenstamm tauchte auch unter, er war es, der sie hinabzog. Es stiegen noch ein paar große, schwarze Blasen auf, und dann war nichts mehr zu sehen. Nun liegt sie im Wildmoor begraben, niemals kommt sie mit der Blume nach Ägypten. Du hättest es nicht mit ansehen können, Mutter!''

``So etwas hättest Du mir in dieser Zeit überhaupt nicht erzählen dürfen! Das kann den Eiern schaden! --- Die Prinzessin wird sich schon zu helfen wissen! Sie findet schon jemanden, der ihr beisteht! Wärest Du es gewesen oder ich, einer von den unsrigen, so wäre es vorbei mit uns!''

``Ich will doch jeden Tag nach ihr sehen!'' sagte der Storchvater, und das tat er auch.

Nun verging eine lange Zeit darüber. Eines Tages jedoch sah er, daß tief aus dem Grunde des Moors ein grüner Stengel emporschoß. Und als er den Wasserspiegel erreicht hatte, trieb ein Blatt daraus hervor; breiter wurde es und immer breiter. Dicht neben ihm sproßte auch eine Knospe empor, und als der Storch eines Morgens über ihr dahinflog, öffnete sich die Blumenknospe in den heißen Sonnenstrahlen, und mitten darin lag ein wunderhübsches Kind, ein kleines Mädchen, frisch, als sei es gerade aus dem Bade genommen worden. Sie glich der Prinzessin aus Ägypten in solchem Maße, daß der Storch zuerst glaubte, sie sei es selbst, nur kleiner geworden. Doch als er darüber nachdachte, fand er es wahrscheinlicher, daß es ihr und des Moorkönigs Kind sei. Deshalb lag es wohl auch in einer Wasserrose.

``Da kann sie doch nicht liegen bleiben!'' dachte der Storch. ``In meinem Nest sind wir schon so viele, doch halt, da fällt mir etwas ein! Die Wikingerfrau hat keine Kinder, und sie hat sich schon oft so ein Kleines gewünscht. Ich werde ja immer beschuldigt, die kleinen Kinder zu bringen, nun will ich einmal ernst damit machen! Ich fliege mit dem Kind zur Wikingerfrau; das wird eine Freude werden!''

Der Storch nahm das kleine Mädchen, flog zum Blockhause, schlug mit dem Schnabel ein Loch in die Fensterscheibe aus Blasenhaut und legte das Kind an die Brust der Wikingerfrau. Dann flog er zur Storchmutter und erzählte ihr alles, und die Jungen durften zuhören, sie waren nun schon groß genug dazu.

``Siehst Du, die Prinzessin ist nicht tot! Sie hat das Kleine heraufgeschickt, und nun ist es untergebracht!''

``Das habe ich ja von vornherein gesagt!'' meinte die Storchmutter. ``Denk aber jetzt etwas an Deine eigenen Kinder. Jetzt kommt bald die Reisezeit; es kribbelt mir schon ab und zu unter den Flügeln. Der Kuckuck und die Nachtigall sind schon fort, und die Wachteln hörte ich eben davon sprechen, daß wir guten Wind bekommen werden. Unsere Jungen werden beim Manöver schon ihren Mann stehen, wie ich sie kenne!''

Nein, wie freute sich die Wikingerfrau, als sie am Morgen erwachte und das hübsche kleine Kind an ihrer Brust fand; sie küßte und streichelte es, doch es schrie ganz schrecklich und strampelte mit Armen und Beinen; gute Laune schien es nicht zu haben. Zuletzt weinte es sich in Schlaf, und wie es da lag, war es wirklich das Hübscheste, was man sehen konnte. Der Wikingerfrau war so leicht, so froh, so wohl zumute, sie nahm es als geheimes Zeichen, daß ihr Gemahl mit allen seinen Mannen ebenso unerwartet hereinschneien würde, wie die Kleine; da gab es denn bei ihr und im ganzen Hause ein emsiges Rühren, damit alles instand käme. Die langen farbigen Wandbehänge mit den hineingewirkten Bildern ihrer Götter Odin, Thor und Freia, die sie mit ihren Mägden selbst gewebt hatte, wurden aufgehängt, die Sklaven mußten die alten Schilder, die als Schmuck an den Wänden hingen, putzen, Polster wurden auf die Bänke gelegt, und auf der Feuerstätte mitten in der Halle wurde trockenes Holz aufgeschichtet, damit das Feuer sogleich entzündet werden könne. Die Wikingerfrau griff selbst tüchtig mit zu, so daß sie am Abend herzlich müde war und gut schlief.

Als sie gegen Morgen erwachte, erschrak sie zutiefst, denn das kleine Kind war spurlos verschwunden. Sie sprang auf, zündete einen Kiefernspan an und sah sich um, da lag am Fußende ihres Bettes nicht mehr das kleine Kind, sondern eine große, häßliche Kröte. Ihr wurde ganz übel zumute bei dem Anblick, und sie nahm einen großen Stock, um das Tier totzuschlagen. Doch es blickte sie mit so wunderlich betrübten Augen an, daß sie nicht zuschlagen konnte. Noch einmal sah sie sich nach allen Seiten um, der Frosch gab ein leises, so klägliches Quaken von sich, daß sie zusammenfuhr und ans Fenster sprang. Sie riß es auf und im gleichen Augenblick ging die Sonne auf; sie warf ihre Strahlen gerade auf das Bett und die große Kröte, und mit einem Male war es, als ob sich des Untiers breites Maul zusammenzöge und klein und rot würde, die Glieder streckten sich und wandelten sich zu der niedlichsten Gestalt, und da lag wieder ihr eigenes kleines hübsches Kind im Bette und kein häßlicher Frosch.

``Was ist das nur'' sagte sie. ``Habe ich einen bösen Traum geträumt! Das ist ja mein herziges kleines Elfenkind, das da vor mir liegt.'' Und sie küßte es und drückte es an ihr Herz, aber es kratzte und biß um sich wie eine kleine Wildkatze.

Nicht an diesem Tag, auch nicht am nächsten kam der Wikinger, obgleich er auf dem Heimwege war; denn er hatte den Wind gegen sich, der nach Süden blies wegen der Störche. Des einen Freude ist des andern Leid.

Nach ein paar Tagen und Nächten wurde es der Wikingerfrau klar, wie es mit ihrem kleinen Kinde stand. Ein scheußlicher Zauber ruhte auf ihm. Am Tage war es schön wie ein Lichtelf, hatte aber eine böse, wilde Natur, das Nachts dagegen war es eine häßliche Kröte, still und kläglich mit traurigen Augen. Hier waren zwei Naturen, die einander abwechselten, sowohl äußerlich wie innerlich; das kam daher, daß das kleine Mädchen, daß der Storch hierher gebracht hatte, am Tage das Äußere seiner Mutter, aber gleichzeitig die Sinnesart seines Vaters besaß, bei Nacht dagegen trat die körperliche Verwandtschaft mit ihm in der Gestalt zutage, während der Mutter Gemüt und Herz aus seinen Augen strahlte. Wer konnte diesen Zauber lösen? Die Wikingerfrau war in Angst und Betrübnis, und doch hing ihr Herz an diesem armen Geschöpfe, dessen Zustand sie ihrem Gemahl nicht zu offenbaren wagte, wenn er jetzt heimkehrte, dann würde er gewiß nach Schick und Brauch das arme Kind an der Fahrstraße aussetzen, damit es nähme, wer wollte. Das brachte die gute Wikingerfrau nicht übers Herz. Nur beim hellen Tageslichte sollte er das Kind zu sehen bekommen.

Eines Morgens sauste es von Storchschwingen über dem Dache. Da hatten über Nacht wohl hundert Storchpaare sich für das große Manöver ausgeruht, sie flogen jetzt auf, um nach Süden zu ziehen.

``Alle Mann fertig!'' hieß es, ``Frau und Kinder auch!''

``Uns ist so leicht!'' sagten die jungen Störche, ``es kribbelt und krabbelt uns in den Beinen, gerade als ob wir voll lebendiger Frösche steckten! Wie herrlich ist es, nach dem Ausland zu reisen!''

``Haltet Euch im Schwarm!'' sagten Vater und Mutter, ``und klappert nicht so viel mit dem Schnabel, das legt sich auf die Brust!''

Und sie flogen.

Zur gleichen Stunde erklangen die Luren über die Heide hin; der Wikinger mit all seinen Mannen war gelandet. Sie kehrten mit reicher Beute von der gallischen Küste heim, wo die Leute, wie in Britland, voll Schrecken sangen:

``Von den wilden Normannen befreie uns, Herr.''

Welch Leben und welche Lust begann nun im Wikingerhause beim Wildmoor! Die Metkannen wurden in die Halle gebracht, das Feuer wurde entzündet, und Pferde wurden geschlachtet. Hier sollte ordentlich aufgetafelt werden! Der Opferpriester sprengte das warme Pferdeblut zur Weihe über die Sklaven, das Feuer knisterte, und der Rauch zog unter der Decke hin, daß der Ruß von den Balken tropfte, aber das war man gewöhnt. Es waren Gäste geladen, und sie wurden wohl aufgenommen; vergessen waren Feindschaft und Ränke. Es wurde gezecht, und dann warf man einander die abgenagten Knochen ins Gesicht, das war ein Zeichen guter Laune. Der Skalde --- das war so eine Art Spielmann, der aber auch zu den Kriegern gehörte, die den Zug mitgemacht hatten, und die Taten mitangesehen hatte, die er besang --- gab ein Lied zum besten, in dem er ihre Kriegs- und Heldentaten verkündete. Jeder Vers schloß mit dem Kehrreim: ``Habe vergeht, Geschlechter vergehen, selbst gehst Du dahin, doch nie vergeht ein ruhmreicher Name.'' Dabei schlugen alle an ihre Schilde und hämmerten mit den Messern oder einem Knochen auf die Tischplatte, daß es weithin zu hören war.

Die Wikingerfrau saß auf der Querbank in der offenen Festhalle. Sie trug das Staatskleid und war mit goldenen Armringen und großen Bernsteinperlen geschmückt; der Skalde erwähnte auch ihrer in seinem Sange, sprach von dem goldenen Schatz, den sie ihrem reichen Gemahl zugebracht hätte, und dieser war von Herzen fröhlich über das schöne Kind, das er nur bei Tage in all seiner Wohlgestalt gesehen hatte. Die Wildheit, die sich bei ihm zeigte, gefiel ihm gerade. Sie könne, so meinte er, eine gewaltige Schildjungfrau werden, die einen Kampf wohl bestünde. Sie würde nicht mit der Wimper zucken, wenn eine geübte Hand ihr im Scherze mit scharfem Schwerte die Augenbrauen abtrennte.

Die Metkanne wurde geleert und neue aufgefahren. Es wurde gewaltig gezecht zu damaliger Zeit, es waren Leute, die wohl einen Tropfen vertragen konnten. Das Sprichwort lautete damals: ``Das Vieh weiß, wenn es von der Weide gehen muß, doch ein unkluger Mann kennt nicht das Maß seines Magens.'' Ja, das wußte man, aber Wissen und Handeln, jedes Ding zu seiner Zeit. Man wußte auch, daß man ``des Freundes satt wird, ist man zu lange in seinem Haus.'' Aber man blieb doch hier, Fleisch und Met sind gut Ding. Es ging lustig her, und des Nachts schliefen die Sklaven in der warmen Asche, tauchten die Finger in den fetten Ruß und leckten sie ab. Das waren gute Zeiten.

Noch einmal in diesem Jahre zog der Wiking aus, ungeachtet der nahen Herbststürme. Er ging mit seinen Mannen zu Britlands Küsten, ``das sei ja nur übers Wasser,'' sagte er. Sein Weib blieb mit ihrem kleinen Mädchen zurück, und es war gewiß, daß die Pflegemutter bald die arme Kröte mit den frommen Augen und den tiefen Seufzern fast mehr liebte als die Schönheit, die kratzte und um sich biß.

Die rauhen, nassen Herbstnebel, die ``Vögel-Mundlos'', die die Blätter abnagen, legten sich über Wald und Heide, und der ``Vogel Federlos'', der Schnee, kam gleich hinterher geflogen; der Winter war auf dem Wege. Die Spatzen belegten das Storchnest mit Beschlag und nörgelten auf ihre Art an der abwesenden Herrschaft herum.

Wo war das Storchpaar mit all seinen Jungen?

Die Störche waren nun im Lande Ägypten, wo die Sonne so warm scheint, wie bei uns an warmen Sommertagen. Tamarinden und Akazien blühten ringsum, und Mohameds Mond strahlte blank von den Kuppeln der Moscheen. Auf den schlanken Türmen saß manch Storchpaar und ruhte nach der langen Reise. Ganze Scharen hatten auf den mächtigen Säulen und zerbrochenen Tempelbogen vergessener Stätten genistet; Dattelpalmen erhoben ihre dachartigen Wipfel wie Sonnenschirme, und die weißgrauen Pyramiden standen wie Schattenrisse in der klaren Luft vor der Wüste, wo der Strauß zeigte, daß er seine Beine zu gebrauchen verstand, und der Löwe saß und mit großen klugen Augen die Marmorsphinx betrachtete, die halb vom Sande begraben liegt. Das Wasser des Nils war zurückgetreten. Das ganze Flußbett wimmelte von Fröschen, und für die Storchfamilie war dies der schönste Anblick in diesem Lande. Die Jungen glaubten, es sei eine Augentäuschung, so ohnegleichen fanden sie das Ganze.

``So ist es hier immer in unserem warmen Lande'' sagte die Storchmutter, und es kribbelte den Kleinen im Magen.

``Bekommen wir noch mehr zu sehen?'' sagten sie, ``sollen wir noch viel, viel weiter ins Land hinein?''

``Da gibts nichts weiter zu sehen!'' sagte die Storchmutter; ``hinter dem fruchtbaren Uferstrich liegt nur undurchdringlicher Wald, wo die Bäume ineinander wachsen und von stachligen Schlinggewächsen verfilzt sind, nur der Elefant mit seinen plumpen Füßen kann sich dort einen Weg bahnen. Die Schlangen dort sind uns zu groß und die Eidechsen zu flink. Wollt Ihr aber in die Wüste, so bekommt ihr Sand in die Augen, das heißt, wenn es fein zugeht. Geht es aber grob zu, so kommt ihr in eine Sandhose. Nein, hier ist es am besten. Hier sind Frösche und Heuschrecken. Hier bleibe ich und Ihr mit.''

Und sie blieben; die Alten saßen in ihrem Neste auf dem schlanken Minaret, pflegten der Ruhe und hatten genug damit zu tun, ihre Federn zu glätten und mit dem Schnabel die roten Strümpfe zurechtzuzupfen. Ab und an reckten sie die Hälse, grüßten gravitätisch und hoben die Köpfe mit der hohen Stirn und den feinen, glatten Federn, und ihre braunen Augen leuchteten klug. Die Storchfräulein gingen gravitätisch im saftigen Schilfe umher, lugten heimlich zu den jungen Störchen hinüber, machten Bekanntschaften und verschluckten bei jedem dritten Schritt einen Frosch oder schwenkten eine kleine Schlange hin und her; das nähme sich gut aus, fanden sie, und schmecken tat es auch. Die jungen Männer fingen Händel an, pufften einander mit den Flügeln, schlugen mit den Schnäbeln um sich, ja stachen sich wohl sogar blutig, und dann verlobte sich hier einer und da eine, das war ja schließlich auch der Sinn des Lebens. Und sie bauten Nester und gerieten sich dabei aufs neue in die Haare, denn in den heißen Ländern ist man gar hitzig, aber vergnügt ging es doch zu, besonders den Alten machte es Spaß. Die eigenen Kinder kleidet eben alles. Jeden Tag schien hier die Sonne, jeden Tag gab es vollauf zu essen, man konnte nur an Lust und Freude denken. --- Aber in dem reichen Schloß des ägyptischen Hauswirts, wie sie ihn nannten, hatte die Freude keine Stätte.

Der reiche, mächtige Herr lag auf dem Ruhebett, steif in allen Gliedern und ausgestreckt wie eine Mumie, mitten in dem große Saal mit den prächtig bemalten, farbigen Wänden. Verwandte und Diener standen um ihn her, tot war er nicht; daß er lebte, konnte man auch füglich nicht sagen. Die rettende Moorblume aus den nördlichen Ländern, die gesucht und gepflückt werden mußte von der, die ihn am herzlichsten liebte, ward ihm nicht gebracht. Seine junge schöne Tochter, die im Schwanenkleide über Meer und Land weit zum hohen Norden hinauf geflogen war, sollte niemals mehr zurückkehren. ``Sie ist tot und fort!'' hatten die beiden heimgekehrten Schwanenjungfrauen gemeldet sie hatten sich eine ganze Geschichte ausgedacht, die sie nun erzählten:

``Wir flogen alle drei hoch oben in der Luft, als uns ein Jäger sah und seinen Pfeil abschoß. Er traf unsere junge Freundin, und langsam ihr Fahrwohl singend glitt sie wir ein schwebender Schwan mitten in einen Waldsee hinab. Dort am Ufer unter einer duftenden Hängebirke begruben wir sie. Doch sie ist gerächt. Feuer banden wir unter die Flügel der Schwalbe, die unter dem Schilfdach des Jägers nistet, es zündete, das Haus loderte in Flammen auf, und er verbrannte darin. Weit hinaus über den See bis zu der hängenden Birke leuchtete es, wo sie als Erde in der Erde ruht. Niemals mehr kehrt sie zurück nach Ägypten.''

Dann weinten die beiden, und der Storchvater, der die Geschichte mit anhören mußte, klapperte mit dem Schnabel, daß es schallte.

``Lüge und Erfindung'' sagte er. ``Ich hätte die größte Lust, ihnen meinen Schnabel in die Brust zu jagen.''

``Und ihn dabei abzubrechen!'' sagte die Storchmutter. ``Dann wirst Du ja recht hübsch aussehen! Erst denk an Dich selbst und dann an Deine Familie; alles andere kommt erst in zweiter Reihe.''

``Ich will mich doch morgen an den Rand der offenen Kuppel setzen, wenn sich alle die Gelehrten und Weisen versammeln, um über den Kranken zu beraten, vielleicht kommen sie dann der Wahrheit etwas näher.''

Und die Gelehrten und Weisen kamen zusammen und sprachen viel, sprachen lang und breit, und der Storch konnte nicht daraus klug werden. --- Für den Kranken kam auch nichts dabei heraus, auch nicht für die Tochter im Wildmoor, aber trotzdem können wir ja ein wenig zuhören, man muß sich ja sonst auch so vielerlei mit anhören.

Das Richtigste wird jetzt sein, auch zu hören und zu wissen, was dem vorausgegangen war, dann sind wir besser im Bilde, wenigstens ebenso gut wie der Storchvater.

``Liebe gebiert das Leben. Die höchste Liebe gebiert das höchste Leben. Nur durch Liebe ist Rettung für sein Leben zu gewinnen!'' war gesagt worden, und das wäre außerordentlich klug und gut gesagt, versicherten die Gelehrten.

``Das ist ein schöner Gedanke'' sagte auch der Storchvater sofort.

``Ich verstehe ihn nicht richtig!'' sagte die Storchmutter, ``und das ist nicht mein Fehler, sondern der des Gedankens, doch das kann mir auch gleichgültig bleiben, ich habe an mehr zu denken!''

Darauf hatte sich zwischen den Gelehrten eine lange und tiefsinnige Diskussion über die Liebe entsponnen, welche Unterschiede es darin gab, Liebe, die Verliebte fühlen, Liebe zwischen Eltern und Kindern, zwischen Licht und Pflanzen --- es war so weitläufig und gelehrt auseinandergesetzt, daß es dem Storchvater unmöglich wurde, weiter zu folgen, geschweige denn, es zu wiederholen. Er wurde ganz gedankenvoll, schloß die Augen halb zu und stand noch einen ganzen Tag danach auf einem Bein, er hatte zu schwer an seiner Gelehrsamkeit zu balzen.

Doch eins verstand der Storchvater, denn er hatte die geringen wie die vornehmsten Leute aus Herzensgrund seufzen hören, daß es ein großes Unglück für viele Tausende und gleichzeitig für das Land sei, daß dieser Mann krank darnieder läge und nicht wieder genesen könne: Wohltat und Segen würde es bedeuten, wenn er seine Gesundheit zurückerhielte. ``Aber wo wächst die Blume, die ihm die Gesundheit wiedergeben kann?'' Danach hatten alle gefragt, in gelehrten Schriften, blinkenden Sternbildern, in Wetter und Wind hatten sie es zu erforschen gesucht, alle Umwege waren sie gegangen, um es herauszufinden, und zuletzt hatten die Gelehrten und Weisen, wie gesagt, dies eine herausbekommen: ``Die Liebe gebiert Leben, Leben für den Vater'', und damit hatten sie mehr gesagt, als sie selbst verstanden. Sie wiederholten und schrieben es als Rezept auf: ``Liebe gebiert Leben.'' Aber wie dies Ding zubereitet werden müsse, ja, da hatte die Sache ihren Haken. Zuletzt wurden sie darüber einig, daß die Hülfe von der Prinzessin kommen müsse, von ihr, die mit ganzer Seele und von ganzem Herzen ihren Vater liebte. Man fand endlich auch heraus, wie es zustande gebracht werden müsse, aber darüber waren Jahr und Tag vergangen. Sie solle in der Nacht nachdem der Neumond zum ersten Male untergegangen wäre, sich hinaus zu der Marmorsphinx in der Wüste begeben, den Sand von einer Tür am Fußende fortscharren, und dort durch den langen Gang gehen, der ins Innere einer der großen Pyramiden führt, wo ein mächtiger König aus alter Zeit, von Pracht und Herrlichkeit umgeben, in seiner Mumienhülle läge. Hier sollte sie ihr Haupt zu dem Toten hinabbeugen, dann würde ihr offenbart werden, wie Leben und Rettung für ihren Vater zu gewinnen wären.

Alles dies hatte sie ausgeführt und im Traume erfahren, daß sie aus dem tiefen Moor droben im dänischen Lande, die Stelle war ganz genau bezeichnet, die Lotosblume heimbringen müsse, die in der Tiefe des Wassers ihre Brust berühre. Dann könne er gerettet werden.

Und deshalb flog sie im Schwanenkleid vom Lande Ägypten zum Wildmoor hinauf. Seht, alles dies wußten Storchvater und Storchmutter und wir wissen es nun genauer, als wir es vorher wußten. Wir wissen, daß der Moorkönig sie zu sich herabzog, wissen, daß sie für die Ihren daheim tot und verschollen war; nur der Weiseste und die Storchmutter sagten noch immer: ``Sie wird sich schon retten!'' Und darauf wollte man warten, denn etwas Besseres wußte man nicht.

``Ich glaube, ich mause den beiden bösen Prinzessinnen die Schwanenkleider'' sagte der Storchvater. ``Dann können sie doch nicht zum Wildmoor und noch mehr Übel anrichten; die Schwanenkleider selbst verstecke ich dort oben, bis man einmal Verwendung für sie findet.''

``Wo oben willst Du sie denn verstecken?'' fragte die Storchmutter.

``In unserem Nest beim Wildmoor'' sagte er. ``Ich und unsere jüngsten Kinder könnten uns gegenseitig helfen, sie mitzunehmen. Und werden sie uns zu beschwerlich, so gibt es genug Orte unterwegs, wo sie bis zum nächsten Zuge versteckt bleiben können. Ein Schwanenkleid wäre wohl genug für sie, aber zwei sind besser; es ist immer gut, auf Reisen in den nordischen Ländern gut versehen zu sein.''

``Du wirst keinen Dank ernten!'' sagte die Storchmutter. ``Aber Du bist ja der Herr. Außer der Brutzeit habe ich ja nichts zu sagen.''

In der Wikingerburg am Wildmoor, wohin die Störche im Frühjahr zogen, hatte man dem kleinen Mädchen inzwischen einen Namen gegeben; Helga war sie genannt worden, doch der Name war allzu zart für einen Sinn, wie er dieses schöne Mädchen hier erfüllte. Monat für Monat wuchs sie kräftiger heran. Nach einigen Jahren, während die Störche stets die gleiche Reise im Herbst nach dem Nil im Frühjahr nach dem Wildmoor machten, wurde aus dem kleinen Kinde ein großes Mädchen, und ehe man sich dessen versah, war es zu der schönsten Jungfrau von sechzehn Jahren erblüht. Doch in der schönen Schale steckte ein harter, bitterer Kern; sie war weit wilderen Sinnes als die anderen Menschen dieser harten, finsteren Zeit.

Es war ihr eine Lust, ihre weißen Hände in das dampfende Blut der zum Opfer geschlachteten Pferde zu tauchen; sie zerbiß in ihrer Wildheit den Hals des schwarzen Hahns, den der Opferpriester schlachten sollte, und zu ihrem Pflegevater sagte sie in vollem Ernste:

``Käme Dein Feind, schlänge ein Seil um die Balken unseres Daches und höbe es von der Kammer, in der Du schliefest, ich würde Dich nicht wecken, ob ich es auch könnte. Ich würde es nicht hören, so saust mir noch immer das Blut im Ohr, auf das Du mir vor Jahren eine Ohrfeige gabst, Du! Ich vergesse nicht.''

Aber der Wiking achtete ihrer Worte nicht, er war, ebenso wie alle anderen, von ihrer Schönheit betört, wußte auch nichts davon, wie Klein-Helga Gestalt und Sinn bei Tag und Nacht wechselte. Ohne Sattel saß sie wie festgewachsen auf dem Pferde, das in wildem Lauf daherjagte, sprang auch nicht ab, wenn es sich mit den anderen bösartigen Pferden herumbiß. Oft warf sie sich mit allen Kleidern vom Abhange herab in des Fjorde starken Strom und schwamm dem Wiking entgegen, wenn sein Boot dem Lande zusteuerte. Von ihrem herrlichen langen Haar schnitt sie die längste Locke ab und flocht daraus eine Sehne für ihren Bogen: ``Selbstgetan, wohlgetan!'' sagte sie.

Die Wikingerfrau hatte wohl für die damalige Zeit und Gewohnheit einen festen Willen und ein starkes Gemüt, aber gegen die Tochter gesehen, war sie ein sanftes, ängstliches Weib: sie wußte ja auch, daß ein Zauber über dem entsetzlichen Kinde ruhte.

Nur allzu oft kam es Helga in den Sinn, sich voll böser Gelüste, gerade wenn die Mutter auf dem Söller stand oder in den Hof hinaustrat, auf den Brunnenrand zu setzen, mit Armen und Beinen um sich zu schlagen und sich darauf in das enge, dunkle Brunnenloch fallen zu lassen, wo sie nach Froschart untertauchte und wie der an die Oberfläche kam, um dann katzengleich wieder emporzugklettern wassertriefend durch den Festsaal zu laufen, so daß die grünen Blätter, mit denen der Fußboden bestreut war, in dem rinnenden Wasser schwammen.

Doch ein Band gab es, das Klein-Helga hielt, das war die Abenddämmerung. Da wurde sie still und gleichsam nachdenklich, ließ sich gebieten und leiten. Es war, als ob ein inneres Gefühl sie zur Mutter zöge, und wenn die Sonne sank und die innere und äußere Verwandlung vor sich ging, saß sie still und traurig, zur Froschgestalt zusammengeschrumpft da. Der Körper war nun weit größer als der dieses Tiers, aber gerade dadurch noch abschreckender. Sie sah wie ein abscheulicher Zwerg aus mit einem Froschkopf und Schwimmhäuten zwischen den Fingern. Es lag etwas so Betrübtes in den Augen, mit denen sie umherblickte; eine Stimme hatte sie nicht, nur ein hohles Quaken gab sie mitunter von sich, ganz wie ein Kind, das im Schlafe schluchzt. Da konnte die Wikingerfrau sie wohl auf ihren Schoß nehmen, die häßliche Gestalt vergessen und nur die traurigen Augen sehen; mehr als einmal sagte sie dann: ``Fast möchte ich wünschen, daß Du immer mein stummes Froschkind wärest; für mich bist Du häßlicher anzusehen, wenn Du nach außenhin schön bist.''

Und sie schrieb Runen gegen Zauber und Krankheit und warf sie über das schlimme Geschöpf, aber die Besserung trat nicht ein.

``Man sollte nicht glauben, daß sie so klein gewesen ist und in einer Seerose hat liegen können!'' sagte der Storchvater. ``Nun ist sie ein ganzer Mensch und ihrer ägyptischen Mutter leibhaftiges Ebenbild. Nie haben wir die Mutter seitdem gesehen! Sie konnte sich nicht retten, wie Du und der Gelehrteste da drüben glaubtet. Ich bin nun Jahr aus Jahr ein kreuz und quer über das Wildmoor hingeflogen, aber sie gab nie ein Lebenszeichen von sich. Ja, ich kann es Dir ja gestehen, ich bin in den Jahren, wo ich hier einige Tage vor Dir ankam, um das Nest auszubessern und ein und das andere in Stand zu setzen, jedesmal eine ganze Nacht lang wie eine Eule oder Fledermaus unaufhörlich über das offene Wasser hingeflogen, aber ohne jeden Gewinn. Die Schwanenkleider, die ich und die Jungen vom Nil hier herauf geschleppt haben --- beschwerlich genug war es, in drei Reisen haben wir es einteilen müssen --- liegen auch noch unbenützt da. Schon so lange Jahre haben sie nun auf dem Boden des Nestes herumgelegen, und geschieht hier einmal ein Feuerunglück, und das Blockhaus brennt ab, so sind sie doch weg.''

``Und unser gutes Nest ist weg!'' sagte die Storchmutter, ``daran denkst Du weniger als an das Federzeug und die Moorprinzessin! Du kannst ja zu ihr hinabtauchen und gleich unten im Sumpfe bleiben! Du bist gegenüber Deiner eigenen Familie ein schlechter Vater, das habe ich gesagt, seit ich das erste Mal auf Eiern lag. Wenn nur nicht wir oder unsere Jungen von der tollen Wikingerdirne einmal einen Pfeil in die Flügel gejagt bekommen! Sie weiß ja nicht, was sie tut! Wir sind doch länger hier zuhause als sie, das sollte sie bedenken; wir vergessen nie unsere Pflichten, wir geben jedes Jahr unsere Abgaben: eine Feder, ein Ei und ein Junges, wie es billig ist. Glaubst Du, wenn sie draußen ist, daß ich hinuntergehen mag wie in alten Tagen, und wie ich es in Ägypten tat, wo ich mit den Leuten halb kameradschaftlich umgehe, und, ohne mir doch etwas zu vergeben, in Schüsseln und Töpfe hineingucke? Nein, ich bleibe hier oben sitzen und ärgere mich über sie --- so ein Balg! Und über Dich ärgere ich mich auch! Du hättest sie in der Wasserrose liegen lassen sollen, dann wäre sie fort gewesen!''

``Du bist viel achtenswerter als Deine Rede'' sagte der Storchvater --- ``ich kenne Dich besser, als Du Dich selbst kennst!''

Und dann machte er einen Sprung, zwei schwere Flügelschläge, streckte die Beine nach hinten und flog, oder besser, segelte davon, ohne die Schwingen zu bewegen. Als er ein gutes Stück fort war, machte er noch einen kräftigen Schlag, die Sonne schimmerte auf den weißen Federn, Hals und Kopf streckten sich voran. Kraft und Schwung kamen beim Fluge zum Ausdruck.

``Er ist noch immer der Herrlichste von allem'' sagte Storchmutter, ``aber ich sage es ihm nicht.''

Schon zeitig während der Herbsternte kam der Wiking mit Beute und Gefangenen heim. Unter diesen war ein junger christlicher Priester, einer der Männer, die die alten nordischen Götter verfolgten. Oft in letzter Zeit war in der Halle und dem Frauengemach über den neuen Glauben gesprochen worden, der sich weit in allen südlichen Ländern verbreitet hatte, ja sogar durch den heiligen Ansgarius schon bis in den Norden vorgedrungen war. Selbst die kleine Helga hatte von dem Glauben an den weißen Christus gehört, der aus Liebe zu den Menschen sich selbst geopfert hatte, um sie zu erlösen; das war ihr, wie man zu sagen pflegt, zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus gegangen. Für das Wort Liebe schien sie nur Empfindung zu haben, wenn sie in elender Froschgestalt zusammengeschrumpft in der verschlossenen Kammer saß. Aber die Wikingerfrau hatte aufmerksam gelauscht und sich seltsam ergriffen bei den Geschichten und Sagen, die über den Sohn des einzigen wahren Gottes umliefen, gefühlt.

Die vom Zuge heimgekehrten Männer hatten von den prächtigen Tempeln aus köstlich behauenen Steinen erzählt, die für ihn errichtet worden waren, dessen Gebot die Liebe war. Ein paar schwere, goldene Gefäße, kunstvoll geformt und ganz und gar ans reinem Golde, denen würzige Gerüche entströmten, waren unter der heimgebrachten Beute. Es waren Räucherfässer, die die christlichen Priester vor dem Altar schwangen, auf dem niemals Blut floß sondern Wein, und dieser und das geweihte Brot verwandelten sich in seinen Leib und sein Blut, die hingegeben waren für noch ungeborene Geschlechter.

In des Blockhauses tiefem steinernen Keller war der junge Gefangene, der christliche Priester, untergebracht und mit Bastschnuren an Händen und Füßen gefesselt worden. ``Herrlich wie Baldur anzusehen'' war er, wie die Wikingerfrau sagte, und sie wurde von seiner Not gerührt; aber Jung-Helga verlangte, daß man eine Schnur durch seine Kniesehnen zöge und ihn an den Schwänzen der wilden Stiere festbände.

``Dann würde ich die Hunde loslassen! Hui, davon über Sumpf und Moor nach der Heide! Das wäre ein lustiger Anblick, aber noch lustiger, ihm bei dieser Fahrt folgen zu können!''

Doch der Wiking wollte nicht, daß er diesen Tod erleide, doch sollte er als Verleugner und Verfolger der hohen Götter morgigen Tages auf dem Blutsteine im Hain geopfert werden. Es war das erste Mal, daß hier ein Mensch geopfert wurde.

Jung-Helga bat, ob sie die Götterbilder und das Volk mit seinem Blute besprengen dürfe; sie wetzte ihr blankes Messer, und da gerade einer der großen bissigen Hunde, deren es genug auf dem Hofe gab, an ihr vorbei lief, stach sie ihm das Messer in die Seite: ``Das geschieht, um seine Schärfe zu erproben'' sagte sie, und die Wikingerfrau sah betrübt auf das wilde, bösartige Mädchen. Und als die Nacht kam und die Tochter sich an Leib und Seele verwandelte, sprach sie zu ihr mit des Kummers warmen Worten, die tief aus ihrer Seele drangen.

Die häßliche Kröte mit dem verzauberten Leib stand vor ihr und heftete die braunen, traurigen Augen auf sie, hörte zu und schien mit menschlicher Vernunft zu verstehen.

``Niemals, selbst nicht zu meinem Gemahl, ist mir über die Zunge gekommen, um dessen willen ich zwiefach durch Dich leide!'' sagte die Wikingerfrau. ``Es ist mehr Kummer über Dich in meinem Herzen, als ich selbst je geglaubt hätte. Groß ist die Liebe einer Mutter, doch in Deiner Seele wohnt keine Liebe. Dein Herz ist ein kalter Schlammklumpen! Woher kommst Du doch in mein Haus!''

Da erzitterte das häßliche Geschöpf ganz seltsam, es war, als berührten diese Worte ein unsichtbares Band zwischen Körper und Seele, und es erschienen große Tränen in seinen Augen.

``Deine harte Zeit wird noch einmal kommen!'' sagte die Wikingerfrau. ``Furchtbar wird sie werden, auch für mich! Besser wärest Du als Kind auf der Landstraße ausgesetzt worden, und die Nachtkälte hätte Dich in den Tod gelullt!'' Und die Wikingerfrau vergoß bittere Tränen und ging zornig und betrübt hinter den Fellvorhang, der von einem Balken lose herabhing und die Stube teilte.

Einsam saß die zusammengeschrumpfte Kröte im Winkel. Lautlose Stille war in der Stube, aber nach kurzer Zeit entrang sich ihr ein halberstickter Seufzer; es war, als ob unter Schmerzen neues Leben in ihrem Herzen geboren werde. Sie tat einen Schritt vorwärts, lauschte, tat wieder einen Schritt und ergriff nun mit unbehülflichen Händen die schwere Stange, die vor die Tür geschoben war. Leise schob sie sie zur Seite, still nahm sie das Holzstück fort, das unter der Klinke steckte und ergriff die brennende Lampe, die in der Vorkammer stand. Es war, als gäbe ihr ein starker Wille ungeahnte Kräfte. Sie zog den eisernen Bolzen aus der vergitterten Tür und schlich sich zu dem Gefangenen hinab. Er schlief. Sie berührte ihn mit ihrer kalten, klammen Hand, und er erwachte. Als er die häßliche Gestalt erblickte, schauderte er wie vor einer bösen Erscheinung zurück. Sie zog ihr Messer, durchschnitt seine Fesseln und winkte ihm, ihr zu folgen.

Er rief heilige Namen, schlug das Kreuzeszeichen, und als die Gestalt unverändert vor ihm stand, sagte er: ``Selig ist, wer gegen die Geringen verständig handelt, der Herr wird ihn erretten am Tage der Trübsal. --- Wer bist Du? Woher dies Äußere eines Tieres und doch von barmherzigem Tun?''

Die Krötengestalt winkte, führte ihn hinter schützenden Decken durch einen einsamen Gang zum Stalle hinaus und zeigte auf ein Pferd; er schwang sich hinauf, doch auch sie hüpfte vor ihm aufs Pferd und hielt sich an seiner Mähne fest. Der Gefangene verstand sie, in hurtigem Trab ritten sie einen Weg entlang, den er nie allein gefunden haben würde, und kamen in die offene Heide hinaus.

Er vergaß ihre häßliche Gestalt und fühlte nur die durch dies Ungetüm bewiesene Gnade des Herrn. Fromme Gebete sprach er und stimmte heilige Lieder an. Da zitterte sie; war es des Gebetes und des Gesanges Macht, die auf sie einwirkten, oder waren es die Kälteschauer des beginnenden Morgens? Was mochte sie wohl empfinden. Sie hob sich hoch empor, wollte das Pferd anhalten und abspringen. Doch der christliche Priester hielt sie mit aller Kraft fest, sang laut einen Psalm, als könne er den Zauber lösen, der sie in die häßliche Froschgestalt gebannt hielt, und das Pferd jagte wilder davon. Der Himmel wurde rot, der erste Sonnenstrahl drang durch die Wolken, und durch den klaren Lichtstrahl geschah die Verwandlung, sie wurde wieder die junge Schönheit mit dem dämonisch bösen Sinn; er hielt das schönste junge Weib in seinen Armen. Darüber entsetzte er sich, sprang vom Pferde und hielt es an, indem er glaubte, einem neuen vernichtenden Blendwerk zum Opfer zu fallen. Aber Jung-Helga war ebenfalls mit einem Sprunge auf dem Erdboden. Das kurze Kinderröckchen reichte ihr kaum bis ans Knie. Sie riß das scharfe Messer aus ihrem Gürtel und stürzte sich auf den Überraschten.

``Wenn ich Dich fasse'' rief sie, ``wenn ich Dich fasse, renne ich Dir das Messer in den Leib, Du bist ja bleich wie Stroh, Bartloser Sklave.''

Sie drang auf ihn ein; sie kämpften einen schweren Kampf, aber es war, als ob eine unsichtbare Kraft dem christlichen Manne Stärke gäbe. Er hielt sie fest, und der alte Eichbaum neben ihm kam ihm zu Hülfe und band gleichsam mit seinen halb aus dem Erdreich gelösten Wurzeln ihre Füße, die sich darin verwickelt hatten. Dicht dabei sprudelte eine Quelle. Er sprengte ihr das frische Wasser über Brust und Antlitz, gebot dem unreinen Geiste, von ihr zu weichen und segnete sie nach christlichem Brauche, aber das Wasser der Taufe hat keine Kraft, wo nicht des Glaubens Quelle auch von innen her strömt.

Und doch blieb er auch hier der Überlegene; ja mehr als Mannesstärke gegen die feindliche böse Macht lag in seiner Tat, die das Mädchen gleichsam benahm. Sie ließ die Arme sinken, sah mit verwunderten Augen und erbleichenden Wangen auf diesen Mann, der ihr wie ein mächtiger Zauberer erschien, stark an Mächten und geheimer Kunst. Finstere Runen warf er über sie, schwarze Zeichen waren es, die er in die Luft schrieb! Nicht vor der blinkenden Axt oder dem scharfen Messer, hätte er es vor ihren Augen gezückt, würde sie mit der Wimper gezuckt haben, aber sie tat es, als er des Kreuzes Zeichen auf ihre Brust und Stirne schrieb. Wie ein zahmer Vogel saß sie, das Haupt auf die Brust gebeugt.

Sanft sprach er nun zu ihr von dem Liebeswerke, das sie gegen ihn in dieser Nacht geübt, als sie in der garstigen Krötenhaut zu ihm hinabgekommen war, seine Banden gelöst und ihn dem Licht und Leben wiedergegeben hatte. Sie wäre auch gebunden, mit stärkeren Banden gebunden, als er es gewesen, doch auch sie solle, und zwar durch ihn, dem Licht und Leben wieder zugeführt werden. Zu dem heiligen Ansgarius wolle er sie bringen, dort, in seiner christlichen Stadt, würde der Zauber von ihr genommen werden. Doch nicht vor sich auf dem Pferde, ob sie auch gutwillig folgen würde, wagte er sie dorthin zu führen.

``Hinter mir mußt Du auf dem Pferde sitzen, nicht vor mir. Deiner zauberischen Schönheit eignet die Macht, die das Böse ausstrahlt; ich fürchte sie --- und doch werde ich darüber siegen in Christo.''

Er beugte seine Knie und betete fromm und innig, da war es, als würde die stille Waldnatur zu einer heiligen Kirche geweiht. Die Vögel begannen zu singen, als gehörten sie mit zu der neuen Gemeinde, die wilden Krauseminzen dufteten, als wollten sie Ambra und Räucherwerk ersetzen, und laut verkündete er die Worte der Schrift: ``Das Licht von oben hat uns heimgesuchet, um zu leuchten denen, die in der Finsternis wandeln, und ihre Füße zu leiten auf dem Wege des Friedens.''

Und er sprach von der Sehnsucht der Geschöpfe, und während er sprach, stand das Pferd, das sie in wildem Lauf getragen hatte, still und scharrte zwischen den langen Brombeerranken, so daß die reifen, saftigen Beeren in Klein-Helgas Schoß fielen, sich selbst zur Erquickung anbietend.

Geduldig ließ sie sich auf den Rücken des Pferdes heben und saß dort wie eine Schlafwandlerin, die nicht wacht, aber auch nicht wandelt. Der christliche Mann band zwei Zweige mit Bastfäden so zusammen, daß sie ein Kreuz bildeten, das hielt er hoch in der Hand, während sie durch den Wald ritten. Der wurde dichter und dichter, der Weg schmaler, die Schlehenbüsche standen vor ihnen wie Schlagbäume, so daß sie um sie herum reiten mußten. Die Quelle wurde nicht zum rinnenden Bache, sondern zu einem stehenden Sumpf, auch um ihn mußte man herumreiten. Aber Stärke und Erquickung lagen in der frischen Waldluft, und eine nicht geringere Kraft war in den Worten der Milde, die voller Glauben und christlicher Liebe erklangen, von dem innigen Wunsche beseelt, die schon Überwundene zu Licht und himmlischem Leben emporzufahren.

Der Tropfen, heißt es ja, höhlt den harten Stein. Die Meereswogen schleifen mit der Zeit die kantigen Felsblöcke rund, der Tau der Gnade, der zum ersten Male auf Klein-Helga niederrann, höhlte das Harte, rundete das Scharfe; wohl war es noch nicht zu erkennen, sie selbst wußte es nicht; was weiß der Keim in der Erde bei der erquickenden Feuchtigkeit und dem warmen Sonnenstrahl davon, daß er Pflanze und Blüte in sich trägt.

Wie der Gesang der Mutter unmerklich in der Seele des Kindes haftet, und es die einzelnen Worte nachlallt, ohne sie zu verstehen, bis sich diese später in den Gedanken sammeln und sichten, so wirkte auch hier das schöpferische Wort der Allmacht.

Sie ritten aus dem Walde hinaus, hin über die Heide, wieder durch pfadlose Wälder; da trafen sie gegen Abend auf Räuber.

``Wo hast Du das schöne Püppchen gestohlen?'' riefen sie, hielten das Pferd an und rissen die beiden Reiter herunter, denn sie waren in großer Überzahl. Der Priester hatte keine andere Waffe als das Messer, das er Klein-Helga entwunden hatte, damit stieß er um sich. Einer der Räuber schwang seine Axt, doch der junge Christ sprang glücklich zur Seite, sonst wäre er erschlagen worden; nun fuhr die Schneide der Axt tief in den Hals des Pferdes, daß das Blut herausströmte und das Tier zu Boden stürzte. Da fuhr Klein-Helga, wie aus tiefen Gedanken geweckt, empor und warf sich über das stöhnende Tier. Der christliche Priester stellte sich als Schutz und Schirm vor sie, aber einer der Räuber schwang seinen schweren Eisenhammer gegen seine Stirn, so daß sie zerschmettert wurde und Blut und Hirn rings umher spritzten. Tot fiel er zur Erde nieder.

Die Räuber ergriffen Klein-Helga an ihrem weißen Arm; da, im gleichen Augenblick, ging die Sonne unter, und als der letzte Sonnenstrahl erlosch, verwandelte sie sich in eine häßliche Kröte. Das weißlich-grüne Maul klaffte über das halbe Gesicht, die Arme wurden dünn und schleimig, eine breite Hand mit Schwimmhäuten öffnete sich fächerförmig; --- da ließen sie die Räuber entsetzt fahren. Sie stand als häßliches Untier mitten unter ihnen, und nach Froschart hüpfte sie empor, höher als sie selbst war, und verschwand im Dickicht. Da merkten die Räuber, daß sie es mit Lokes böser List oder geheimen Zauberkünsten zu tun hatten, und voller Entsetzen eilten sie davon.

Der Vollmond war schon aufgegangen und spendete Glanz und Licht, da kroch aus dem Gebüsch, in des Frosches häßlicher Haut, Klein-Helga hervor. Sie blieb bei dem Leichnam des christlichen Priesters und ihrem getöteten Renner stehen und sah sie mit Augen an, die zu weinen schienen. Der Froschkopf gab einen Laut von sich, der wie das Quäken eines Kindes, das in Weinen ausbricht, klang. Bald warf sie sich über den einen, bald über das andere, schöpfte Wasser mit ihren Händen, die durch die Schwimmhäute größer und hohler wurden, und goß es über sie aus. Aber tot waren sie und tot sollten sie bleiben. Das begriff sie. Bald konnten wilde Tiere kommen und ihre Leiber fressen; nein, das durfte nicht geschehen! Deshalb grub sie die Erde auf, so tief sie es vermochte. Ein Grab wollte sie für sie bereiten, doch sie hatte zum Graben nur einen harten Zweig und ihre beiden Hände. Aber an ihnen spannten sich zwischen den Fingern die Schwimmhäute. Sie rissen und das Blut floß. Sie sah, daß ihr die Arbeit nicht gelingen werde. Da nahm sie Wasser und wusch damit des Toten Antlitz, bedeckte es mit frischen, grünen Blättern, trug große Zweige zusammen und legte sie über ihn, dann schüttete sie Laub dazwischen, nahm die schwersten Steine, die sie aufheben konnte, legte sie über die toten Körper und verstopfte die Öffnungen mit Moos. Nun glaubte sie, daß der Grabhügel stark und sicher genug sei; aber während der schweren Arbeit war die Nacht vergangen, die Sonne brach hervor --- und Klein-Helga stand da in all ihrer Schönheit, mit blutenden Händen und zum ersten Male mit Tränen auf den errötenden jungfräulichen Wangen.

Da war es ihr während der Verwandlung, als bekämpften sich in ihr zwei Naturen. Sie zitterte, schaute sich um, als erwache sie aus einem beängstigenden Traum, schoß dann auf eine schlanke Buche zu, hielt sich fest daran gepreßt, um doch eine Stütze zu haben, und dann kletterte sie schnell, in einem Nu, wie eine Katze in die Spitze des Baumes hinauf und klammerte sich dort fest. Da saß sie nun wie ein verängstigtes Eichhörnchen, saß den ganzen Tag in der tiefen Waldeinsamkeit, wo alles stille und tot war. Tot? Nein, da flogen ja ein paar Schmetterlinge umeinander im Spiel oder Streit. Dicht dabei waren auch ein paar Ameisenhaufen, jeder beherbergte mehrere Hundert emsiger Geschöpfchen, die hin und her wimmelten. In der Luft tanzten unzählige Mücken, Schwarm an Schwarm. Scharen von summenden Fliegen, Libellen und andere geflügelte Tierchen jagten vorbei, der Regenwurm kroch aus dem feuchten Boden hervor, Maulwürfe stießen herauf --- sonst war es still und tot ringsum, tot, wie man sagt und es versteht. Niemand außer den Hähern beachtete Klein-Helga, sie flogen schreiend um die Spitze des Baumes, auf dem sie saß. In dreister Neugierde hüpften sie auf den Zweigen näher zu ihr heran. Ein Blick ihrer Augen Jagte sie wieder fort --- aber klüger wurden sie deshalb doch nicht aus ihr, und sie auch nicht klüger aus sich selbst.

Als der Abend sich näherte und die Sonne zu sinken begann, rief die Verwandlung sie zu neuer Bewegung. Sie ließ sich am Stamme hinabgleiten, und während der letzte Sonnenstrahl erlosch, stand sie wieder da in eines Frosches zusammengeschrumpfter Gestalt mit den zerrissenen Schwimmhäuten an den Händen, doch die Augen erstratalten nun in einem Schönheitsglanze, wie er kaum früher der schönen Gestalt eigen war. Es waren die sanftesten frommen Mädchenaugen, die hinter der Froschlarve hervorleuchteten, sie zeugten von einer tiefen Seele, einem menschlichen Herzen. Und die schönen Augen weinten viele Tränen, weinten schwere Tränen eines erleichterten Herzens.

Noch immer lag bei dem Grabbügel das aus Zweigen zusammengebundene Kreuz, die letzte Arbeit dessen, der nun tot, dahingegangen war. --- Klein-Helga nahm es auf und pflanzte es, der Gedanke kam ihr ganz ohne ihr Zutun, zwischen die Steine über ihm und dem erschlagenen Pferde. In wehmütiger Erinnerung brachen ihre Tränen aufs neue hervor, und in dieser Herzensstimmung ritzte sie das gleiche Zeichen in die Erde rings um das Grab, wahrlich die schönste Einfassung. Während sie mit beiden Händen das Zeichen des Kreuzes machte, fielen die Schwimmhäute wie zerrissene Handschuhe ab, und als sie sich im Quellwasser wusch und verwundert auf ihre feinen, weißen Hände herabsah, machte sie wieder das Zeichen des Kreuzes zwischen sich und den Toten in die Luft. Da erbebten ihre Lippen, da bewegte sich ihre Zunge, und der Name, den sie so oft während des Rittes durch den Wald gesungen und gesprochen vernommen hatte, wurde aus ihrem Munde hörbar. Sie sagte: ``Jesus Christus.''

Da fiel die Krötenhaut, und die junge Schönheit stand da; --- doch das Haupt neigte sich müde, die Glieder bedurften der Ruhe --- sie schlief.

Aber der Schlaf war nur kurz. Um Mitternacht wurde sie geweckt; vor ihr stand das tote Pferd voll strahlenden Lebens, aus seinen Augen und dem verwundeten Halse leuchtete ein Schwacher Schein, und neben ihm zeigte sich der erschlagene christliche Priester. ``Schöner als Baldur'' würde die Wikingerfrau gesagt haben, und doch kam er wie in feurigen Flammen.

Es lag ein Ernst in den großen, milden Augen, ein so gerechtes Urteil, ein so durchdringender Blick, daß es gleichsam bis in den tiefsten Herzenswinkel der nun Erprobten drang. Klein-Helga zitterte, und ihre Erinnerung erwachte mit einer Kraft wie am Tage des Jüngsten Gerichts. Alles, was ihr Gutes erwiesen, jedes liebevolle Wort, das ihr gesagt worden war, wurde gleichsam lebendig. Sie erkannte, daß es die Liebe gewesen, die sie hier in den Tagen der Prüfung aufrecht erhalten hatte. Sie sah klar, daß sie nur den Trieben ihrer Stimmungen gefolgt war, selbst aber nichts dazu getan hatte. Alles war ihr gegeben, und alles zu ihrem Besten gefügt worden. Sie beugte sich nieder, demütig und voller Scham vor dem, der in jeder Falte ihres Herzens lesen konnte, und im gleichen Augenblick fühlte sie sich wie von einem Blitzstrahl der Läuterung, dem flammenden Funken des heiligen Geistes durchdrungen.

``Du Tochter des Sumpfes'' sagte der christliche Priester, ``aus dem Sumpfe, aus der Erde bist Du gekommen --- aus der Erde sollst Du einst auferstehen! Der Sonnenstrahl in Dir gebt, seines Körpers bewußt, zu seiner Quelle zurück, der Strahl, nicht von der Sonne, sondern der Strahl von Gott. Keine Seele soll verloren gehen. Doch lang ist das Zeitliche, die Flucht des Lebens in das Ewige. --- Ich komme aus dem Lande des Todes; auch Du mußt einmal durch die tiefen Täler in das leuchtende Bergland, wo Gnade und Vollendung wohnen. Ich führe Dich nicht zur christlichen Taufe, erst mußt Du den Wasserschild über dem tiefen Grunde des Moors sprengen, die lebendige Wurzel Deines Lebens und Deiner Wiege heraufziehen, erst die Dir zugedachten Taten verrichten, ehe die Weihe kommen darf.''

Und er hob sie auf das Pferd und reichte ihr ein goldenes Räuchergefäß wie das, was sie zuvor in der Wikingerburg gesehen hatte. Ein Duft, gar süß und kräftig, drang daraus hervor. Die offene Wunde auf der Stirn des Erschlagenen leuchtete wie ein strahlendes Diadem. Er nahm das Kreuz vom Grabe, hob es hoch empor, und nun Jagten sie von dannen durch die Lüfte, hin über den rauschenden Wald, über die Hügel hin, in denen einst die Hünen, auf ihren toten Pferden sitzend, begraben worden waren. Und die mächtigen Gestalten erhoben sich, ritten heraus und hielten auf den Spitzen der Hügel. Im Mondschein erstrahlte um ihre Stirnen der breite Goldring mit dem Goldknoten, ihre Mäntel flatterten im Winde. Der Lindwurm, der die Schätze bewachte, erhob sein Haupt und blickte ihnen nach. Das Zwergenvolk guckte aus Hügeln und Ackerfurchen, überall schimmerten ihre roten, blauen und grünen Lichtlein auf, es war ein Gewimmel wie bei den tanzenden Fünkchen in der Asche des verbrannten Papiers.

Hin über Wald und Heide, Bäche und Sümpfe flogen sie bis zum Wildmoor hinauf, das sie in großen Kreisen umschwebten. Der christliche Priester erhob das Kreuz, es leuchtete wie Gold, und von seinen Lippen ertönte der Meßgesang. Klein-Helga sang ihn mit, wie das Kind in den Gesang der Mutter einstimmt. Sie schwang das Räucherfaß, und ein Altarduft drang daraus hervor, so stark, so wundertätig, daß Schilf und Rohr im Sumpfe erblühten. Alle Keime schossen aus dem tiefen Grunde empor, alles, was Leben hatte, erhob sich, und ein Flor von Wasserrosen breitete sich über das Wasser wie ein gewirkter Blumenteppich. Darauf ruhte ein schlafende Weib, jung und schön, Klein-Helga glaubte sich selbst zu sehen, ihr Spiegelbild in dem stillen Gewässer. Es war ihre Mutter, die sie sah, des Moorkönigs Weib, die Prinzessin von den Wassern den Nils.

Der tote christliche Priester gebot, die Schlafende auf das Pferd zu heben, doch es sank unter der Bürde zusammen, als sei sein Leib nur ein Totenlaken, da' im Winde flattert. Aber das Zeichen des Kreuzes machte das Luftphantom stark, und alle drei ritten, bis sie festen Boden unter den Füßen fohlten.

Da krähte der Hahn in der Burg des Wiking, und die Geister lösten sich in Nebel auf, die vor dem Winde trieben; aber einander gegenüber standen sich Mutter und Tochter.

``Bin ich es selbst, die ich im tiefen Wasser sehe?'' sagte die Mutter.

``Bin ich es selbst, die ich im blanken Schilde schaue?'' rief die Tochter aus, und sie näherten sich einander, Brust an Brust, Arm in Arm. Am stärksten schlug das Herz der Mutter, und sie verstand es.

``Mein Kind! Meines eigenen Herzens Blüte! Mein Lotus aus den tiefen Ge\-wäs\-sern.''

Und sie umarmte ihr Kind und weinte; diese Tränen waren Klein-Helgas Taufe durch die Liebe.

``Im Schwanenkleid kam ich hierher und warf es ab'' sagte die Mutter. ``Ich versank durch den schwankenden Moorboden tief hinein in den schlammigen Sumpf, der sich wie eine Mauer um mich schloß. Doch bald fühlte ich eine frischere Strömung; eine Kraft zog mich tiefer und immer tiefer hinab, ich fühlte die Hand des Schlafes auf meinen Lidern, ich schlief ein, ich träumte --- mir war es, als läge ich wieder in Ägypten in der Pyramide, aber vor mir stand noch immer der schwankende Erlenstamm, der mich schon auf der Oberfläche des Moore erschreckt hatte. Ich betrachtete die Risse in der Borke, sie leuchteten farbig und verwandelten sich in Hieroglyphen; es war die Mumienhülle, die ich betrachtete. Da barst sie, und daraus hervor trat der tausendjährige Herrscher in Mumiengestalt, schwarz wie Pech und glänzend wie die Waldschnecke oder der fette schwarze Morast; war es der Moorkönig oder die Mumie der Pyramide, ich wußte es nicht. Er schlang seine Arme um mich, und mir war es, als müsse ich sterben. Daß ich lebte, spürte ich erst wieder, als ich etwas Warmes an meiner Brust fühlte; dort saß ein kleiner Vogel, schlug mit den Flügeln und zwitscherte und sang. Vor meiner Brust flog er aufwärts zu der dunklen, schweren Decke, doch ein langes grünes Band hielt ihn noch bei mir fest. Ich hörte und verstand die Töne seiner Sehnsucht: Freiheit! Sonnenschein. Zum Vater! --- Da gedachte ich meines Vaters im sonnigen Lande der Heimat, meines Lebens, meiner Liebe. Und ich löste das Band und ließ ihn fortflattern --- zum Vater heim. Seit jener Stunde habe ich nicht mehr geträumt, ich schlief einen Schlaf gar schwer und lang, bis in dieser Stunde Töne und Duft mich aufhoben und erlösten!''

Das grüne Band, das des Vogels Schwinge an das Herz der Mutter knüpfte, wo flatterte es jetzt? Wo hatte man es hingeworfen? Nur der Storch hatte es gesehen; das Band war der grüne Stengel, und die Schleife die leuchtende Blüte, die Wiege des Kindes, das so lieblich herangewachsen war und nun wieder am Herzen der Mutter ruhte.

Und während sie dort Arm in Arm standen, flog der Storchvater in großen Kreisen um sie herum, schlug dann die Richtung nach seinem Neste ein, holte von dort die jahrelang verwahrten Schwanenkleider und warf eines für jede herab. Die Schwanenhaut schmiegte sich um sie, und sie erhoben sich von der Erde als zwei weiße Schwäne.

``Nun können wir miteinander sprechen!'' sagte der Storchvater, ``jetzt sprechen wir eine Sprache, mögen auch unsere Schnäbel verschieden zugeschnitten sein! Es trifft sich so glücklich wie nur irgend möglich, daß Ihr heute noch kommt, denn morgen wären wir fortgewesen, Mutter, ich und die Jungen. Wir fliegen nach Süden. Ja, schaut mich nur an, ich bin ja ein alter Freund aus dem Nillande, und Mutter auch, es steckt ein goldenes Herz hinter ihrem rauhen Schnabel. Sie hat immer geglaubt, daß die Prinzessin sich schon retten würde. Ich und die Jungen haben die Schwanenhäute mit heraufgenommen! Nein, wie froh bin ich! Und was für ein Glück, daß ich noch hier bin! Wenn der Tag graut, ziehen wir von dannen mit der ganzen großen Storchgesellschaft. Wir fliegen voran, fliegt nur hinterher, dann könnt Ihr den Weg nicht verfehlen. Ich und die Jungen werden Euch schon im Auge behalten!''

``Und die Lotosblume, die ich mitbringen sollte,'' sagte die ägyptische Prinzessin, ``fliegt im Schwanenkleide an meiner Seite! Meines Herzens Blume bringe ich mit, das war die Lösung. Heimwärts, Heimwärts!''

Doch Helga sagte, daß sie das dänische Land nicht verlassen könne, ehe sie noch einmal ihre Pflegemutter, die liebreiche Wikingerfrau, gesehen habe. Vor Helgas Gedanken erstand jede schöne Erinnerung, jedes liebevolle Wort, jede Träne, die ihre Pflegemutter um sie geweint hatte, und fast war es ihr in diesem Augenblick, als liebte sie diese Mutter am meisten.

``Ja, wir müssen zum Wikingerhofe!'' sagte der Storchvater, ``dort warten ja Mutter und die Jungen! Wie sie die Augen aufreißen und die Klapper in Gang bringen werden! Mutter sagt ja nicht viel; sie ist kurz und bündig, meint es aber um so besser! Ich will gleich einmal klappern, damit sie hören können, daß wir kommen.''

Und dann klapperte der Storchvater mit dem Schnabel, und er und die Schwäne flogen zur Wikingerburg.

Drinnen lagen noch alle in tiefem Schlafe. Erst spät in der Nacht war die Wikingerfrau zur Ruhe gekommen. Sie litt Angst um Klein-Helga, die nun seit drei vollen Tagen mit dem christlichen Priester verschwunden war. Sie mußte ihm fortgeholfen haben, denn ihr Pferd war es, das im Stalle fehlte. Welche Macht mochte dies alles bewirkt haben? Die Wikingerfrau dachte an die Wundertaten, die durch den weißen Christus und seine Anhänger und Jünger geschehen sein sollten. Die wechselnden Gedanken nahmen im Traume Gestalt an, es war ihr, als ob sie noch wach und nachdenklich auf ihrem Bette säße. Draußen brütete die Finsternis, der Sturm kam, sie hörte das Rollen des Meeres im Westen und Osten, von der Nordsee und vom Kattegat her. Die ungeheure Schlange, die in der Meerestiefe die Erde umspannte, erzitterte in Krämpfen und Zuckungen. Die Nacht der Götter, Ragnarok, wie die Heiden den Jüngsten Tag nannten, da alles vergehen sollte, selbst die hohen Götter, nahte. Die Hörner ertönten, und über den Regenbogen hin ritten die Götter, in Stahl gekleidet, um den letzten Kampf zu kämpfen. Ihnen voran flogen mit breiten Schwingen die Schildjungfrauen, die Reihe schloß mit den Gestalten der toten Hünen. Die ganze Luft leuchtete um sie mit Nordlichtglanz, aber die Finsternis behielt den Sieg. Es war eine entsetzliche Stunde.

Und dicht neben der geängstigten Wikingerfrau saß Klein-Helga in der häßlichen Froschgestalt, auch sie zitterte und schmiegte sich an die Pflegemutter, die sie auf ihren Schoß nahm und sie liebevoll im Arme hielt, wie häßlich ihr auch die Froschhülle erschien. Die Luft hallte wider von Schwerterklirren und Keulenschlägen, und von sausenden Pfeilen, die wie Hagelschauer über sie hinstürmten. Die Stunde war gekommen, da Himmel und Erde sich auftun, die Sterne herabfallen, und alles im Feuer Suturs vergehen sollte. Doch sie wußte, daß ein neuer Himmel, eine neue Erde kommen und Korn wegen würde, wo jetzt das Meer über den gelben Sandboden hinrollte, daß der unnennbare Gott über die Erde gebieten und Baldur, der milde, liebreiche, erlöst aus den Reichen des Todes, zu ihm aufsteigen würde. Er kam, die Wikingerfrau sah ihn, sie erkannte sein Antlitz --- es war der christliche Priester.

``Weißer Christus'' rief sie laut, und bei Nennung des Namens drückte sie einen Kuß auf die Stirn ihres häßlichen Froschkindes. Da fiel die Froschhaut, und Klein-Helga stand da in all ihrer Schönheit, sanft wie nie zuvor und mit strahlenden Augen. Sie küßte die Hände der Pflegemutter, segnete sie für all ihre Sorgfalt und Liebe, die sie ihr in den Tagen der Not und Prüfung erwiesen hatte und dankte ihr für die guten Gedanken, die sie in ihr gesät und erweckt hatte. Sie dankte ihr für die Nennung des heiligen Namens, und wiederholte ihn: Weißer Christus. Dann erhob sich Klein-Helga als ein mächtiger Schwan, die Schwingen breiteten sich groß und herrlich, und mit einem Flügelschlage, rauschend, wie wenn die Scharen der Zugvögel fortfliegen, schwebte sie davon.

Dabei erwachte die Wikingerfrau, und draußen war noch immer der starke Flügelschlag zu hören. Es war, wie sie wußte, die Zeit, wo die Störche von hier fortzogen; sie waren es wohl, die sie hörte. Noch einmal wollte sie sie vor ihrer Abreise sehen und ihnen Lebewohl sagen. Sie stand auf und trat auf die Schwelle hinaus. Da sah sie auf dem Dachfirst des Nebenhauses Storch an Storch, und rings um das Gehöft, über den hohen Bäumen, flogen ganze Scharen in großen Schwenkungen. Aber gerade vor ihr auf dem Brunnenrande, wo Klein-Helga so oft gesessen und sie mit ihrer Wildheit erschreckt hatte, saßen nun zwei Schwäne und blickten sie mit klugen Augen an. Da dachte sie an ihren Traum, der sie noch lebendig wie Wirklichkeit erfüllte, und sie dachte an Klein-Helga in der Schwanengestalt und an den christlichen Priester, und es war ihr plötzlich wunderlich froh ums Herz.

Die Schwäne schlugen mit den Schwingen, neigten ihre Hälse, als wollten sie ihr ihren Gruß darbieten; die Wikingerfrau breitete die Arme nach ihnen aus, als ob sie sie verstände, und lächelte unter Tränen und vielerlei Gedanken.

Da erhoben sich mit Flügelschlag und Klappern alle Störche zur Reise nach dem Süden.

``Wir warten nicht auf die Schwäne'' sagte die Storchmutter, ``wollen sie mit, dann müssen sie kommen. Wir können nicht hierbleiben, bis die Brachvögel reisen. Es ist doch etwas Schönes, so in Familie zu reisen, und nicht wie die Buchfinken und die Streithähne, wo die Hähne für sich fliegen und die Hennen für sich. Im Grunde genommen finde ich das nicht anständig! Und was ist das für ein Flügelschlag, den die Schwäne an sich haben.''

``Jeder fliegt nach seiner Art'' sagte der Storchvater, ``die Schwäne fliegen schräg, die Kraniche im Dreieck und die Brackvögel in Schlangenlinie.''

``Sprich nicht von Schlangen, solange wir hier oben fliegen!'' sagte die Storchmutter, ``das macht den Jungen nur Gelüste, die sich nicht befriedigen lassen.''

``Sind das die hohen Berge dort unten, von denen ich hörte?'' fragte Helga im Schwanenkleid.

``Das sind Gewitterwolken, die unter uns ziehen!'' sagte die Mutter.

``Was sind das für weiße Wolken, die sich so hoch erheben?'' fragte Helga.

``Was Du dort siehst, sind die mit ewigem Schnee bedeckten Berge!'' sagte die Mutter. Und sie flogen über die Alpen zu dem tiefblauen Mittelmeer hinab.

``Afrika! Ägyptens Strand'' jubelte die Tochter des Nils im Schwanengewand, als sie hoch aus der Luft wie einen weißlich-gelben, wellenförmigen Streifen die Heimat sichtete.

Auch die Vögel sahen den Streifen und beschleunigten ihren Flug.

``Ich rieche Nilschlamm und nasse Frösche'' sagte die Storchmutter, ``es juckt mich schon im Schnabel danach. Ja, nun werdet Ihr schlemmen! Und Ihr werdet auch den Marabu, den Ibis und die Kraniche zu sehen bekommen! Sie gehören alle zur Familie, sind aber nicht halb so schön wie wir. Sie stellen sich vornehm, besonders der Ibis. Er ist eben von den Ägyptern verwöhnt worden, sie stopfen ihn mit Kräutern aus wie die Mumien. Ich will mich lieber mit lebenden Fröschen ausstopfen lassen. Das wollt Ihr wohl auch lieber, und das sollt Ihr auch haben! Besser, etwas im Bauche, während man lebt, als zu Staat und Schmuck sein, wenn man tot ist! Das ist meine Meinung, und die ist immer die richtige.''

``Nun sind die Störche gekommen!'' sagte man in dem reichen Hause am Ufer des Nils, wo in der offenen Halle auf weichen, mit Leopardenfell bedeckten Polstern der königliche Herr aufgestreckt lag, nicht tot und auch nicht lebend, hoffend auf die Lotosblume aus den tiefen Mooren des Nordens. Angehörige und Diener standen um sein Lager, Und hinein in die Halle flogen zwei mächtige weiße Schwäne; sie waren mit den Störchen gekommen. Sie warfen das blendendweiße Federgewand ab, und zwei herrliche Frauen, einander so ähnlich wie zwei Tautropfen, standen da. Sie beugten sich zu dem bleichen, hinsiechenden alten Mann nieder, warfen ihre langen Haare zurück, und als Klein-Helga sich über den Großvater beugte, röteten sich seine Wangen, seine Augen bekamen Glanz, und Leben strömte wieder durch die gelähmten Glieder. Der Alte erhob sich gesundet und verjüngt, und Tochter und Enkeltochter hielten ihn in ihren Armen wie zum freudigen Morgengruße nach einem langen, schweren Traum.

Und Freude herrschte im ganzen Hause, und im Storchenneste auch. Aber dort war es doch zumeist um der guten Nahrung, der unzählig vielen Frösche willen. Und während die Gelehrten hastig in kurzen Umrissen die Geschichte der beiden Prinzessinnen und der Blume der Gesundheit aufzeichneten, die eine große Begebenheit und ein Segen für Haus und Land war, erzählten die Storcheltern sie auf ihre Weise und für ihre Familie zugeschnitten; aber erst, als alle satt waren, denn sonst hätten sie ja anderes zu tun gehabt, als Geschichten anzuhören.

``Nun wirst Du sicherlich etwas werden!'' flüsterte die Storchmutter; ``und das wäre auch nur gerecht!''

``Ach, was sollte ich denn werden!'' sagte der Storchvater, ``was habe ich denn getan? Nichts.''

``Du hast mehr getan, als alle anderen. Ohne Dich und die Jungen hätten die beiden Prinzessinnen Ägypten niemals wiedergesehen und den Alten gesund bekommen. Du wirst etwas. Du bekommst bestimmt den Ehrendoktor, und unsere Jungen sind geborene Doktoren, und ihre Jungen bringen es dann noch weiter. Du siehst auch schon aus wie ein ägyptischer Doktor --- wenigstens in meinen Augen.''

Die Gelehrten und Weisen entwickelten den Grundgedanken, wie sie es nannten, der sich durch die ganze Begebenheit zöge: ``Liebe gebiert Leben'' und legten ihn auf verschiedene Weise aus: ``Der warme Sonnenstrahl wäre die ägyptische Prinzessin, sie wäre zu dem Moorkönig hinabgestiegen, und ihrer Umarmung entspränge die Blüte --- ''

``Ich kann die Worte nicht so ganz richtig wiederholen'' sagte der Storchvater, der vom Dache aus zugehört hatte und im Neste davon erzählen sollte. ``Es war so verwickelt, was sie sagten, und so klug, daß sie sogleich zu Würden und Geschenken kamen, selbst der Mundkoch bekam einen großen Orden --- wahrscheinlich für die Suppe.''

``Und was hast Du bekommen?'' fragte die Storchmutter. ``Den Wichtigsten sollten sie doch nicht vergessen, denn das bist Du. Die Gelehrten haben bei der ganzen Sache nur geklappert. Aber Du wirst auch noch daran kommen!''

Spät in der Nacht, als der Frieden des Schlafes über dem von neuem glücklichen Hause ruhte, wachte noch immer jemand, aber es war nicht der Storchvater, obwohl er droben auf einem Bein aufrecht im Neste stand und Schildwache schlief, nein, Klein-Helga wachte; sie neigte sich über den Altan und blickte in die klare Luft empor zu den großen, leuchtenden Sternen, deren Glanz sich hier strahlender und reiner zeigte, als sie es im Norden gesehen hatte, und doch waren es dieselben Gestirne. Sie dachte an die Wikingerfrau am Wildmoor, an der Pflegemutter milde Augen, an die Tränen, die sie über das arme Froschkind geweint hatte, das nun in Glanz und Sternenpracht an den Wassern des Nils in der herrlichen Frühjahrsluft stand. Sie dachte an die Liebe in der Brust des heidnischen Weibes, an die Liebe, die sie einem elenden Geschöpf erwiesen hatte, das in Menschengestalt ein böses Tier und in Tiergestalt ekelerregend anzusehen und zu berühren war. Sie schaute zu den leuchtenden Sternen empor und dachte an den Glanz auf der Stirn des Toten, als sie über Wald und Moor hingeflogen waren. Töne klangen in ihrer Erinnerung auf, Worte vom Urquell der Liebe, der höchsten Liebe, die alle Geschlechter umfaßte, und auf die sie gelauscht hatte, als sie mit ihm von dannen geritten war.

Ja, was war nicht gegeben, gewonnen, erreicht! Klein-Helgas Gedanken umfasten bei Tage und bei Nacht die ganze Größe ihres Glückes, und bei seinem Anblick stand sie wie ein Kind, das sich eilig vom Geber zur Gabe wendet, und überschaute ihre herrlichen Gaben. Sie ging gleichsam auf in der sich steigernden Glückseligkeit, die kommen konnte und würde. Durch Wunderwerke war sie ja zu immer höherer Freude, immer höherem Glück emporgetragen worden, und hierin verlor sie sich eines Tages so völlig, daß sie des Gebers nicht mehr gedachte. Es war die Kühnheit ihres jugendlichen Mutes, die in raschem Schwunge weitereilte. Ihre Augen leuchteten, aber aus ihrer Träumerei wurde sie in diesem Augenblicke durch ein starkes Geräusch im Hofe unter sich emporgerissen. Da sah sie zwei mächtige Strauße eilig in engen Kreisen umherlaufen; nie zuvor hatte sie dieses Tier, einen so großen, plumpen und schweren Vogel, gesehen. Die Schwingen sahen aus wie beschnitten, der Vogel selbst als ob man ihm Gewalt angetan habe, und sie fragte, was ihm denn geschehen sei. Nun hörte sie zum ersten Male die Sage, die die Ägypter von dem Strauße erzählen.

Schön sei einst sein Geschlecht gewesen, seine Schwingen groß und stark. Da sagten eines Abends des Waldes mächtige Vögel zu ihm: ``Bruder, wollen wir morgen, wenn Gott will, zum Flusse fliegen und trinken?'' Und der Strauß antwortete: ``Ich will es.'' Als es tagte, flogen sie fort, zuerst der Sonne, dem Auge Gottes, entgegen, höher und immer höher hinauf, der Strauß allen anderen weit voran. Stolz flog er dem Lichte entgegen, er verließ sich auf seine Kraft und nicht auf den Geber, er sagte nicht: ``Wenn Gott will.'' Da zog der rächende Engel den Schleier von der Flammenstrahlenden, und gleichen Augenblicks verbrannten des Vogels Schwingen, elend sank er zur Erde nieder. Er und sein Geschlecht vermögen niemals mehr sich zu erheben. Sie fliehen in ewigem Schrecken, stürmen im Kreise herum in dem engen Raum, eine Mahnung für uns Menschen, bei allen unseren Gedanken, bei jeder Handlung zu sagen: ``Wenn Gott will.''

Zeitig im Frühjahr, als die Störche wieder gen Norden zogen, nahm Klein-Helga ihr goldenes Armband, ritzte ihren Namen hinein und winkte dem Storchvater zu. Sie legte ihm den Goldreif um den Hals und bat ihn, ihn der Wikingerfrau zu überbringen, die daraus erkennen könne, daß ihre Pflegetochter lebte, glücklich wäre und an sie dächte.

``Das ist schwer zu tragen!'' dachte der Storch, als er ihn um den Hals fühlte; ``aber Gold und Ehre soll man nicht auf die Landstraße werfen. Sie werden dort oben zugeben müssen, daß der Storch Glück bringt.''

``Du legst Gold und ich lege Eier'' sagte die Storchmutter, ``aber Du legst nur einmal, und ich mache es in jedem Jahr. Doch eine Anerkennung erhält keiner von uns. Das kränkt!''

``Man hat das Bewußtsein der guten Tat, Mutter'' sagte der Storchvater.

``Das kannst Du Dir nicht auf den Rock hängen!'' sagte die Storchmutter, ``das gibt weder guten Fahrwind noch eine Mahlzeit.''

Und dann flogen sie fort.

Die kleine Nachtigall, die im Tamarindenstrauche sang, wollte auch bald nach Norden ziehen. Droben im Wildmoor hatte klein-Helga sie oft gehört. Botschaft wollte sie ihr mitgeben, denn die Sprache der Vögel verstand sie, seit sie im Schwanenkleide geflogen war; oft hatte sie seitdem mit Storch und Schwalbe gesprochen. Die Nachtigall würde sie verstehen, und sie bat sie, zum Buchenwalde auf der jütischen Halbinsel zu fliegen, wo ein Grab aus Stein und Reisig aufgerichtet war, sie bat sie, alle kleinen Vögel zu bitten, über dem Grabe zu wachen und all ihre Lieder darüber zu singen.

Und die Nachtigall flog, und die Zeit flog dahin.

Auf der Pyramide stand zur Erntezeit der Adler, er sah einen stattlichen Zug reichbeladener Kamele, köstlich gekleideter, bewaffneter Männer auf schnaubenden arabischen Rossen, heranziehen. Silberweiß schimmerten ihre Leiber, die rötlichen Nüstern bebten, und lange, dichte Mähnen hingen bis zu den feinen Fesseln hinab. Reiche Gäste, ein königlicher Prinz aus dem Lande Arabien, schön wie ein Prinz sein muß, hielten ihren Einzug in dem stolzen Hause, wo nun das Storchnest leer stand. Die, die droben zu wohnen pflegten, waren ja jetzt im nördlichen Lande, aber bald würden sie wieder zurückkommen. --- Und gerade an dem Tage kamen sie, an dem die Freude und Lust ihren Höhepunkt erreicht hatten. Hochzeitsjubel herrschte im Hause, und Klein-Helga, im Schmuck von Juwelen und Seide, war die Braut. Der Bräutigam war der junge Prinz aus dem Lande Arabien, und beide saßen am obersten Ende des Tisches zwischen Mutter und Großvater.

Aber sie schaute nicht auf des Bräutigams männlich gebräunte Wangen, auf denen der schwarze Bart sich kräuselte, sie blickte nicht in seine feurigen dunklen Augen, die sich auf sie hefteten, sie schaute hinaus, zu den blinkenden, funkelnden Sternen empor, die vom Himmel herabstrahlten.

Da rauschten draußen starke Flügelschläge durch die Luft; die Störche kamen zurück. Das alte Storchpaar, wie müde es auch von der Reise war, und wie sehr es auch der Ruhe bedurfte, flog sogleich auf das Geländer der Veranda hinab; sie wußten, welches Fest heute gefeiert wurde. Schon an der Grenze des Landes hatten sie gehört, daß Klein-Helga sie auf einer Wand hatte abmalen lassen, da sie mit zu ihrer Geschichte gehörten.

``Das ist doch eine große Ehre'' sagte der Storchvater.

``Das ist sehr wenig'' sagte die Storchmutter, ``weniger hätte es wohl kaum sein können!''

Als Helga sie erblickte, erhob sie sich und ging zu ihnen auf die Veranda hinaus, um ihnen den Rücken zu streicheln. Das alte Storchpaar neigte die Hälse, und die jüngsten Jungen sahen zu und fühlten sich geehrt.

Helga sah zu den leuchtenden Sternen empor, die klarer und klarer erstratalten. Zwischen ihnen und ihr bewegte sich eine Gestalt, reiner noch als die Luft und dadurch sichtbar. Sie schwebte ihr näher und näher es war der tote christliche Priester, auch er kam zu ihrem Hochzeitsfeste, kam herab aus des Himmels Reichen.

``Glanz und Herrlichkeit dort droben übertrifft alles, was die Erde kennt!!'' sagte er.

Und Klein-Helga betete so sanft, so innig, wie sie nie zuvor gebetet hatte, daß sie nur einen einzigen Augenblick hineinschauen dürfe, nur einen einzigen Blick in das, Himmelreich werfen dürfe zum Vater.

Und er trug sie empor zu Glanz und Herrlichkeit, überströmend von Gedanken und Tönen; nicht nur äußerlich erklang und leuchtete es um sie, die Klänge und der Glanz waren auch in ihr. Worte können es nicht wiedergeben.

``Nun müssen wir zurück, Du wirst vermißt!'' sagte er.

``Nur einen Blick noch'' bat sie; ``nur einen einzigen kurzen Augenblick.''

``Wir müssen zur Erde, alle Gäste gehen schon fort.''

``Nur einen Blick den letzten.''

Klein-Helga, stand wieder auf der Veranda --- aber alle Fackeln draußen waren gelöscht, alle Lichter im Hochzeitssaal waren fort, die Störche fort, keine Gäste zu sehen, kein Bräutigam, alles wie fortgeweht während der drei kurzen Augenblicke.

Da überkam Helga eine Angst; sie ging durch die große, leere Halle in die nächste Kammer hinein. Dort schliefen fremde Soldaten. Sie öffnete die Seitentür, die in ihre eigene Stube hineinführte, und als sie darin zu stehen vermeinte, stand sie draußen im Garten. --- So war es doch hier vorhin nicht gewesen; rötlich schimmerte der Himmel, der Tag graute herauf.

Drei Augenblicke im Himmel nur, und eine ganze Erdennacht war vergangen!

Da sah sie die Störche: sie rief zu ihnen hinauf, sprach ihre Sprache, und der Storchvater drehte den Kopf, lauschte und näherte sich.

``Du sprichst unsere Sprache!'' sagte er, ``was willst Du? Was führt Dich hierher, Du fremdes Weib?''

``Ich bin es ja, ich --- Helga! Erkennst Du mich nicht? Vor drei Minuten sprachen wir noch zusammen, dort in der Veranda.''

``Das ist ein Irrtum!'' sagte der Storch; ``das mußt Du alles geträumt haben.''

``Nein, nein'' sagte sie und erinnerte ihn an die Wikingerburg und das Wildmoor, die Reise hierher.

Da blinzelte der Storchvater mit den Augen: ``Das ist ja eine alte Geschichte, die ich aus der Zeit meiner Ururgroßmutter gehört habe. Ja, gewiß war hier in Ägypten einmal eine Prinzessin aus dem Lande Dänemark, aber sie verschwand an ihrem Hochzeitsabend vor vielen hundert Jahren und kam niemals wieder. Das kannst Du selbst auf dem Denkstein hier im Garten lesen. Darein sind Schwäne und Störche gemeißelt, und zu oberst stehst Du selbst in weißem Marmor.''

So war es. Klein-Helga sah es, verstand es und sank auf die Knie.

Die Sonne brach strahlend hervor, und wie einst in längstvergangener Zeit bei ihren Strahlen die Froschhaut fiel und die herrliche Gestalt sichtbar wurde, so erhob sich nun unter der Taufe des Lichts eine Schönheitsgestalt, klarer und reiner als die Luft, ein Lichtstrahl --- zum Vater empor.

Der Leib verfiel in Staub, und wo er gestanden hatte, lag eine welke Lotosblume.

``Das war doch ein neuer Schluß bei der Geschichte'' sagte der Storchvater; ``den hätte ich nie und nimmer erwartet, aber er gefällt mir ganz gut.''

``Was wohl die Jungen dazu sagen werden?'' fragte die Storchmutter.

``Ja, das ist freilich das Wichtigste'' sagte der Storchvater.

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